50 Jahre Theologie der Befreiung in Deutschland: 1972 - 2022
Im SS 1972 hatte sich in Frankfurt, St. Georgen der erste "Studienkreis Theologie der Befreiung" in Deutschland gebildet, noch vor Erscheinen der deutschen Ausgabe des Buches "Theologie der Befreiung" von Gustavo Gutiérrez. Er wurde von lateinamerikanischen Mitstudenten (Doktoranden, mit konkreten Erfahrungen aus LA) initiiert und getragen. Einzige deutsche Mitarbeiter waren Christian Herwartz (Obdachlosenpriester in Berlin*) und ich. Pater Semmelroth und Pater Grillmeier waren konstruktiv-kritische Begleiter. Es ging vor allem um die Frage: was ist neu, gar revolutionär? Und was bedeutet dies für die bisherige „weiße“ und imperiale (d.h. „griech.-röm. Kirche“) und die Theologie des „christlichen Abendlandes“ - auch und gerade in Bezug zu der befreienden Botschaft der Propheten und von Jesus? Dies geschah in besonderer Weise in Auseinandersetzung mit Metz, Moltmann, etc. Karl Rahner, öfter zu „Besuch“ in St. Georgen, hat zwei Mal am Treffen des Arbeitskreises teilgenommen und hat uns ermutigt (obwohl nicht mit allem einverstanden).
* Christian Herwartz ist am 20. Februar dieses Jahres in Berlin verstorben. Ebenfalls verstorben ist am 22. April dieses Jahres der Initiator und „spiritus rector“ des Kreises, Miguel Manzanera, Mitbegründer der kath. Universität in Cochabamba, Bolivien. Mit beiden war ich freundschaftlich verbunden.
Anbei zwei meiner Beiträge in diesem Arbeitskreis:
Theologie der Befreiung als neue Theologie? (Referat 1973)
Eine "barbarische Theologie": Von einer Praxis der Herrschaft zu einer Praxis der Befreiung (Seminararbeit 1974, bei Peter Knauer, SJ)
Helder Camara: Die beiden Lastkutscher, Lesung und Predigt als ASTA-Vorsitzender in St. Georgen, 13. Nov. 1973 im Semestereröffnungsgottesdienst.
1972 erschienen ebenfalls „Die Grenzen des Wachstums“ und „Die offenen Adern Lateinamerikas“ von E. Galeano („Die Weltwirtschaft ist der effizienteste Ausdruck der organisierten Kriminalität. Die internationalen Organisationen, die Währung, Handel und Kredite kontrollieren, üben Terrorismus gegen die armen Länder und gegen die Armen aller Länder aus", Eduardo Galeano, 1972).
Unser Arbeitskreis sorgte im kath. Milieu und den Medien zudem für Aufsehen und Ärger, weil wir die Wählerinitiative „Willy Brand“ in Frankfurt gründeten - vorher unvorstellbar für Seminaristen. Der Arbeitskreis diente auch stets als „Abhol- und Begleitdienst“ für sehr bekannte Bischöfe aus LA, die damals in St. Georgen als 1. Anlaufstation wohnten – u.a. Helder Camara (öfters), Kardinal Arns u.v.a.
Nicht zuletzt erschien 1972 auch erstmals „Publik-Forum“, deren „Gründungsmannschaft“ eng mit St. Georgen verbunden war. Als ASTA -Vorsitzender (in dieser Eigenschaft war ich auch „Gastmitglied“ des damals „berühmt-berüchtigten“ Frankfurter ASTA) - konnte ich erreichen, dass PF länger als geplant (nämlich bis 1974) Räume (u.a. die „Büroräume“ des ASTA) in St. Georgen benutzen durfte.
1972 war besonders in LA von großer Bedeutung, u.a. das 1. Treffen der „Christen für den Sozialismus“ in Chile. Für meine spätere Arbeit in Peru (Bambamarca, Cajamarca), besonders wichtig: Peruanische Bischofskonferenz 1971, in Deutsch 1972: „Wir teilen mit den Nationen der Dritten Welt das Schicksal, Opfer von Systemen zu sein, die unsere wirtschaftlichen Reichtümer ausbeuten, unsere politischen Entscheidungen kontrollieren und uns die kulturelle Vorherrschaft ihrer Werte und ihre Konsumzivilisation aufdrängen. Diese von den lateinamerikanischen Bischöfen in Medellín angeprangerte Situation bleibt bestehen und festigt sich aufgrund der internen Struktur unserer Länder, einer Struktur der wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ungleichheit und der politischen Perversion, die nicht dem Wohle aller, sondern einiger weniger dient“.
In der Pfarrei Bambamarca erschien 1972 erstmals „El Despertar“ aus dem 1976 „Vamos Caminando“ hervorging („Mit Jesus dem Christus auf dem Weg der Befreiung“). In diesem Zusammenhang kam es 1979 zu einer heftigen Auseinandersetzung mit dem damaligen Kardinal von München, Josef Ratzinger.
Zu meiner Person an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang (befreiende Theologie) nur dies:
Mein 1. Buch unmittelbar nach meinem Abitur 1966 war:
Frantz Fanon 1961, Die Verdammten dieser Erde: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers‘ fast die ganze Menschheit erstickt.“ (mit einem Vorwort von J. P. Sartre) Die Befreiungsbewegungen („Entkolonialisierung“) der 60er Jahre waren prägend für mich - Kongo, Algerien, Vietnam etc. etc., ebenso die Lektüre, Studium von Bloch, Marcuse und des Marxismus generell, dann von Ché Guevara, Camilo Torres… etc. (in LA: E. Dussel*, u.a.). Gerade deswegen - d.h. in (beschränkter) Kenntnis all dessen, habe ich mich dann aber sehr bewusst für das Theologiestudium entschieden - aber nicht um in einem deutschen Pfarrhaus, Gehaltsstufe A 14, als Kirchenbeamter zu enden…!
Zuerst studierte ich an der PH Landau, die im Laufe meines Studiums zur EWH Rheinland-Pfalz aufgewertet wurde, so dass ich nach dem Lehrerabschluss zusätzlich auch das Diplom in Pädagogik machen konnte (1971), meine Abschlussarbeit - ich wählte das Fach kath.Religion bei Prof. Alfred Läpple - war über Teilhard de Chardin.
Zur Lage einer „Theologie der Befreiung“ in Deutschland bzw. der (einer meist rein akademischen) Diskussion um dieselbe, habe ich eher ein sehr mulmiges Gefühl. Ich habe eher das Gefühl einer Selbst-Verzwergung, als ob das eine eher exotische oder gar nur folkloristische Angelegenheit wäre. So wurde z.B. mein Beitrag über befreiende Erfahrungen („Kirche der Befreiung“) in „imprimatur“ (2020) letztlich abgelehnt, weil: „Indianische Märchen helfen uns in Deutschland nicht weiter“! (dann aber in einer „offiziellen“ Schrift meiner Diözese!)
Auch wenn es vermessen erscheint: Helder Camara, Oscar Romero, Camilo Torres, José Dammert u.v.a. werden in Beschreibungen meist als „Theologen der Befreiung“ bezeichnet. Diese Katalogisierung ist in der Tat bezeichnend. Denn diese haben sich nicht selbst so bezeichnet, sondern sie haben in seiner Nachfolge Zeugnis abgelegt von der befreienden Botschaft Jesu Christi. Genau deswegen habe ich mich vor über 50 Jahren entschieden, Theologie zu studieren, um dann für eine solche Praxis besser vorbereitet zu sein. Jedwede christliche Theologie, die nicht von einer befreienden Praxis ausgeht bzw. dahinführt - kann die daher christlich genannt werden (s.o.)?
Letzte Veröffentlichungen in „Der geteilte Mantel“, dem weltkirchlichen Magazin der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Jährliche Erscheinungsweise, Auflage 12.000, verschickt an alle Kirchengemeinden, kirchliche Einrichtungen, Verbände, etc.
Von 2010 (damals Neuausrichtung der diözesanen Öffentlichkeitsarbeit) bis 2021 war ich Mitglied des Redaktionsteams - dies auch als Mitglied der Diözesanausschüsse „DA Eine Welt“ und „DA Nachhaltige Entwicklung, als Vorsitzender). Neben dem GM erscheint seither auch ein Quartalsnewsletter (drs.global) mit dem gleichen Verteiler, darin viele kleinere Beiträge „aus aller Welt“.
Jahresthema 2020: Aufbrechen
- Ein halbes Jahrhundert nach Medellín Der Aufbruch der Kirche in Lateinamerika
Auf dem Weg zu einer katholischen Kirche
- Gustavo Gutiérrez - Der Mensch und sein Glaube: Zum 90. Geburtstag von Gustavo Gutiérrez
- Der synodale Weg: Die Perspektive der Partner im globalen Süden
Ergänzend dazu mein letzter "offizieller" Beitrag: Der Synodale Weg – einige Hinweise (2022) - Vortrag beim Treffen der Fidei-Donum-Priester, 18. Jan. 2022
Jahresthema 2021: Zukunft teilen (Leben teilen – Brot teilen)
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Brot teilen. Das Grundsakrament der Kirche
„Fratelli tutti“. Bleiben die Brüder unter sich?
„Bis an die Ränder der Welt“. Kirchengeschichte ist Weltkirchengeschichte
(KG aus der Perspektive der Kolonialisierten – das Werk von Prof. Johannes Meier)
Dissertation: „Die Herausforderung einer Option für die Armen – exemplarisch aufgezeigt in Praxis und Pastoral der Kirche von Cajamarca (1962-1992); Ulm, 12. Mai 2004 (Prof. Elmar Klinger). Zweitkorrektor dieser Dissertation: Prof. Joh. Meier.
Mein „Traum“: Eine Übersetzung (deutsch-spanisch) für Peru (und LA) wäre – aktuell mehr denn je - sehr wichtig…!
* Zu Enrique Dussel: Enrique Dussel, 2022:
Was ist Theologie (will sie christlich sein)?
„Die Armen zu verteidigen bedeutet nicht, Kommunist zu sein, sondern bedeutet, die zentrale Botschaft des Evangeliums zu verstehen“ (Papst Franziskus, Botschaft zum Palmsonntag, 05.04.20). Er erinnerte daran, dass die erste Frage Jesu im Gericht sein wird: „Wie hast du es mit den Armen gehalten? Hast du ihnen zu essen gegeben? Hast du sie im Gefängnis oder im Krankenhaus besucht? Hast du der Witwe und dem Waisenkind geholfen? Denn ich war es, dem du da begegnest bist.“
Eine einfache Wahrheit, mit einfachen Worten, genau wie auch Jesus in einfachen Worten zu den Menschen spricht, die ihn deshalb verstehen. Nur Schriftgelehrte hatten damals Probleme, ihn zu verstehen, denn sie hatten ja ihre eigenen Weisheiten. Ist dies heute anders? Franziskus gilt daher nicht als großer Theologe, sondern bestenfalls als warmherziger und mitfühlender Pastor. Aber was brauchen wir mehr? War Jesus ein großer Theologe oder gar Wissenschaftler? Wenn heute plötzlich alle theologischen Fakultäten geschlossen würden – wer würde dies überhaupt bemerken? Warum gibt es so viele theologische Bücher, Artikel und Veröffentlichungen, die kaum jemand liest? Vielleicht will man (oder muss man?) damit beweisen, wie wichtig man ist? Ich veröffentliche, also existiere ich! In gleicher Weise wird z.B. auch die Theologie der Befreiung – weil man so konditioniert ist – bestenfalls wohlwollend und man ist ja so tolerant - als eine bestimmte Sparte oder auch nur als Fußnote der „eigentlichen“ Theologie einsortiert und in eine fertige Schublade abgelegt.
Um die Worte Jesu und den Schrei der Gekreuzigten nach Brot und Gerechtigkeit zu hören und zu verstehen, bedarf es einer bestimmten Hermeneutik - Hermeneutik nicht zuerst als Methode, sondern eine innere Disposition bzw. Fähigkeit, diesen Anruf Gottes, des leidenden Nächsten, auch verstehen zu wollen. Diese Fähigkeit ist jedem Menschen gegeben. (Karl Rahner, Hörer des Wortes). Sie wird aber - vielleicht heute mehr als je zuvor - buchstäblich zugemüllt, verschüttet von dem steten Bestreben nach immer mehr Konsum und mehr Anerkennung, erschüttert von einem überbordenden Individualismus. Dieser Individualismus aber wird gefordert und befeuert von einem Wirtschaftssystem, das gerade darauf beruht, sich selbst und seine Bedürfnisse zum obersten oder gar absoluten Maßstab zu machen. Und wem dies gelingt, wird das Heil versprochen: Noch mehr Haben, mehr Macht und mehr Anerkennung. Diese Vorstellung von „Menschwerdung“ ist zum grundlegenden Dogma der Neuzeit geworden, das über Kolonialisierung und aktuellem Neokolonialismus inzwischen bis in die letzten Winkel unseres Planeten zum alternativlosen Paradigma geworden ist und falls notwendig auch mit Gewalt durchgesetzt wird. Die Botschaft dieser Religion lautet: Reichtum und Macht sind ein Zeichen der Gnade Gottes, Armut und Machtlosigkeit sind ein Zeichen von Versagen, eigener Schuld, ja von Sünde.
Und wir als Christen in den reichen Ländern? Wie konnte aus einer befreienden Botschaft für alle „Aussätzigen“ und „Müllmenschen“ (Papst Franziskus) dieser Welt eine Religion werden, die Kolonialisierung nicht nur rechtfertigte, sondern auch aktiv mitgestaltete? Sind daher nicht auch unsere „Seelen“ (unsere Identität, unsere Geisteshaltung, unsere Persönlichkeit) kolonisiert worden und wir spüren dies überhaupt nicht mehr? Ausgerechnet evangelikale Christen, im Bündnis bzw. als „nützliche Idioten“ mit den „Fürsten dieser Welt - sind oft die glühendsten Verfechter und Verkünder dieser Religion. Die auch bei uns noch vorherrschende Lehre, dass wir alle schon gerettet (erlöst) seien, weil Gott seinen Sohn für uns geopfert hat, führt dazu, dass wir uns zuerst um unsere eigene Seele und deren Heil zu kümmern brauchen: „Wenn die Welt auch noch so böse, die Menschheit wie Lemminge auf den Abgrund zurast – wir sind ja schon längst gerettet, wir sind in Gottes Hand!“ Ausgerechnet auch in der reichsten Kirche der Welt, deren Mitglieder als Mitverursacher und Nutznießer so vieler Katastrophen von dem Elend und der Verwüstung der Erde am meisten profitieren, ist diese Botschaft noch zuhören – Gott sei Dank nicht mehr als alternativlose.
Ein solcher Glaube muss sich fragen lassen, ob dies auch nur annähernd etwas mit dem biblischen Glauben zu tun hat.
Die Botschaft Jesu, seine Worte und Taten, sprechen von einer ganz anderen „Menschwerdung“. Sie beginnt in einer armseligen Hütte, am Rande und mitten unter den Ausgestoßenen. Denn es waren die „Hirten auf dem Felde“, damals die am meisten verachteten Menschen, denen zuerst die Frohe Botschaft verkündet wurde („Fürchtet Euch nicht, denn ich verkünde Euch eine große Freude!“), die sie hörten, sich auf den Weg machten und den Weg zu Jesus dem Christus fanden. Jesus verkündigt dann diese Frohe Botschaft (bzw. er selbst verkörpert diese Botschaft) im ganzen Land und zuletzt in Jerusalem, dem Zentrum der Macht. Deswegen wurde er dort als Gotteslästerer verurteilt und ermordet. Und aus dem gleichen Grund werden auch heute noch Menschen ermordet, weil sie in der Nachfolge Jesu leben und sterben.
Hören und verstehen, die möglicherweise zugemüllten Fähigkeiten wiederentdecken, freischaufeln und neu verstehen! Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen - sowohl sich selbst, seine Lebensweise, sein Verhältnis zum Mitmenschen und zur Welt, als auch seinen Kontext, möglicherweise seine Gefangenschaft in einem System, dem es so unheimlich schwer ist zu entkommen. Vielleicht entdecken wir dann, dass wir in einem goldenen Käfig leben und die Welt nur durch die Gitterstäbe wahrnehmen können, eine verzerrte Wirklichkeit. Aber eine solche Entdeckung wäre schon der erste Schritt. Wie uns befreien? Man kann es einüben: Sich „leer“ machen – loslassen – offen werden, so der Dreischritt, um vergessene Fähigkeiten neu zu erlernen. Letztlich wäre dies auch eine Voraussetzung um lieben zu können, sich hingeben zu können und auch mitleiden zu können.
Erst wenn wir uns unseren eigenen Dämonen stellen, können wir sie auch austreiben und frei werden. Liebe und Hingabe – statt Ego und Gier – „retten“ uns. Dann kann ich auch nicht mehr ertragen und leide mit, wenn Menschen um ihr Leben gebracht werden, wenn ihnen Gewalt angetan wird, sie Hunger leiden und an heilbaren Krankheiten sterben. Und weil ich dies nicht länger ertragen kann oder gar als „von Gott gegeben“ verstehe, dann stehe ich auf, leiste Widerstand und weiß mich getragen und dabei in Gemeinschaft mit Jesus und allen Menschen, die sein Schicksal geteilt haben. In einer solchen Gemeinschaft leben und Solidarität praktizieren (als „Zeichen“: Brotteilen) wären dann das Kennzeichen einer erneuerten Kirche – die rettende Alternative!
Noch ein Nachwort zu „Theologie“: Menschen und Gemeinschaften zu begleiten und zu helfen, dies alles auch leben zu können wäre dann die edelste Aufgabe einer biblisch-christlichen Theologie. Unser Gerede von Gott ist authentisch und aufrichtig, wenn wir uns von dem Leiden der missbrauchten Kreatur und Natur herausfordern lassen. „Deshalb wird die Theologie, die benötigt wird, nicht in spekulativen Systemen durchgeführt, die schlüssige Argumente und Antworten auf jedes Problem bieten. Viel mehr brauchen wir eine Theologie, die viel mit Kunst und Poesie zu tun hat. Eine Theologie, die mit Einfühlungsvermögen und Einfühlungsvermögen die Geschichten des Lebens, der Viacrucis und der Auferstehung des gekreuzigten Volkes zu erzählen weiß und im Dienst des Glaubens des gekreuzigten Volkes steht“ (Martha Zechmeister). „Theologie ist für mich wie das Schreiben eines Liebesbriefes an Gott, an die Kirche und an die Menschen selbst" (Gustavo Gutiérrez).
Ein Beispiel aus meiner praktischen Arbeit im "Ehrenamt":
Ansprache zum Gottesdienst am 3. Mai 2009 (Sternwallfahrt mit 4 Stationen der kath. Gesamtkirchengemeinde Ulm aus Anlass der Bürgeraktion "Ulm gegen Rechts").
"Auf dem Weg hierher in die Kirche haben wir den Weg des Volkes Gottes aus der Sklaverei in das Land der Verheißung bedacht. Es ist kein einfacher Weg, er ist voller Gefahren und Versuchungen. Es locken immer wieder aufs Neue die vollen Fleischtöpfe und die falschen Götter, die uns mit phantastischen Versprechungen von einem raschen Glück vom Weg abbringen wollen. Gott mutet uns viel zu, doch er traut uns das zu. Dieser Weg führt uns in die Freiheit. Doch aufbrechen und gehen müssen wir schon selber. Dann werden wir entdecken, zu was uns Gott berufen hat. Übrigens: Diejenigen, die aufgebrochen sind und sich auf den Weg gemacht haben, waren immer nur eine „kleine Herde“. Aber besser eine kleine Herde, als eine Masse von getauften Christen, die in dieser Gesellschaft untergehen und von ihr nicht zu unterscheiden sind..."
Auch Jesus wird in Versuchung geführt. Er wird vor eine grundlegende Alternative gestellt, er muss sich entscheiden. Denn der Satan verspricht Jesus alle Reichtümer dieser Welt, eine unbegrenzte Macht über die Menschen und eine totale Verfügbarkeit über die Güter dieser Erde. Dies alles kann er haben - für sich ganz allein - wenn er sich vor Satan niederwirft und ihn anbetet. Jesus widersteht dieser Versuchung. Er entscheidet sich für den Gott des Lebens, für die Solidarität der Menschen untereinander, und gegen die Mächte, die den Menschen ins Verderben führen,
Dieser Versuchung ist jeder Mensch ausgesetzt, jeder von uns. Mehr sein zu wollen als der Nachbar, als alle anderen, den Mitmenschen übertrumpfen, immer mehr haben zu wollen, sich selbst und seine Bedürfnisse zum absoluten Maßstab machen… dies steckt in allen von uns und wird auch so sein, solange es Menschen gibt. Dies ist die Sünde, die zum Tod führt. Über Jahrtausende hinweg haben die Menschen versucht - trotz ständiger Rückschläge - ihr aggressives Potential und ihren notorischen Egoismus in den Griff zu bekommen und Regeln für das menschliche Zusammenleben aufzustellen. So entstanden Kultur, Religion und das, was wir Zivilisation nennen. Die Menschen haben erfahren müssen, wohin es führt, wenn diese Gier nicht gezügelt wird - zu Mord und Totschlag, zur Vergiftung und Verhärtung der Herzen und zur Spaltung der Menschen in wenige Gewinner und viele Verlierer.
Dieser zivilisatorische Fortschritt aber wird heute für altmodisch erklärt, er wird einfach vom Tisch gewischt bzw. er wird als Hindernis für den „Fortschritt“ bezeichnet. Über urchristliche Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit, Nächstenliebe wird gespottet. Die einst als tödlich erkannten Versuchungen, die Gier und der nackte Egoismus werden zur Vorrausetzung und zum Motor jeglicher Entwicklung. Ich wiederhole: Mehr sein zu wollen als andere, den Mitmenschen übertrumpfen, stärker sein, immer mehr haben zu wollen, sich selbst und seine Bedürfnisse zum absoluten Maßstab zu machen - das ist das Prinzip unserer Wirtschaftsordnung. Das heißt auch automatisch immer mehr Wachstum - als ob es keine Grenzen gäbe und keine nachfolgenden Generationen. Ohne das „Immer mehr“ (im materiellen Sinne wohlgemerkt) bräche alles zusammen, das sagen selbst die Prediger dieser Wirtschaftsordnung. Also müssen wir so weitermachen, buchstäblich auf „Teufel komm raus“.
Die Dreifaltigkeit des Freien Marktes - Privatisierung, Deregulierung und drastische Einschnitte bei Sozialausgaben - wurde zu einem nicht mehr hinterfragbaren Glaubensinhalt, zum Dogma, zu dem es keine Alternative gibt. Strukturen, die von Menschen gezielt so eingerichtet wurden, dass einige Wenige sich hemmungslos bereichern können, werden zum Naturgesetz erklärt. So kommt es, dass es zur unfassbar teuren Rettung der Banken (d.h. zur Rettung dieses Finanzsystems als Ganzes) scheinbar keine Alternative gibt. Selbst wenn das so wäre, bleibt festzuhalten: die so eingerichteten Strukturen und eine entsprechende Gesetzgebung ermöglichen es, dass einige besonders skrupellose Menschen ganze Staaten, ja die ganze Menschheit in Geiselhaft nehmen können. Freie Fahrt dem Cleveren, dem Skrupellosen, denn der Markt kennt keine Moral - er ist wertneutral, wie man so schön sagt.
Und was hat das alles mit unserem Glauben zu tun? Nun, schon seit es Menschen gibt, läuft der Mensch (Adam!) Gefahr, der Versuchung zu erliegen, selbst Gott sein zu wollen. Die Folge kennen wir: die Vertreibung aus dem Paradies. Weitere Beispiele haben wir schon gehört bzw. auf dem Weg hierher bedacht. Welch unglaubliche Geduld muss wohl dieser Gott mit uns haben! Und selbst die Menschwerdung Gottes scheinen wir misszuverstehen. Glauben nicht immer mehr Menschen, auch Christen, an eine andere Art der Menschwerdung? Nämlich: je mehr Geld ich habe, je mehr Macht und Prestige, je mehr ich meine eigenen Interessen durchsetzen kann - egal wie - desto mehr Mensch bin ich! Die Verkommerzialisierung des gesamten Lebens scheint bis in die letzten Fasern der menschlichen Seele vorzudringen, mit allen schmerzhaften Folgen für das menschliche Miteinander, von dem Umgang mit Kindern angefangen bis zum Umgang mit alten Menschen.
Dem entspricht eine Verkommerzialisierung bis in die letzten Winkel der Erde hinein, von Neu-Guinea über Angola bis nach Bolivien, usw. Je mehr ich kaufen kann, haben kann, desto mehr Mensch bin ich - so lernen es schon die Kinder weltweit. Der Glaube an die unbegrenzte Macht des Kapitals und dessen stetiger Vermehrung verspricht uns alle Reichtümer dieser Welt, eine unbegrenzte Macht über Menschen und eine totale Verfügbarkeit über die Güter dieser Erde kurz: unser Glück und unser Heil. Dies alles können wir haben - für sich ganz allein - wenn wir uns nur den Dogmen der neuen globalen Heilslehre unterwerfen. Wer dagegen arm bleibt, ist selbst Schuld, ihm fehlt wohl der rechte Glaube. Und um der Geschäfte willen werden sogar die genetischen Codes von Grundnahrungsmitteln und Tieren nicht nur manipuliert, sondern sogar patentiert, d.h. zum exklusiven und teurem Eigentum von Weltkonzernen, das sich die Ärmsten dann erstrecht nicht leisten können.
Wir - und hier meine ich besonders auch wir als etablierte Kirchen und Gemeinden - haben uns bisher für all das nicht sonderlich interessiert, wir wollen es auch gar nicht so genau wissen. Uns geht es ja noch gut. Doch diesem neuen Götzenwahn fallen Millionen Menschen zum Opfer, Jahr für Jahr sogar immer mehr. Sie werden buchstäblich um ihr Leben gebracht, um ihre Hoffnungen, ihre Chancen. Wir tun uns schwer - wir haben ja schließlich alles - die grundlegende Alternative zu erkennen, vor die uns Jesus gestellt hat: Gott oder der Mammon. Wir müssen uns entscheiden, an was wir letztlich unser Herz hängen, denn wie Martin Luther sagte: „An was du dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Stattdessen scheint die größte Sorge in unserer Kirche zu sein, dass die Kirchensteuer in naher Zukunft nicht mehr so hoch ausfallen wird. Wie sollen wir da noch unseren ganzen Besitz instand halten können? Und die Höhe der Kirchensteuer hängt wiederum von einem stetigen Wachstum der Wirtschaft ab….. Oh mein Gott, was wären wir denn ohne Geld?
Mit der Menschwerdung Gottes in Jesus ist eine ganz andere Menschwerdung gemeint: jeder Mensch wird schon als Kind Gottes geboren und das gilt natürlich für alle Menschen und in gleicher Weise. Es ist ein Zeichen einer sehr tiefen Spiritualität, dies zu erkennen und zu begreifen: ich weiß mich von Gott getragen, in seiner Hand. Warum muss ich dann auf eigene Faust immer mehr sein und immer mehr haben wollen? Will ich mehr sein als Gott? Ich bin doch schon Ebenbild Gottes! Ich bin schon wer, unendlich wertvoll! Warum glaube ich das nicht, wo er es mir doch gesagt hat, uns allen?
Die Menschwerdung ist ein Prozess, kein einmaliges Ereignis. Wir werden immer mehr Mensch durch den Dienst am Nächsten, besonders den Notleidenden. Wir brauchen ja nur zu sehen und begreifen, wie Jesus mit den Menschen umgegangen ist. Das NT ist voller Beispiele dafür. Aus der Perspektive Jesu heraus die Welt sehen und deuten, d.h. mit den Augen der Ausgegrenzten Wirtschaft und Politik analysieren und werten - das ist der genuin christliche Beitrag und Auftrag für diese Welt und in dieser Zeit, hier und jetzt. Das bedeutet zu lernen, einen anderen Standpunkt einzunehmen. Im tieferen Sinne bedeutet dies Umkehr und Aufbruch in eine neue Welt, wie das Volk Israel damals.
Unser Weg als Volk Gottes ist dann Gottes Weg, wenn wir uns mit den arm gemachten Menschen und Völkern zusammen für eine gerechtere Welt im Geiste Jesu einsetzen. Motto dieser „Neuen Erde“: alle Kinder Gottes sollen in Würde leben können. Und das wäre heute schon möglich, wenn… Und es ist möglich. Wir können das, Gott hat uns dazu berufen. Selbst wir, aus globaler Perspektive die Reichen, werden dabei nichts verlieren, sondern nur gewinnen. Wir versperren uns selbst den Weg zu Gott und den Mitmenschen, weil wir durch allzu viele Dinge, Geschäfte und woran wir sonst unser Herz hängen mögen, vom rechten Weg abgelenkt werden.
Aber es gibt Zeichen der Hoffnung. Der 1. Mai, an dem sich so viele Menschen für eine gerechte Sache eingesetzt haben, war für mich persönlich ein solches Zeichen. Und dieser Gottesdienst ist es auch. Zeichen der Hoffnung setzen, Mut machen, neue Wege aufzeigen, der Welt eine Alternative aufzeigen und sie vorleben. Wir als Christen - wer denn sonst? - wir haben das Potenzial dazu, mehr noch: wir haben den Auftrag, Zeichen der Herrschaft Gottes in dieser Welt und in dieser Zeit zu sein. Und wir sind es, wenn wir anfangen, dies in unseren Gemeinden und christlichen Kreisen zu leben.
Wir leben in einer österlichen Zeit, konkret zwischen Ostern und Pfingsten. Aber ist nicht durch die Taufe auf Jesus den Christus unser ganzes Leben ein österliches Leben geworden? Lasst uns daher Zeichen der Auferstehung setzen. Auferstehung, ein neuer Mensch werden, beginnt mit jeder guten Tat im Geiste Jesu Christi. Daher wage ich zu sagen: Christen wacht auf, steht auf, wenn ihr Christen seid! Jesus Christus zeigt uns den Weg. Er ist der Weg. Und so möge es geschehen!
Willi Knecht, Kath. Gesamtkirchengemeinde Ulm, 03. Mai 2009