„Bis an die Ränder der Welt“ - Kirchengeschichte aus der Perspektive der Kolonisierten
Nicht einmal mehr jedes vierte Mitglied der katholischen Kirche ist Europäer. Der Erdteil, der sich jahrhundertelang als Zentrum des Christentums verstehen wollte, stellt heute noch 23%, Deutschland 2% der Katholiken. Das Christentum ist zu einer Religionsgemeinschaft geworden, die die große Mehrheit ihrer Gläubigen in der armgemachten und von uns ausgeraubten Hemisphäre der Erde hat. Diese veränderte Lage bedeutet für die Theologie, sich vom Eurozentrismus zu lösen und die Kirchen- bzw. Kolonialgeschichte Afrikas, Asiens und Amerikas zum Gegenstand von Lehre und Forschung zu machen. Aber es geht nicht nur um die historische Theologie, sondern um Gegenwart und Zukunft der Kirche. „Dies ins Bewusstsein gerückt zu haben, ist das große Verdienst von Prof. Johannes Meier. Zeit seines Forscherlebens war es ihm sein wichtigstes Anliegen, den vorherrschenden Eurozentrismus in amtskirchlichen Strukturen, aber auch in der akademischen Theologie zu überwinden“ (aus „Die Stimme erheben“ - zum 70. Geburtstag von Johannes Meier, 2018).
Weiterlesen … Kirchengeschichte aus der Perspektive der Kolonisierten
Brot teilen – das Grundsakrament der Kirche
Das Leitwort für den 102. Deutschen Katholikentag, der von 25. bis 29. Mai 2022 in Stuttgart stattfinden wird, steht fest: Leben teilen. Die Leitung des Katholikentags beabsichtigt mit ihrem Vorschlag, Teilen als Grundhaltung christlicher Weltverantwortung in den Mittelpunkt des Katholikentags zu rücken“ (Ankündigung des ZdK, Oktober 2020). "Das Motto passt optimal zu unserer Diözese mit dem Heiligen Martin als Patron. Für uns Christen ist das Teilen gelebte Nächstenliebe - die vor der eigenen Haustür beginnt und sich über die ganze Erde erstreckt“ (Bischof G. Fürst).
Zukunft teilen (so das Motto dieser Ausgabe), Glauben teilen, Brotteilen: Es wird deutlich, dass es um weit mehr geht als die bisher übliche Gastfreundschaft der beiden Großkirchen. Es geht nicht zuerst um diese traditionelle Ökumene, sondern darum, was wir als Gemeinschaft aller Jünger:innen Jesu zum Überleben der Menschheit beitragen können. Leben ist aber mehr als Überleben - es geht um das verheißene Leben in Würde im Rahmen der planetarischen Grenzen.
Nach dem Katholikentag findet dann vom 31. August bis 8. September 2022 in Karlsruhe die 11. Vollversammlung des Ökum. Rats der Kirchen (ÖRK) statt. „Casa Común, das gemeinsame Haus, so nannte sich eine Initiative am Rande der Amazonassynode 2019, die Gläubigen und Synodalen die Möglichkeit bot, über existenzielle Themen miteinander ins Gespräch zu kommen. An diese Initiative wollen wir anknüpfen: Wir wollen während des Treffens des ÖRK einen Ort schaffen, in dem der Geist einer Ökumene Platz hat, die in den Kämpfen dieser Welt mutig und entschieden auf der Seite der Unterdrückten Partei ergreift und für eine Welt streitet, in der alle Menschen in Würde und Gerechtigkeit leben können“ (aus einem Vorbereitungstext ev. Initiativen).
Beide Großereignisse kann man auch als Einladung zu einer Ökumenischen Mahlfeier verstehen: Doch wer lädt ein? Nicht wir laden ein, sondern alle Menschen sind schon eingeladen, Teil dieser neuen Gemeinschaft zu sein, das Brot des Lebens zu teilen – um so zum Zeichen einer neuen Welt (ein neuer Himmel und neue Erde) im Geiste Jesu zu werden.
Das gemeinsame Mahl – biblische Grundlagen
Am Abend vor seinem Tod feierte Jesus als frommer Jude mit seinen engsten Vertrauten die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten und dankte Gott dafür (griech.: Eucharistia): Gott duldet nicht die Versklavung seines Volkes, er führt es in die Freiheit. Diese „letzte Abendmahl“ gilt in der kirchlichen Tradition als Vermächtnis und Auftrag Jesu. Er verabschiedete sich von seinen engsten Vertrauten, brach das Brot und gab ihnen den Auftrag: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Damit ist das gesamte Volk Gottes gemeint, alle Getauften. In der klassischen Theologie spricht man von den drei Dimensionen der Eucharistie: Als befreiende Erinnerung (Pessach, Exodus) – als Dank, das bedeutet als Verpflichtung in der Gegenwart (Vergegenwärtigung) – als zeichenhafte Vorwegnahme der Gemeinschaft aller Menschen untereinander und mit Gott und seiner Schöpfung.
Was bedeutet daher das „Letzte Abendmahl“? Jesus feierte mit seinen Jüngern die Befreiung des Volkes Gottes aus der Sklaverei, als Erinnerung und als Auftrag zur Nachfolge. In der Eucharistie sagt die Kirche, was sie ist und wie sie im Geiste Jesu zu handeln hat. In dem Maße, wie Christen das Brot teilen, werden sie zur Kirche Jesu Christi. Wenn wir die Eucharistie feiern, gedenken wir des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. Wir sagen Dank dafür, dass Jesus uns durch seine Worte und Taten ein neues Leben ermöglicht und uns den Weg zeigt. Wir nehmen in dieser Feier die endgültige Gemeinschaft aller Menschen untereinander und mit Gott vorweg. Das ist unser Ziel, unsere Berufung. Das biblische Bild: Hochzeitsmahl, Tischgemeinschaft mit denen, denen ansonsten der Zugang zum Tisch und damit zum Brot des Lebens verwehrt wird. Es ist das zentrale Sakrament unseres Glaubens. Kennzeichen dieser Tischgemeinschaft ist das Miteinanderteilen von Brot und Wein, d.h. all dessen, was wir zum Leben brauchen. Die Jünger von Emmaus erkennen den auferweckten Christus erst, als er mit ihnen das Brot teilt. Wenn wir miteinander all das teilen, was wir für ein Leben in Würde brauchen, dann ist Jesus mitten unter uns und wir werden selbst zu „Brot des Lebens“ für andere. In einer Gemeinde, in der das geschieht, ist der lebendige Christus gegenwärtig, es ist Auferstehung spürbar, neues Leben.
Jede Ortskirche, jede einzelne Gemeinde Jesu Christi feiert die Eucharistie aber nie nur „für sich“ (erstrecht nicht nur jeder Einzelne für sich und sein Seelenheil), sondern sie feiert stets im Namen und im Auftrag der Weltkirche. Die Gemeinde Jesu Christi ist die Gemeinschaft aller Menschen, die an Jesus den Christus glauben. Alle Menschen sind zum Tisch des Herrn, zur Hochzeitsfeier geladen. Wir können hier nur Eucharistie feiern, wenn wir das im Namen der gesamten Kirche, der Gemeinschaft aller Gläubigen in aller Welt tun. Wir leben aber in einer Welt, in der 1/8 der Menschheit 7/8 aller irdischen Güter für sich allein verbraucht - ja diese sogar mit Gewalt an sich reißt. Wir leben gleichzeitig in einer Welt, in der alle Güter für alle Menschen bei weitem ausreichen würden.
Was heißt nun Eucharistie feiern? Wie können wir uns gemeinsam mit denen an einen Tisch setzen, für die noch nicht einmal die Brosamen übrig bleiben, die von unserem überreich gedeckten Tisch fallen? Wir können nicht miteinander Eucharistie feiern, während oder falls wir gleichzeitig bemüht sind, unseren schon üppig gedeckten Tisch noch üppiger zu decken – und dafür in Kauf nehmen, dass immer mehr Menschen verhungern. Christlicher Glaube zeigt sich darin, dass wir im Namen Gottes und in der Nachfolge Jesu das Brot, die Früchte der Erde, unser Leben miteinander teilen. Das bedeutet Umkehr, sich auf den Weg machen, auf ein Ziel hin zu arbeiten, das Jesus das Reich Gottes nennt - einen Zustand, wo allein Liebe und Gerechtigkeit herrschen. Und dies ist keine Utopie! Dies nicht für möglich zu halten hieße, dass Jesus umsonst gestorben ist und dass Gottes Schöpfung in einer Katastrophe endet.
Eucharistie als Solidarität mit den „Wegwerfmenschen“ (von Papst Paul VI. zu Papst Franziskus)
Bereits Papst Johannes XXIII. sprach bereits kurz vor der Eröffnung des Konzils von einer „Kirche der Armen“. Papst Paul VI. besuchte vom 22. – 25. 8. 1968 dann als erster Papst Lateinamerika. Anlass war der Eucharistische Weltkongress in Bogotá, Kolumbien. In einer Ansprache spricht er die Landarbeiter und Tagelöhner mit den Worten an: "Ihr seid ein Zeichen, ein Abbild, ein Mysterium der Präsenz Christi. Das Sakrament der Eucharistie bietet uns seine verborgene Gegenwart an, lebendig und real; Ihr seid auch ein Sakrament, d.h. ein heiliges Abbild des Herrn in der Welt, eine Widerspiegelung, die eine Vertretung ist und die nicht sein humanes und göttliches Gesicht verbirgt ... Die gesamte Tradition der Kirche erkennt in den Armen das Sakrament Christi." Im Blick auf Mt 25 fügt er sinngemäß hinzu, dass der Messias sich mit dem Leidenden, Hungernden und „Nackten“, identifiziert. In der Begegnung mit den Menschen im Straßengraben und in den ihrer Lebensgrundlagen Beraubten begegnen wir Jesus dem Christus. In Bezug auf das Selbstverständnis und die Praxis der Kirche lässt sich daher sagen: Wenn die Kernaufgabe, der eigentliche Auftrag der Kirche in der Welt und der Grund ihrer Existenz, darin besteht, das Evangelium zu bezeugen und zu verkünden, und wenn sie weiß, wo die Orte der realen Präsenz Gottes in der Welt sind, nämlich in der barmherzigen Begegnung mit dem Armen und von Not Bedrängten aller Art, dann gibt sie das Fundament an, auf dem sie ihre Legitimität baut: Die Kirche ist da, um Leben, Kreuz und Auferstehung Christi in der Welt zu vergegenwärtigen und zu bezeugen.
„Wir können mit der Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie den Atheismus predigen, wenn wir uns nicht für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen. Die uns im Gotteshaus versammelt sehen, sehen sie uns auch Hand anlegen beim Kampf um die Gerechtigkeit, damit alle unsere Geschwister in Würde leben können?“ (Bischof Fragoso, Brasilien 1973). Bischof Fragoso wurde wie andere wegen diesem seinen Glauben eingesperrt und misshandelt - solche Frauen und Männer sind daher die wahren Zeugen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. Mit Papst Franziskus haben die zentralen Themen des Evangeliums nun wieder an Bedeutung gewonnen. Themen wie eine „Kirche der Armgemachten“ bzw. eine (materiell) arme Kirche sind eine prophetische Herausforderung gerade auch an unsere Diözesen und Landeskirchen - an uns alle. Eine jesuanische Spiritualität, die uns in ausgegrenzten und leidenden Menschen den gekreuzigten Christus entdecken lässt, wird zu einem radikalen Umdenken führen und Welt und Kirche erneuern.
Was im Kontext des letzten Abendmahls oft übersehen wird: Jesus gab seinen Aposteln beim Abschiedsessen das Beispiel des Lebens, das sie führen sollten: Die Füße anderer waschen (Joh 13,12-15). Das bedeutete, dass sie ihr Leben nicht als abgehobene Kaste, als „Privilegierte“, sondern als „Sklaven“ im Dienst des Nächsten führen sollten. Die Fußwaschung war in den Gemeinden des NT ein Frauendienst. Es ist also das Beispiel der Frauen, das Jesus als Leitbild für seine Nachfolge wählt. Die Männer des Evangeliums stehen dagegen in seltsamen Kontrast zu diesen Frauen. Es sind ausschließlich Männer, die geheilt werden müssen oder die Jesus nicht verstehen. Sie sind es, die der Heilung bedürfen. Sie sind blind und lahm, sterben fast oder sind schon tot. Außerdem: Sie hören das Wort Gottes (die Frohe Botschaft), verstehen es aber nicht und das Entscheidende: Jesus ist auferstanden, er lebt, er ist mitten unter uns, aber sie sind taub und blind. Es ist eine Frau, die voller Liebe ist und die deswegen versteht, dass Jesus lebt und die dann seinen männlichen Jüngern die Augen öffnet. Wenn also doch von den „Ersten im Reich Gottes“ die Rede sein sollte, dann von Menschen wie Maria Magdalena (Maria von Bethanien?). „Wenn wir alle diese Aspekte berücksichtigen, so ist der/die Evangelistin daran interessiert, Maria von Bethanien als die wahre Jüngerin und Amtsträgerin zu schildern. Maria nimmt Jesu Gebot, als Zeichen der Agape-Praxis wahrer Nachfolge einander die Füße zu waschen, vorweg“. (Fiorenza Schüssler) Und vor allem gab Jesus seinen Aposteln beim Abschiedsessen das Beispiel des Lebens, das sie führen sollten: Die Füße anderer waschen (Joh 13,12-15). Das bedeutete, dass sie ihr Leben nicht als abgehobene Kaste, als „Privilegierte“, sondern als „Sklaven“ im Dienst des Nächsten führen sollten.
Eucharistie als befreiende Praxis
Jesus der Auferstandene ist nicht zuerst in unseren Tempeln zu finden. Com-Union bedeutet vielmehr, in Gemeinschaft mit Jesus und mit den Menschen sein, mit denen er sich vorrangig identifiziert. Und umgekehrt: Mit dem unter die Räuber Gefallenen zu sein, bedeutet Jesus in sich aufzunehmen. Es kann diese Gemeinschaft nicht geben ohne die Bereitschaft zur Hingabe. Wenn Jesus sagt, „Dies ist mein Leib“ (hebr.: sôma) den ich mit euch teile, dann bedeutet dies: „Das, was ich mit euch teile, bin ich selbst, mein Leben als Messias, meine Verheißung, meine Vision von einer neuen und gerechteren Welt. Das ist der Sinn meiner Hingabe: Dass ihr alle das Leben in all seiner Fülle habt“. Und als die Menschenmenge seine Worte hörte, aber viele nicht mehr genügend zu essen hatten, begannen alle, die etwas dabei hatten, ihre Vorräte auszupacken und zu verteilen. Und alle wurden satt…! Und wenn wir dies als Christen auch so machen würden – es würde für uns alle reichen.
Eine wirkliche Umkehr und damit auch eine Erneuerung der Kirche wird es daher ohne eine vertiefte Spiritualität bzw. eine Vertiefung des Glaubens an Jesus den Christus nicht geben. Eine jesuanisch geprägte Spiritualität hat aber nichts zu tun mit der bei uns üblichen Suche nach Spiritualität, wo es oft zuerst um meine Seele, „meinen“ Gott oder um die eigene Befindlichkeit geht. Eine biblisch-jesuanische und somit eine unterscheidend christliche Spiritualität besteht darin, im gekreuzigten Nächsten das Antlitz des gekreuzigten Christus zu erkennen und an der Seite der Gekreuzigten darum zu kämpfen, dass immer weniger Menschen den global agierenden Räuberbanden zum Opfer fallen. In der Begegnung und der Identifikation mit dem Nächsten (siehe der barmherzige Samariter) werde ich selbst zum „Leib Christi“ und werde dem Nächsten so zum „Brot des Lebens“.
Dieses zeichenhafte, sakramentale Geschehen, das auf Jesus den Messias verweist, hängt nicht davon ab, ob ein geweihter Mensch diesem Geschehen vorsteht (dazu noch abhängig von dessen Geschlecht und von oben ernannt, auch ohne Zustimmung der Gemeinde). Die Gemeinschaft der Jüngerinnen Jesu Christi, die in seinem Namen Eucharistie feiert, ist die eigentlich handelnde „Person“. Sie verwandelt im Auftrag Jesu Brot und Wein, die Güter der Erde, in Nahrung für alle Menschen. Dadurch wird Jesus der Christus gegenwärtig.
Das Volk Gottes ist stets als Gemeinschaft unterwegs. Dieses Volk ist in verschiedenen Gruppen organisiert, den Gemeinden weltweit. Die Gemeinde als überschaubare Gemeinschaft von Menschen, die den Ruf Gottes hören, sich mit anderen Gemeinden auf den Weg machen, das Brot miteinander brechen und sich so als Tischgemeinschaft erfahren, repräsentiert stets auch die gesamte Kirche, sie ist Kirche im Vollzug, sie ist Kirche. Sie ist diese Kirche um so authentischer, wenn sie in ihrem Vollzug und in ihrer Praxis die anderen Gemeinden in der Welt nicht ausschließt (was sie per definitionem gar nicht kann), sondern wenn sie gerade diejenigen in ihr konkretes Leben mit einschließt, die sonst nach den global herrschenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten dieser Welt ausgeschlossen werden. Dem ausgegrenzten Volk offenbart Gott seinen Namen und als das Volk Gottes auf den Ruf hört und sich auf den Weg macht, erfährt es diesen Gott als Gott der Befreiung, der sein Volk nicht im Stich lässt, sondern der immer da ist.
Erfreulicherweise wird - auch auf Grund sich zuspitzender Krisen - der Wunsch nach einem neuen „Narrativ“ weltweit immer deutlicher formuliert. Wir als Christen haben ein Angebot: die Worte und Taten Jesu. Die Kirche bzw. wir als Christen haben die DNA für die notwendige radikale Umkehr im Sinne der Botschaft Jesu. Kennen wir eigentlich unsere eigene DNA nicht (mehr)? Das Brot-Teilen, das Teilen aller Früchte unserer gemeinsamen Mutter Erde, ist wesentlicher Bestandteil dieser DNA. Ohne diese Umkehr – so auch die stete Ermahnung von Papst Franziskus – stehen wir der uns versprochenen Verheißung von einer „neuen Erde und einem neuen Himmel“ selbst im Weg.
Die Wiederentdeckung unserer eigenen DNA impliziert auch das Anerkennen der Schattenseiten unserer „angeborenen DNA“: Wie Gott sein zu wollen, mehr sein und mehr haben zu wollen als der Nächste. Die Verabsolutierung der eigenen Bedürfnisse, ein Leben auf Kosten der Mitmenschen und der Natur (u.v.m.) führt uns alle in den Abgrund. Dieser „alte Mensch“ aber kann überwunden werden, er hat nicht das letzte Wort. In der Nachfolge Jesu wird uns die Chance gegeben zu dem „neuen Menschen“ (Paulus) zu werden, wie er schon bei den Propheten und dann vor allem von Jesus dem Christus verkündet und vorgelebt wurde. Für diesen „neugeborenen neuen Menschen“ ist der notleidende Nächste der Maßstab. Barmherzigkeit, Dienst in und an einer Gemeinschaft, das Teilen des täglichen Brotes, ebenso das Teilen von Trauer und Angst, von Hoffnung und Sehnsucht sind Kennzeichen der Jünger:innen Jesu. Die Enzyklika von Papst Franziskus „Fratelli tutti“ kann uns helfen, dieses neue/alte Narrativ neu zu entdecken und neu zu buchstabieren.
Dr. theol. Willi Knecht, veröffentlicht im August 2021 in „Der Geteilte Mantel“, dem weltkirchl. Magazin der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Jährliche Erscheinungsweise, Auflage 12.000, verschickt an Kirchengemeinden, kirchliche Einrichtungen, Verbände etc.
Ökonomie des Lebens als Thema der Ökumene
Digitaler Strategietag der Ökumenischen Koordination in Baden-Württemberg Donnerstag, 21. Januar 2021. Das Themenspektrum ÖKONOMIE DES LEBENS hat eine lange ökumenische Geschichte. Bereits die 8. Vollversammlung des ÖRK in Harare hatte 1998 den AGAPE-PROZESS (Alternative Globalization Addressing People and Earth) angestoßen. Dieser sollte die Zusammenhänge zwischen Armut, Reichtum und Ökologie bis zu der darauffolgenden 9. Vollversammlung in Porto Alegre 2006 untersuchen.
Wo steht dieser Prozess vor der Vollversammlung des ÖRK 2022 in Karlsruhe? Welche Themenschwerpunkte erscheinen heute, im Angesicht der globalen Covid19-Pandemie besonders relevant? Diesen Fragen wollen wir auf dem Strategietag 2021 nachgehen!
"Ergebnisse" des Workshops (Willi Knecht): "Theologische Reflexionen zu einer Ökonomie des Lebens" / Denk – und Handlungsvorschläge
An ÖRK Verantwortliche
Bisheriges Narrativ (u.a. „american way of life“) erweist sich als Sackgasse, genauer: als Gefährdung für das Überleben der menschlichen Spezie
Bisheriges theol. Narrativ: griechische Philosophie und röm. Rechtssystem (u.a. Privateigentum als höchstes Gut) und eine grundlegende Verdorbenheit des Menschen und der Welt > Erlösung allein durch den Opfertod des Gottessohnes?
Weisheit indigener Kulturen als Korrektiv (u.a. Cosmovisión andina bzw. „buen vivir“): Gemeinwohl zuerst, Relationalität, Ganzheit statt dualistisches Denken und Zerrissenheit ("Atomisierung" der Gesellschaft und des Einzelnen)
Sammlung dieser alternativer Erzählungen und Traditionen
Neues theol. Narrativ: jesuanisch-befreiend-prophetisch, radikale Umkehr, Anklage und Verkündigung
Unsere imperiale Lebensweise wird durch eine imperiale Theologie gerechtfertigt (und umgekehrt)
An Kirchenleitungen
Befreiung („Erlösung“) gemeinschaftlich ("Rettung meiner Seele“) und nicht zuerst individuell denken
Von der vorherrschenden Nabelschau (selbstreferentiell) zur „Nächstenschau“; eigene Beschlüsse ernst nehmen! (von Uppsala bis Busan) statt diese auszubremsen.
Theologische Sprache und Terminologie ändern, z.B. „mein" Gott und meine Seele; statt Plato und Augustinus (und Josef Ratzimnger)die Botschaft der Propheten und das Zeugnis der Menschen in der Nachfolge Jesu;
Eine weise Theologie statt einer „weißen Theologie“; Dialog mit und lernen von der „Kultur der Anderen“
Strukturdebatte führen (Kirche als Apparat), die Botschaft institutionell mitdenken; was ist das „Eigentliche“?
Der Mut, den Kapitalismus als Religion (mindestens) in Frage zu stellen, weil grundsätzlicher „Götzendienst“; deutsche Kirchen als reichste Kirchen der Welt und Teil des Systems?! Wer profitiert von wem? Auf welcher Seite stehen wir?
Grundsätzlich: Die biblische Option um der Armgemachten willen - dies dann auch glaubwürdig leben und als Perspektive: Ein Leben in Würde für alle (vorrangig für die ihrer Würde Beraubten) im Rahmen der planetarischen Grenzen.
An Politik
Mehr Partizipation ermöglichen, genauer: echte Demokratie
Dialog über Werte, „Menschsein“ und „Menschwerdung“ (z.B. mehr Mensch durch Besitz, Macht usw. oder …?
Unsere „Werte des Freien Westen“? Verteidigung der Freiheit der „Sklavenbesitzer“ oder die der „Versklavten“
Kapitalozän statt/oder Anthropozän?
Einzelthemen (die aber alle in Beziehung stehen): Einsatz für Atomwaffensperrvertrag; Lieferkettengesetz; Klimaabkommen, u.a. – sowohl konfrontativ als auch im notwendigen Dialog mit den Mächtigen.
Machtfragen stellen bzw. bestehende „Mächte“ hinterfragen – wer hat welche Interessen und wozu führt dies?
Gefahr einer rein wirtschaftlich-politisch motivierten Aufrüstungsspirale, erhöhte Kriegsgefahr (weil „notwendige“ Verteidigung unserer imperialen Lebensweise?)
STRATEGIETAG DER KIRCHEN – IMPULS (2014)
I. Beitrag der Kirchen zur Entwicklungszusammenarbeit in BW - ein geistlicher Impuls*
* Am 11. März 2014 kamen Vertreter der 4 Landeskirchen in Baden-Württemberg (Badische und Württembergische Landeskirche, die Erzdiözese Freiburg und die Diözese Rottenburg-S.) in Karlsruhe zusammen. Ich wurde gebeten sowohl einen geistlichen Impuls als auch die Abschlussworte zu gestalten.
Im Januar 2013 fand das 1. Strategietreffen in Stuttgart statt. Es entstand im Kontext der entwicklungspolitischen Leitlinien der neuen Landesregierung. Bei deren Ausarbeitung spielten die Kirchen eine herausragende Rolle.
Mein kirchlicher, spiritueller Kontext ist die lateinamerikanische Kirche, genauer: diejenige Kirche, die in der Folge des Konzils auf der Seite der Armen für eine gerechtere Welt kämpft. Was kann der spezifisch christliche Beitrag der Kirchen sein? Das, was das Wesen des Christentums ausmacht! Nicht mehr und nicht weniger. Doch was heißt das? Jesus als den Christus bekennen, der uns zur Nachfolge ruft, zu einem Leben in Fülle, das uns allen verheißen ist. Der aufsteht gegen „die Sünde der Welt“ (Götzendienst, sich selbst und seine Bedürfnisse zum absoluten Maßstab machen usw.) und der deswegen konsequenterweise von den „Fürsten der Welt“ gekreuzigt wird. Die eine Kirche Jesu Christi ist die Gemeinschaft all derer, die diesen Jesus als Christus bekennt und ihm nachfolgt.
Einige Zitate aus dem Süden und was damit gemeint sein könnte: „Während wir unsere Kräfte damit vergeuden, den äußeren Prunk für den Kult zu vermehren, leiden viele Kinder Gottes um uns herum an Hunger, Krankheiten und Elend. Der Prunk ist nicht vereinbar mit dem gleichzeitigen Elend des Volkes. Wir müssen verstehen, dass das Christentum den ganzen Menschen betrifft. Wir können das Leben der Frömmigkeit nicht trennen vom alltäglichen Leben. Jemand ist nicht dann ein guter Christ, wenn er zwar täglich die Sakramente empfängt, aber nicht für soziale Gerechtigkeit eintritt“. (1959). „Der Mensch als Kind Gottes steht über der Wirtschaft. Diejenigen, die wirtschaftliche Prinzipien über die Würde des Menschen stellen, hören auf, Christen zu sein“. (1961)
„Einer Situation des Elends gegenüber müssen wir ein Zeugnis tatsächlicher Armut ablegen. Wir Kleriker müssen herausragen aufgrund einer Askese der Armut und wir müssen der Gesellschaft ein Beispiel für die Verwirklichung von großen Werken geben, ohne viel Geld dafür auszugeben. Wir geben den Anschein, reich zu sein, aber in Wirklichkeit sind wir arm, wenn wir die bischöfliche Würde mit sozialem Prestige oder äußerem Pomp verwechseln. Denn wir sind Nachfolger von einigen armen Fischern aus Galiläa“ (1967 an die peruanische Bischofskonferenz).
„Wir leben in einer Zeit der Euphorie wegen dem Konzil, denn wir spüren, dass die Beschlüsse des Konzils zu einer fruchtbaren Erneuerung führen werden. Das Evangelium hat auch heute noch seine Dringlichkeit und Aktualität wie vor 2000 Jahren. Denn es gab immer Ungerechtigkeiten und die Sünde, aber im Herzen der Menschen brannte auch immer die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt, der Durst nach Liebe, Verständnis und Vergebung. Es war kein Zufall, dass Gott Mensch wurde inmitten eines armen Volkes, in einer armen Frau, die sicher nichts Außergewöhnliches war und wie alle armen Frauen eines armen Volkes. Gott wurde geboren noch nicht einmal in einer Herberge, sondern in einem Stall, auf dem Lehmboden bzw. in einer Futterkrippe, arm unter Armen, verachtet. So ist er mitten unter uns in der Form eines geistigen Brotes, damit dieses Brot auch ein materielles Brot für alle werde und damit dieses Brot unter allen seinen Geschwistern gerecht verteilt werde.
Die Glieder des Leibes Christi sind speziell die, die leiden, die Verachteten, die Armen. Solange es sie gibt, leidet Jesus weiter. Solange wir nicht für das Reich Gottes eintreten, solange wir diese Wunden am Leib Christi nicht heilen, werden diese Wunden ewig ans Kreuz genagelt bleiben. Wenn wir nicht für mehr Gerechtigkeit in der Welt eintreten, verraten wir Christus und die dreißig Silberlinge als Lohn des Verrats sind heute unsere Gleichgültigkeit und die Suche nach einem bequemen Leben, während gleichzeitig zwei Drittel der Menschheit im Elend leben.
Wenn wir die Welt analysieren, in der wir leben, so ist sie gekennzeichnet durch eine Trennung in Arme und Reiche. Der Reiche ist der, der mehr hat, als er zum Leben braucht. Die Armen sind die, die noch nicht einmal das Notwendigste zum Leben haben und deren fundamentalste Menschenrechte verletzt werden. Heute handelt es sich auch nicht mehr um Arme als Individuen, sondern um ganze Völker“ (1965).
Solche Worte mögen uns heute wieder etwas vertrauter erscheinen – Gott sei Dank! Aber es sind keine Worte von Papst Franziskus, sondern von Bischof Dammert aus den 60er Jahren. (José Dammert Bellido, Weibischof in Lima von 1958 - 1962 und Bischof von Cajamarca 1962 – 1992. Bischof Dammert war Erstunterzeichner des Katakombenpakts und danach der entscheidende Motor dieser Bewegung der „kleinen Bischöfe“, der sich weltweit 600 Bischöfe per Unterschrift verpflichtet fühlten). Dieser Bischof hat dies auch gelebt und darum hat man ihm geglaubt. Und aus einer Kirche auf der Seite der Mächtigen wurde eine Kirche der Ohnmächtigen - und so zu einem ernstzunehmenden Faktor zugunsten der Ausgegrenzten. Aus einer gotteslästerlich reichen Kirche wurde eine Kirche der Befreiung! Und wie sieht es mit der Standortbestimmung der deutschen Kirche im globalen Kontext aus? Woran hängt ihr Herz?
Ermutigende Zeichen bei uns:
1. Spätestens seit Anfang der 80er Jahre führte das Bewusstsein, dass das Überleben der Menschheit als Ganzes in Frage gestellt ist, europaweit zu einer ökumenischen Bewegung: „Kairos - Die Zeichen der Zeit erkennen“. Der Glaube lehrt uns, die Zeichen der Zeit zu erkennen, in ihnen spricht Gott zu uns. Die Zeichen der Zeit müssen im Lichte des Evangeliums gedeutet werden. In der Ausstellung „Kirche der Befreiung“ der Gemeinde St. Georg, Ulm aus dem Jahre 1983 heißt es: „Die bestehende Weltordnung basiert auf dem Recht des Stärkeren und der absoluten Vorherrschaft des Kapitals. Der wirtschaftliche Kreislauf wird allein von den Interessen der reichen Länder bestimmt und führt zu mehr Reichtum unsererseits und zu immer mehr Elend weltweit.“
Wir scheinen vor einem Epochenwechsel globalen Ausmaßes zu stehen: Über Tausende von Jahren hinweg hat die Menschheit bestimmte Verhaltensregeln entwickelt, um die destruktiven Seiten des Menschen einigermaßen zu zähmen und die Gleichheit aller Menschen zu entwickeln (Religionen, Humanismus, Menschenwürde). Doch nun steht dies zur Disposition: „Immer mehr, jeder für sich und einer gegen alle, wer etwas hat, der hat Recht und wer nichts hat, hat bestenfalls Pech gehabt oder ist selbst schuld“, das wird zur Grundregel unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens erklärt - ohne jede Alternative. Zurück in die Steinzeit im Namen des Fortschritts? Ihr Gott ist das Geld und die Gier nach immer mehr Besitz und Macht ist die weltweit herrschende Religion.
2. Die Initiative „Prophetische Kirche“, hervorgegangen aus dem Deutschen Katholischen Missionsrat, veröffentlichte 2011 einen Aufruf, dem sich bundesweit viele Menschen anschlossen. „Wir erleben unsere Welt im krassen Widerspruch zu der Botschaft des Evangeliums: `Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben`. Wir erleben die Zerstörung unseres Planeten, wir sehen das Elend von einer Milliarde hungernder Menschen, die Hoffnungslosigkeit einer Jugend ohne Zukunftsperspektive. Dazu können wir als Christen/-innen und Kirchen nicht schweigen. Unsere Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel. Die Zeit ist reif für ein grundlegendes Umdenken: `Kehrt um!`. Der Tanz um das goldene Kalb wird zum Totentanz für Mensch und Natur“. (Aus: „Leben in Fülle für alle! – Aufruf für eine prophetische Kirche“)
3. Eine neue Initiative, in der auch das Ökumenische Netzwerk Württemberg (u.a.) stark vertreten ist, will den Kairos - Gedanken neu aufgreifen: Aus dem Aufruf: „Im ökumenisch-konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung haben die Kirchen die Überlebensfragen der Menschheit zu ihren eigenen gemacht. Die Überlebensfragen haben inzwischen deutlich an Dramatik zugenommen. Die Zeit ist reif, die Fragen des konziliaren Prozesses neu aufzugreifen.“ (Aus: Die Zukunft die wir meinen - Leben statt Zerstörung: Zur Notwendigkeit einer Ökumenischen Versammlung)
Mit Papst Franziskus werden diese zentralen Themen des Evangeliums wieder mehr an Bedeutung gewinnen. Dies betrifft auch die Kirche selbst. Themen wie eine „Kirche der Armen“ bzw. eine (materiell) arme Kirche sind eine prophetische Herausforderung an unsere Diözese und an uns alle. Eine jesuanische Spiritualität, die uns in ausgegrenzten und leidenden Menschen den gekreuzigten Christus entdecken lässt, wird zu einem radikalen Umdenken führen und Welt und Kirche erneuern.
Wir brauchen mehr bzw. eine andere Theologie/Spiritualität, um von daher die richtige Perspektive gewinnen zu können und seinen eigenen Standort zu überdenken (so auch einer der Erkenntnisse von Busan 2013, ÖRK). Denn Jesus der Christus identifiziert sich mit denen, die aus wirtschaftlichen Interessen um ihr Leben gebracht werden. Ihr Schrei nach Brot und nach Gerechtigkeit ist das Wort Gottes an uns heute.
Bedingungslose Option für die Armen (opción por…um der Armen willen) – gegen alles aufstehen, was den Menschen versklavt.
Prophetische Kirche: Anklage des Götzendienste - Missstände aufdecken – Verkündigung einer neuen Welt.
Wir sind nur glaubwürdig, wenn als arme Kirche der Armen, auf der Seite der Ohnmächtigen; nur wenn es uns als Kirche (Gemeinschaft) gelingt, aus unserem goldenen Käfig auszubrechen und selbst frei zu werden, werden wir als eine Kirche der Befreiung zu dem werden, zu dem uns Jesus der Christus berufen hat: zu Inseln des Lebens inmitten des Todes – zu einem Zeichen des Heils für alle Menschen.
Zum Abschluss das Zitat eines brasilianischen Bischofs. „Wir können mit der Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie den Atheismus predigen, wenn wir uns nicht für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen. Die uns im Gotteshaus versammelt sehen, sehen sie uns auch Hand anlegen beim Kampf um die Gerechtigkeit, damit alle unsere Geschwister in Würde leben können?“ Bischof Fragoso wurde wie andere Frauen und Männer wegen diesem Glauben eingesperrt und misshandelt – sie sind daher die wahren Zeugen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi.
_______________________________________________________________________
II. Abschließende Betrachtung (Schlusswort): Beitrag der Kirchen zur Entwicklungszusammenarbeit in BW
Stichworte: Dass es einen solchen Tag überhaupt gibt, ist sehr gut. Wir kamen zu Ergebnissen und Absprachen. Nicht jeder muss immer wieder alles neu erfinden. Gemeinsame Überlegungen, nicht jeder für sich.
Eigentlich wissen wir alles, will heißen, die Probleme sind bekannt. „Eigentlich“ müssten wir vieles anders machen. Doch scheint eine große weltweite Lähmung alles zu überdecken. Was sind die Ursachen für diese Lähmung?
Wie können wir uns als Kirchen Gehör verschaffen (nicht um der Kirchen willen, sondern um der Menschen und deren Überleben willen)? Mit klaren Worten und einer eindeutigen Option – oder wie z.B. mit dem aktuellen Sozialwort der Kirchen? In welchem wirtschaftlich-gesellschaftlich-politischen Kontext leben und reden wir als Kirchen?
Sind wir als Kirchen denn von der Gesellschaft und ihren herrschenden Werten noch zu unterscheiden? (Oder sollten wir uns ausgerechnet im Thema Sexualmoral unterscheiden, obwohl davon nichts in der Bibel steht)? Und wenn nicht – wer braucht uns denn noch? Es gäbe stattdessen sehr viele grundlegende Bereiche, wo wir uns unterscheiden müssen, wollen wir glaubhaft die Kirche Jesu Christi sein (siehe auch den Impuls von heute Morgen).
Das wäre z.B. eine radikale Abkehr von dem herrschenden Wachstumswahn. Stattdessen profitieren die Kirchen (in Deutschland) von dem Zwang, immer mehr produzieren zu müssen, auf Kosten von Mensch und Natur.
Eine Kirche (und Theologie), die - de facto - Geld und Finanzen als ihre eigentliche Grundlage sieht, betreibt Götzendienst. Sie ist dem gleichen Wahn verfallen, der zum Untergang führt. Wie glaubwürdig sind wir als Kirche?
Eine Kirche der Armen wie ansatzweise in Teilen Lateinamerikas seit dem Konzil hat gezeigt, dass durch eine konsequente Verkündigung der befreienden Botschaft und eine entsprechende Praxis die Kirche (die Gemeinschaft aller Menschen, die an Jesus den Messias glauben) zu dem wird, zu dem sie berufen ist: zum Brot des Lebens für alle die hungern und dürsten, zum „Zeichen des Heils“ für alle Menschen.
Dafür müssen wir gemeinsam einstehen und handeln. Stattdessen herrschen immer noch parallele oder gar sich ausschließende Strukturen. Angesichts der großen Überlebensfragen der Menschheit und im Kampf für ein „Leben in Fülle“ für alle, interessiert es da noch, was denn nun typisch evangelisch oder typisch katholisch ist? Die wahre Spaltung der Kirchen besteht darin, dass die einen Christen auf Kosten der anderen Christen leben oder auch, dass einige Gruppierungen den Gott Mammon anbeten, während andere, die dagegen aufstehen, verfolgt werden.
Lassen wir uns diesen Tag als einen kleinen Schritt auf dem Weg betrachten, den uns Jesus gezeigt hat. Wir dürfen mit ihm gehen (ihm nachfolgen) in der Gewissheit, dass er uns nie im Stich lassen wird.
Willi Knecht, 19. März 2014
Misereor: „Es geht! Anders.“
Wie sieht die Welt von morgen aus? Und was können und sollten wir ändern, mit einem neuen Blick füreinander und auf die Welt? Die Corona-Pandemie hat viele Fragen aufgeworfen, uns mit unserer Verletzlichkeit konfrontiert und Gewissheiten erschüttert. Sie hat viele Opfer gefordert und der Menschheit Grenzen aufgezeigt. Sie hat aber auch sichtbar gemacht, was möglich ist, wenn Menschen Verantwortung füreinander übernehmen: Aufmerksamkeit und Unterstützung für die Schwächsten, gegenseitige Ermutigung, Bereitschaft zu Verzicht und Einschränkung im Interesse des Gemeinwohls. Nutzen wir diese Erfahrungen: Es geht anders!
Eine andere Welt ist möglich. Es liegt in unserer Hand und in unserer Verantwortung als Christen diese mitzugestalten. Mit der Fastenaktion lädt Misereor ein u.a. folgende Fragen zu stellen: Was zählt wirklich für uns und in dieser Welt – das Gemeinwohl aller Menschen und die uns allen von Gott geschenkten Gemeingüter dieser Welt oder deren rücksichtslose Ausbeutung zugunsten derer, die eh schon alles im Überfluss haben? Können wir eine Lebensweise verantworten, die vorrangig auf Massenkonsum und materiellen Wohlstand ausgerichtet ist und dabei in Kauf nehmen, dass Natur und Umwelt, die Lebensgrundlagen auch zukünftiger Generationen, verwüstet werden? Es sind Fragen, die nicht überfordern sollen, sondern zu spürbaren Schritten der Veränderung anregen wollen. Es ist aber an der Zeit - ein Zeichen der Zeit - solch grundlegende Fragen zu stellen und den Kompass neu auszurichten.
Seite 1 von 3