Lesung und Predigt Frankfurt, St. Georgen, den 13. November 1973
Helder Camara: Die beiden Lastkutscher

 

„Beide kamen mit einem voll beladenen Karren einher. Die Wege waren verschlammt, und beide Karren fuhren sich fest. Einer der beiden Kutscher war fromm. Er fiel mitten im Schlamm auf die Knie und begann, Gott darum zu bitten, er möge ihm doch helfen. Er betete, betete, betete ohne Unterlass und schaute dabei gen Himmel. Währenddessen fluchte der andere, krempelte aber die Ärmel hoch. Er suchte sich Zweige, Blätter und Steine zusammen. Er zog und zerrte am Karren. Er schimpfte dabei, was das Zeug hielt....

Und da geschah das Wunder: Aus der Höhe stieg ein Engel hernieder. Zur Überraschung der beiden Kutscher kommt er jedoch demjenigen zu Hilfe, der geflucht hat. Der arme Mann ist ganz verwirrt und ruft aus: „Entschuldige, das muss ein Irrtum sein, sicher gilt die Hilfe dem anderen!“ Aber der Engel sagt: „Nein, sie gilt dir. Gott hilft dem, der die Ärmel hoch krempelt und den Karren aus dem Dreck ziehen will“. Natürlich werden wir daraus nicht den Schluss ziehen, fährt Dom Helder fort, es richtig, zu fluchen. Aber derjenige, der Gott die Verantwortung für alles auflädt, der hat das Christentum nicht richtig verstanden“.


 

Die Geschichte, die Helder Camara uns erzählt, ist eindeutig. Gott hilft dem, der kämpft, der alles unternimmt, um aus dem Schlamassel herauszukommen. Er hilft nicht dem, der nur betet und nichts tut. Natürlich könnten wir sagen, dass wir in einer solchen Situation auch nicht nur gebetet hätten. Aber so einfach ist die Geschichte auch nicht gemeint. Es wird hier vielmehr eine allzu oft anzutreffende Grundhaltung zur Welt und zu Gott in eine einfache, verständliche Geschichte übersetzt. Und wie sieht diese Haltung im Kern aus?

Vereinfacht gesagt: dass man von Gott eine konkrete Hilfe – Dienstleistung - erwartet, wenn man selbst nicht mehr weiter weiß oder einfach zu bequem ist. Es können dies inneren oder äußeren Schwierigkeiten sein, angefangen von Examensängsten bis hin zum Gebet, dass es doch keinen Weltkrieg mehr geben möge. Man kann dies als magisches Gebet bezeichnen – sofern man sich nur auf dieses Gebet verlässt.

 

Gott wird hier zum Lückenbüßer, oder zum großen Magier und Zauberer, letztlich wird er aber zu bloßen Marionette von uns selbst, oder zum lieben Opa, den man nur dann bemüht, wenn es nicht mehr weiter geht. Dieser Gott wird den ganzen Dreck schon wegräumen, und wenn er es nicht tut, ist er selbst schuld. Ich aber kann meine Hände in Unschuld waschen, denn ich habe ja gebetet.Meine Hände sind auf alle Fälle rein geblieben.

In der Tat, im Dreck zu wühlen, bis zum geht nicht mehr im oft auch noch stinkendem Schlamm zu stecken, ist nicht immer ein reines Vergnügen. Man sieht aber nicht, oder will nicht sehen, dass dieses Sich - heraushalten – wollen das eigentliche Grundübel ist. Im Grunde geht es dabei nur um mich selbst, um meine eigene „Unschuld“ – und man lädt gerade dadurch eine sehr große Schuld auf sich. Denn eine solche Einstellung ist ja der Grund dafür, dass es in der Welt so dreckig aussieht und dass z.B. so viele Unschuldige im Dreck buchstäblich untergehen und um ihr Leben gebracht werden.

 

Wer glaubt, sich aus den Streitigkeiten, Aufgaben und Verantwortungen der Welt heraushalten zu können, ausgerechnet der macht sich schmutzig. Und wenn man sich auch noch darauf beruht, dass man ja gebetet hat, oder dass einem die armen Kinderchen ja so Leid tun, so ist das entweder sehr zynisch oder einfach sehr dumm. Wer so denkt und so lebt, der hat, wie Helder Camara sagt, das Christentum, die Botschaft Jesu nicht verstanden. Dies ist sonst nichts anderes als Götzenglaube, oder es ist nur die eigene Bequemlichkeit, der man geschickt ein moralisches Mäntelchen umhängen will. Gott will vielmehr, dass wir selbst handelnd die Welt gestalten, denn er hat sie uns anvertraut. Das ist unsere Aufgabe.

Der Mensch, wir allein haben zu verantworten, was auf der Welt geschieht. Und wir bewältigen diese Aufgabe nicht, wenn wir alles auf Gott abladen wollen oder wenn wir uns mit einem besseren Leben danach trösten. Denn Gott hat keine anderen Hände als die unseren und wenn wir nichts tun, dann geschieht nichts. Wir müssen also schon selber versuchen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen – oder er wird für immer darin stecken bleiben und wir werden mit ihm alle zusammen im Dreck versinken.

 

Nun ist es aber nicht nur ein Karren, der im Dreck steckt, sondern es ist der Mensch, der im Dreck liegt bzw. in Dreck und Schmutz hineingestoßen wird. Es ist der größte Teil der Menschheit – nicht nur in der so genannten Dritten Welt – sondern auch bei uns, oder wir sind es vielleicht auch selbst, die im Schlamm feststecken. Ich möchte an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter erinnern. Der Samariter ist sicher das, was wir heute vielleicht einen Ungläubigen nennen würden, zumindest aber würde man ihn nicht gerade zu den „Guten Katholiken“ zählen wollen.

Diese „Guten Katholiken“ aber, vornehmlich Würdenträger, gehen an dem Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, vorbei. Es sind Menschen, die sich selbst als vorbildliche Gläubige gesehen haben und sehen, Menschen gar, die sich in besonderer Weise von Gott berufen fühlen und daher das selbstverständliche Recht für sich in Anspruch nehmen, Gott näher zu stehen und ihre Mitmenschen beurteilen und verurteilen zu dürfen.

 

Heute liegt nicht nur ein Einzelner im Straßengraben, sondern ganze Völker und Erdteile sind unter die Räuber und Mörder gefallen – und wir schauen zu oder gehen vorbei. Aber wir beten vielleicht für das Opfer. Ein derartiges Gebet aber ist kriminell und ist eine Beleidigung Gottes. Dies gilt umso mehr, wenn wir selbst die Räuber und Mörder sind, die ganze Völker in den Hungertod treiben, weil wir immer mehr haben wollen. Und gleichzeitig huldigen wir unserem Kult…!

Wer aber hilft und wie kann man überhaupt helfen und etwas Sinnvolles tun? Nun, es käme darauf an, nicht nur dem ausgeraubtem Menschen im Straßengraben Bruder und Schwester zu werden, sondern wir müssen uns dafür einsetzen, dass es solche Straßen nicht mehr gibt, Straßen, die uns zwar direkt zum Tempel, aber die uns an den Opfern der Geschichte und der Gegenwart sicher vorbei führen. Diese Straßen sind ja von uns gerade deswegen so geplant worden. Die Straße nach Jericho, zu einer gerechteren Gesellschaft, muss völlig anders beschaffen sein.

 

Die Straße nach Jericho darf nicht an den Ausgeschlossenen und den Ausgeraubten vorbeiführen, sondern zu ihnen hin und ohne sie wird es keinen Weg weiter nach Jericho geben. Aber wo sind die Christen bei einem solchen neuen Straßenbau zu finden? Die Ingenieure sind sie sicher nicht, die Hilfsarbeiter vereinzelt, in der Masse aber stehen sie abseits oder verhindern sogar den Bau neuer Wege. Vielleicht haben sie aber einfach auch keine Zeit, denn sie sind voll mit ihrem Kult und mit ihrem eigenen Seelenheil beschäftigt (Letzteres gilt vielleicht im besonderen Maße für unsere evangelischen Weggefährten).

Neue Straßen müssen aber gebaut werden, von uns, weil es sonst niemand gibt, der sie baut und wenn wir sie nicht bauen, wird es bis in Ewigkeit solche Schlamm- und Räuber-Wege geben. Und, wir wissen es eigentlich gar nicht mehr: wir hätten diese Wegepläne, denn wir nennen uns nach einem gewissen Jesus von Nazareth, dem Christus, der uns den Weg gezeigt hat und der ihn mit uns geht. Diesen Weg zu erkennen und vor allem die Bereitschaft ihn auch zu gehen, wäre echte Spiritualität!

 

Vielleicht beten wir täglich vor dem Essen, dass doch alle Menschen satt werden mögen. Tun wir aber wirklich etwas dafür, dass wenigstens einige Menschen satt werden können. Und wenn nicht, warum beten wir dann? Mit etwas tun meine ich nicht, etwas von dem zu geben, was wir eh zu viel haben, auch nicht, einige Esspakete zu Weihnachten verschicken. Haben wir uns denn schon überlegt, warum es Hunger gibt und wie wir ihn beseitigen könnten in einer Welt, in der es Lebensmittel im Überfluss gibt – für alle Menschen?

 

Aufgrund welcher Wirtschaftsordnung gibt es denn weltweit Hungernde - zumal in den Teilen der Welt, die von europäischen Christen „missioniert und zivilisiert“ wurden? Hier geht es um gesellschaftliche, politische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge und wir als Christen haben uns hier einzumischen. Aber das Problem fängt ja schon damit an, dass viele „gute Katholiken“ gar nicht verstehen können oder wollen, dass dies etwas mit ihrem Glauben zu tun haben könnte. Hauptsache man betet und feiert fröhlich Gottesdienste!

Aber Gebete und Gottesdienst feiern ohne diesen Hintergrund heißt weltlos und damit gottlos zu beten und zu feiern – also Götzendienst zu betreiben. Gebet und Gottesdienst –gerade auch Eucharistie feiern und das Brot brechen – ohne gesellschaftlichen Konsequenzen ist kein rechtes Beten – es verlängert und verschlimmert nur die Misere. Beten und wahrhaft glauben könnte stattdessen zuerst einmal heißen: Umkehren und Buße tun; auch: sich eingestehen, an diesen Verhältnissen, die so viele Menschen ums Leben bringen, mitschuldig, zumindest aber darin verwickelt zu sein.

 

Schuld und Sünde sind vor allem dies: Mangel an Liebe. Wir lieben nimmer viel zu wenig und das ist unsere eigentliche Schuld. Denn wer nicht liebt, kann auch nicht den ausgeraubten und verletzten Menschen im Straßengraben sehen, d.h. er kann ihn nicht als Bruder und Schwester erkennen und er kann erst recht nicht erkennen, dass Gott sich mit diesem Menschen identifiziert hat. Beten könnte hier heißen, sich dessen bewusst zu werden, sich darüber Rechenschaft abzulegen – und sich dabei nicht von allen verlassen zu wissen, nicht ungehört und nicht ungesehen.

Das kann dann Änderung in mir bewirken. Und das bringt dann auch tatsächlich Hilfe für mich und die anderen. Das zu wissen und zu wissen, dass Gott immer mit mir ist, kann mir die Kraft und den Mut geben, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Denn allein schafft es der Mensch tatsächlich nicht. Dorothee Sölle formuliert es so: „Dass Menschen ihren Hunger nach dem Reich Gottes aussprechen - das ist Beten. Hunger heißt Sehnsucht, die unter allen Umständen nach Verwirklichung drängt. Solches Beten ist menschliches Beten“.

 

Aber nicht nur der Mensch steckt im Dreck, sondern es ist Jesus, Gott selbst. Gott wurde Mensch, nicht irgendwo, sondern inmitten der Menschen, die an ihrer eigenen Menschwerdung gehindert werden, inmitten der Ausgestoßenen und derer, die um ihr Leben gebracht werden. Und deswegen können sie nun Mensch werden und in Würde leben. Dass der Mensch und die Welt wieder mit Gott versöhnt werden, ist der eigentliche Sinn der Botschaft Jesu, ja der gesamten Heilsgeschichte. Diese Versöhnung beginnt von den „Rändern der Gesellschaft“ her.

 

Wir sind dazu berufen, in Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zu leben. Unsere Aufgabe ist es, immer menschlicher bzw. immer göttlicher zu werden. Und weil Gott Mensch geworden ist, begegnen wir ihm in der Geschichte der Menschen. Konkret: wir erfahren ihn in der Gemeinschaft mit den Opfern der Geschichte, den in Armut und Elend gehaltenen Menschen, den Unterdrückten, den Verlassenen und Ausgestoßenen – nicht aber in Gemeinschaft mit den Pharisäern und Hohen Priestern, den so genannten Anständigen, den Gesetzeserfüllern, Sprücheklopfern, den gesellschaftlichen und religiösen Oberklassen.

Denn all diese haben noch nicht einmal gemerkt, dass Gott in ihrer Nähe Mensch geworden ist. Sie sehen und sie hören nichts, weil sie sich selbst zum Maßstab machen. Und daher sehen sie auch nicht den Menschen im Straßengraben. Gott ist Mensch geworden und wie die brasilianischen Bischöfe in einem gemeinsamen Hirtenwort sagen: „Indem Gott Mensch geworden ist, ist in Christus der Mensch, vorrangig der arm gemachte Mensch, zum Maßstab aller Dinge geworden“.

 

Es gibt nur ein Gebot im Christentum: Die Liebe, Gottes- und Nächstenliebe. Gott ist Liebe und wo sich Liebe zwischen Menschen ereignet, ereignet sich Gott. Gottesliebe und Gotteserkenntnis bedeuten Einsatz für gerechte Verhältnisse unter den Menschen. Den Gott der Offenbarung erkennt man, indem man Gerechtigkeit praktiziert. Ohne Liebe zu den Menschen kann es auch keine Liebe zu Gott geben. Wo die Liebe zwischen Menschen stirbt, stirbt Gott. Gottesliebe kann es nicht geben außerhalb unserer menschlichen Fähigkeit zu lieben.

Diese Liebe hat nun aber überhaupt nichts mit einer rein geistigen, platonischen Liebe zu tun, nichts mit bloßem aber folgenlosem Mitleid. Sie ist nie nur privat und unendlich mehr als Worte. Liebe ist Tat, ist oft Kampf konkreter Einsatz für eine Gesellschaft, in der Liebe und Gerechtigkeit zum obersten Maßstab werden. Nächstenliebe ist nur wirksam, wenn sie wirksam ist. Liebe verlangt nach Solidarität. Solidarität und Liebe verlangen, dass ich in die Situation derer eintrete, mit denen ich mich solidarisiere.

 

Liebe fragt nach den Ursachen z.B. von Hunger und gibt sich nicht mit bloßen Almosen zufrieden. Liebe kann es nie von oben herab geben, sondern nur „cara a cara“, von Angesicht zu Angesicht. Wir werden nicht nach unseren guten Absichten und Gebeten beurteilt werden, sondern nach unserem tatsächlichen Verhalten Christus gegenüber, der uns in jedem Nächsten begegnet, der Hunger hat. „Ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben…!“ Liebe geht sogar so weit, nicht nur sein eigenes Leben einzusetzen, sondern auch sein so genanntes Seelenheil um der Nächsten willen aufs Spiel zu setzen. Wo wirklich geliebt wird, verändert sich die Welt.

Liebe ist eine Gefahr für alle bestehenden Mächte Strukturen. Wie weit Liebe gehen kann, zeigt das Beispiel von Camilo Torres. Kurz vor seinem Tod sagte er: „Ich glaube, dass ich mich der Revolution aus Nächstenliebe verschrieben habe. Ich habe aufgehört die Messe zu lesen, um vorher die Nächstenlieb zu verwirklichen. Wenn mein Nächster nichts mehr gegen mich einzuwenden hat, werde ich wieder Messopfer darbringen, wenn Gott es mir erlaubt. So glaube ich das Gebot Jesu zu erfüllen, das heißt: Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst und du dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so kehre um und versöhne dich erst mit ihm“.

 Und was tun wir? Wir feiern Messopfer nach Messopfer, wir beten und beten! Doch wenn wir nicht zugleich radikal umkehren und den Weg zum leidenden Mitmenschen gehen, begehen wir ein Sakrileg. Wenn wir nicht bereit sind, den unter die Räuber Gefallenen wirklich zu helfen, verraten wir Christus in ihnen und in uns. Wir können auch mit unseren Gebeten und Opfern Christus kreuzigen. Bischof Fragoso aus Brasilien sagt: „Unsere Gottesdienste und Gebete können Atheismus sein, wenn sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber gleichgültig bleiben.

 

Wir können mit der Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie Atheismus verkünden, wenn wir nicht für mehr soziale Gerechtigkeit einstehen. Die uns im Gotteshaus versammelt sehen, sehen sie uns auch Hand anlegen im Kampf um mehr Gerechtigkeit, damit alle unsere Brüder und Schwestern frei werden?“ Es gibt theoretische und praktische Atheisten. Wie viele praktischen Atheisten gibt es doch unter denen, die nicht müde werden, sich ständig auf Gott zu berufen und dabei doch nur ihre eigenen Interessen meinen. Und es sind dies oft gerade diejenigen, die lauthals die reine katholische Lehre bewahren wollen und alle anderen zur Hölle wünschen.

 

Hier könnte Gebet anfangen uns ist Gebet notwendig – nämlich sich darauf zu besinnen, was es heißt, den Willen des Vaters zu tun, was es heißt, Jesus als den Christus zu verkünden und ihm nachzufolgen. Wenn wir Jesus nachfolgen, beten wir. Gebet heiß auch hören, hören auf die Botschaft und versuchen, sein Leben danach auszurichten. Gebet heißt Bekehrung zum Nächsten, d.h. zum Unterdrückten jeder Art. Jedem Menschen wurde die Möglichkeit zur Bekehrung geschenkt, damit er frei werde, frei, um andere bei ihrer Befreiung zu helfen, frei zur Liebe und Hingabe. Danksagen für dieses Geschenk wäre nun die reinste Form des Gebets.

 


 

Als Anhaltspunkte zum folgenden Gespräch noch folgende Hinweise, sinngemäß nach Dom Helder Camara: Der Dreck (Elend, Terror, Gewalt, Zerstörung der Natur) ist nicht aus Zufall oder aufgrund einer Naturgewalt da. Er ist vielmehr von Menschen verursacht, vorrangig von Menschen des „christlichen Abendlandes, Menschen aus der „Ersten Welt“, in ihrer Mehrheit „zivilisierte Christen“. Solange wir an dieser herrschenden Weltordnung (wirtschaftlich, politisch, militärisch) festhalten, wird der "Dreck" immer größer.

Unser materieller Wohlstand beruht auf der systematischen Vernichtung von Millionen von Menschen, ja von ganzen Völkern. Und wer sich an diesem Wohlstand auch noch aufgeilt, muss wissen, woran er seinen Spaß hat. Was wir zurzeit erleben, mehr als je zuvor, ist ein globaler Kriegszustand, der schlimmste Weltkrieg, den es je gab. Ihm fallen jedes Jahr etwa 40 Millionen Menschen zum Opfer, weil man ihnen das Nötigste nimmt, was sie zum Leben brauchen. Angesichts dessen sind Almosen und unsere so genannte Entwicklungshilfe eine Beleidigung für die Armen.

Was Not tut ist vielmehr eine umfassende Kulturrevolution, eine Umkehrung unseres Wertesystems und notfalls in vielen Ländern eine grundlegende soziale und politische Revolution. Dies wird nötig sein, um dem Erlösungswerk und Befreiungsgeschehen Gottes neue Wege zu öffnen.

 


 

Anmerkung am 13. November 2013, genau 40 jahre später:

Als Vorsitzender des ASTA Ffm-Georgen, Theol. Hochschule der Jesuiten, durfte (musste) ich zum (verspäteten) Gottesdienst zur Semestereröffnung eine Predigt in der Seminarkirche halten. Anwesend waren neben den Studenten alle Professoren, u.a. Otto Semmelroth, Alois Grillmeier, Oswald von Nell-Breuning, Norbert Lohfink, Peter Knauer und als Gast Bischof Wilhelm Kempf aus Limburg. Nach dem Gottesdienst kam es zu einem Diskussionsabend, in dem die Predigt im Mittelpunkt stand (in der Art einer theol. Debatte mit These und Antithese). Daran nahm auch Bischof Kempf teil.

Einer der Punkte, bei dem am meisten Übereinstimmung gefunden wurde war meine "These", dass es nicht genüge, nur dem Menschen im Straßengraben zu Hilfe zu eilen, sondern dass "neue Wege" derart neu gebaut werden müssen, dass sie nicht zuerst nach "Jerusalem" (Tempel, Kult, Hierarchie), sondern zu den Menschen, die unter die Räuber gefallen sind, führen müssen. Einfach gesagt: Die weltwirtschaftlich-politischen Strukturen müssen radikal verändert werden (einschließlich die Rolle der Kirche innerhalb dieser Strukturen), damit immer weniger bzw. keine Menschen mehr unter die Räuber fallen - dies nicht individuell verstanden, sondern als systematische Ausbeutung, der ganze Völker, Klassen und Rassen zum Opfer fallen, die Mehrheit der Menschheit. Bischof Kempf sprach danach als einer der ersten deutschen Bischöfe (oder als erster?) öffentlich davon, dass es nicht nur gilt, die Armut zu mildern, sondern die Ursachen des weltweiten Elends zu analysieren und zu bekämpfen.

Ansätze dieses Anliegens fanden sich dann auch in den Schlussdokumenten der Würzburger Synode (1975).

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PS 1: Im SS 1972 hatte sich in St. Georgen der erste "Studienkreis Theologie der Befreiung" in Deutschland gebildet, noch vor Erscheinen der deutschen Ausgabe des Buches "Theologie der Befreiung" von Gustavo Gutiérrez. Er wurde von lateinamerikanische Mitstudenten (Doktoranden, mit konkreten Erfahrungen aus LA) initiiert und getragen. Einzige deutsche Mitarbeiter waren Christian Herwartz (heute Obdachlosenpriester in Berlin) und ich. Pater Semmelroth und Pater Grillmeier waren kritische Begleiter. Hier zwei meiner Referate aus diesem Arbeitskreis: 

Theologie der Befreiung als neue Theologie?

Eine "barbarische Theologie": Von einer Praxis der Herrschaft zu einer Praxis der Befreiung

 

PS 2: Ich hatte das Glück, drei Jahre später (ab 1976) bei einem Bischof arbeiten zu dürfen, der genau dies versuchte, in die Praxis umzusetzen - in Cajamarca, Peru. Damals konnte man z.B. auch noch u.a. Camilo Torres zitieren, ohne deswegen verunglimpft zu werden. ....