Buen vivir und befreiende Evangelisierung - Ökumenische Versammlung,  02. Mai 2014 

„Buen Vivir“ wird zunehmend als mögliche Alternative für das von Europa ausgehende Wirtschaftsmodell (Kapitalismus) diskutiert. Leider werden in der aktuellen Diskussion um „buen vivir“ die tieferen Zusammenhänge (kulturell, phil.- theol.) kaum verstanden oder willkürlich benutzt. Die spirituellen Grundlagen der andinen Weltsicht (wie auch anderer Jahrtausende alter Kulturen) können Auswege aus der Sackgasse aufzeigen, in die uns die "Kosmovision" (Philosophie, Theologie, Wirtschaft) des christlichen Abendlands weltweit geführt hat.   (Aus meiner Workshop - Ankündigung).

 

I.) Mythos und Wirklichkeit - Sakramente und Heilsverheißungen des Kapitalismus

"Der Kapitalismus ist kalt, kalt wie alles, das aus Metall ist. Es interessieren ihn weder die Menschen noch die Völker. Es interessieren ihn allein die Gewinne. Menschen und Völker interessieren ihn nur in dem Maße, in dem sie ihm Gewinne versprechen. Um Gewinne verschlingen zu können, verschlingt er Menschen und Völker. Er ist kalt, er hat kein Herz. Unser Land, wie viele andere Länder in Lateinamerika, ist schon seit langem in die Klauen dieses Monsters gefallen. Wir hängen auf vielfältige Weise von ihm ab. Wir sind sein Spielzeug".  (Leónidas Proaño, Bischof von Riobamba, Ekuador 1978)

 

Begriffsklärung: Sakramente sind nach überlieferter katholischer Lehre sichtbare Zeichen einer transzendenten Wirklichkeit. Konkreter: es sind von Jesus Christus eingesetzte (gestiftete) Zeichen, in denen ansatzweise zum Vorschein kommt und erfahrbar wird, was mit der Botschaft Jesu, dem Anbruch des Reiches Gottes und seiner Vollendung gemeint ist. Sakramente verweisen nicht nur auf das Reich Gottes und natürlich auf Gott, sondern sie bringen im Vollzug das Reich Gottes in den Alltag. In ihnen berühren sich Himmel und Erde: der Alltag öffnet sich auf Zukunft, auf Vollendung hin und das Göttliche gewinnt Hand und Fuß, wird „vererdet“ und wird integraler Bestandteil des Alltags. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass im Vollzug der Sakramente der Mensch Anteil nimmt am göttlichen Heil, will sagen: die Sakramente sind Heilsverheißungen, die schon im „Hier und Jetzt“ Gestalt annehmen; und weil Gott der Garant des Heils ist, sind es nicht nur Verheißungen, sondern verbindliche Zusagen des Heils. Der Empfang der Sakramente verheißt bzw. „garantiert“ das Heil. Der Einzelne muss das freilich durch seine theoretische und praktische Hingabe (Glaube, Bekenntnis) bestätigen.  

 

Der Kapitalismus wird hier als eine Ideologie (Werteordnung) und Praxis verstanden, nämlich als eine bestimmte Art und Weise, die Wirklichkeit (Welt, Mensch) und deren Grund und Zweck zu sehen, zu deuten und zu leben. Z.B: Begriff „Freiheit“: Der einzige Produktionsfaktor, dem es erlaubt ist, uneingeschränkt global zu agieren, ist das Kapital. (nicht Menschen). Ein solcher Liberalismus begünstigt mehr die Freiheit des Geldes als die Freiheit der Individuen. Die Globalisierung ist Ausdruck und logische Folge des Kapitalismus. Kapitalismus ist per se - auch ohne dessen konkrete sozialen und ökologischen Auswirkungen zu berücksichtigen - gottlos und daher menschenfeindlich.  (In Lateinamerika andere Diskussion und Definition von Soz. – Kapitalismus)


Im Unterschied zum Christentum wird Kapitalismus als ein System verstanden, in der das Heil aber nicht von außerhalb kommt, sondern in dem das Heil innerweltlich machbar und organisierbar ist. Wie das Christentum seinen Namen von Christus hat, der im Mittelpunkt steht und absoluter Maßstab ist, so bedeutet Kapitalismus, dass im Mittelpunkt von allem menschlichen Streben und Trachten das Kapital steht, weil es - so der Glaube - das am besten geeignete Mittel ist, um zu sich selbst zu finden, um Mensch zu werden und um immer mehr Mensch zu sein. Denn es ist der Mensch, der sich selbst, seine Bedürfnisse, Methoden, Ziele, zum absoluten Maßstab macht und in der das Kapital, weil empirisch am besten bewährt, die Rolle der Heilsvermittlung zukommt. Mehr noch: das Kapital ist selbst das Heil.

 

Der Kapitalismus verheißt allen Menschen guten Willens, wenn sie nur wollen, Anteil am Heil. Dieses besteht darin, jederzeit und überall möglichst viele Bedürfnisse befriedigen zu können. Kapitalismus bedeutet eine Werteordnung, in der der Einzelne zuerst auf sich gestellt ist und in der die Gemeinschaft und der Mitmensch zuerst als ein Gegenüber bzw. als Konkurrent angesehen werden. Höchstes Ziel ist der eigene Erfolg, der sich vorrangig am erworbenen Kapital messen lässt.

 

Zur Katechese (!) des Kapitalismus gehört es, möglichst vielen Menschen den Glauben zu vermitteln, einzigartig und fähig zu sein, das auch erreichen zu können, was man sich vorgenommen hat und erfolgreich sein zu können. Der Kauf von Gütern, die „man“ haben muss, das Anteilnehmen am Leben der Erfolgreichen, die Darstellung seines eigenen Erfolgs und seiner Potenz, erweisen sich als sichtbare Zeichen des Erfolges und der Rechtgläubigkeit. Im Vollziehen dieser Heilszeichen zeigt man sich und den anderen, dass man auf dem rechten Weg ist und dass man wer ist. Die Anerkennung dieser Prinzipien garantiert bereits das Heil, zumindest aber die Möglichkeit zum Heil. Neben diesen sichtbaren Zeichen der Anteilhabe am Heil ist es letztlich das Kapital, auch in der Form von Macht, Herrschaft, Potenz, das als universell geltender Wert zum absoluten Maßstab wird, von dem her alle anderen Werte lediglich abgeleitet sind. Es wird zum Gott.

 

Aus christlicher Sicht handelt es sich um einen Götzen. Das herrschende System bringt nicht nur materielle Güter hervor, sondern auch Idole (Götzen) und Idolatrie. Das System verfügt über die Fähigkeit, geistige und übernatürliche Kräfte zu erzeugen und eine transzendente, numinose und phantastische Welt zu schaffen . Aufruf von „Kairos Europa“ (2003) und anderen christlichen Organisationen: „Die ökonomische Globalisierung ist von einer Logik geleitet, die der Anhäufung von Kapital, uneingeschränktem Wettbewerb und der Sicherstellung von Gewinn in enger werdenden Märkten Priorität gibt... Kirchen, die an dem ökumenischen Prozess teilgenommen haben, bekräftigen, dass die Ideologie des Neoliberalismus unvereinbar ist mit der Vision der Oikoumene, der Einheit der Kirche und der ganzen bewohnten Erde... Was hier auf dem Spiel steht, ist die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses der Kirchen und ihrer Verkündigung Gottes, der mit den Armen und für die Armen da ist“.

 

Wo der Mensch von ihm selbst geschaffene Gegenstände oder z.B. Marktgesetze verabsolutiert, schafft er sich seine eigenen Götter bzw. macht sich selbst zu Gott. Sich diesen Göttern zu unterwerfen ist demnach Götzendienst. Dieser Götzendienst spaltet die Menschheit und stürzt ganze Völker ins Elend. Thomas Ruster setzt sich in „Der verwechselbare Gott“ mit Walter Benjamin und dessen Thema „Kapitalismus als Religion“ auseinander. Einige Stichworte: „Kapitalismus ist darin Religion, dass keine Erfahrung mehr außerhalb des Kapitalismus möglich ist. Alles, was ist und sein kann, steht in einer ökonomischen Funktion“. „Der Kult des Kapitalismus ist der durch Geld vermittelte Warenaustausch. Dessen Zweck ist das ‚Wachset und mehret Euch’ des Kapitals; das ist sein einziger Zweck, sein Selbstzweck, daher ist er reine Kultreligion“. „Geld ist allgegenwärtig und allmächtig. Und es lässt die, die ausreichend über Kapital verfügen, an diesen göttlichen Attributen teilhaben“. Im Unterschied zu Ruster bin aber ich der Auffassung, dass der Kapitalismus auch seine Dogmen hat, fest zementierte Glaubenssätze (alle haben gleiche Chancen, wer arm ist, ist selbst schuld usw.).

 

Wenn aber in der Theologie (auch unterschiedlicher Religionen) Gott selbst als die „alles bestimmende Wirklichkeit“ bezeichnet wird, als ein Gott, der diese Wirklichkeit und Welt lenkt und leitet, dann ist eine Beschäftigung mit den Regeln des weltweiten Marktplatzes Theologie.  Und eine solche Theologie ist notwendig, wird aber bisher nicht geleistet. Das hat ganz bestimmte Gründe.

 

Ursprungsmythen und Heilsverheißungen des Kapitalismus

 

Kapitalismus ist eine Religion, denn sie stützt sich auf einen Glauben mit allen Insignien von traditioneller Religion wie Kult, Hierarchie, Verheißungen, Opfer, Gehorsam, feste Spielregeln, systemimmanente Moral. Sie basiert auf einigen festen Glaubenssätzen und auf der ritualisierten Präsentierung von Heilsverheißungen, die vom Volk nur dann geglaubt werden können, wenn diese Heilsverheißungen immer wieder auch am eigenen Leib - wenn oft auch nur in Form einer Projektion - gespürt und erfahren werden können. Diese Religion, wie jede andere Religion, hat umso mehr Erfolg, je besser es ihr gelingt, den Menschen eine Vision eines besseren Lebens zu vermitteln und auch zugleich die Wege und Methoden zu weisen, die zum ersehnten Ziel führen.

 

Grundlage jeden Vision und Religion sind Grundannahmen, oder Mythen genannt, die (scheinbar) außerhalb der Verfügbarkeit des Menschen stehen und die daher auch nicht zur Disposition gestellt werden können. Glück, besseres Leben, Selbstverwirklichung usw. lassen sich dann nur im Rahmen und unter Beachtung der systemimmanenten Regeln erreichen bzw. allen, die diese Mythen verinnerlichen und ihr Leben danach ausrichten, wird das Heil quasi garantiert. Geht etwas schief, d.h. das Ziel wird nicht erreicht, dann liegt es am Versagen des Einzelnen, der sich entweder als Ungläubiger (Abweichler, „Ketzer“) oder als Versager erwiesen hat, der nicht in der Lage ist oder der es ablehnt, die Anforderungen des „Rechten Weges“ zu erfüllen. Den Ungläubigen drohen der Ausschluss aus dem System und die „Vertreibung aus dem Paradies“.

 

So liegen auch der Religion des Kapitalismus - der Vision, durch Anhäufung materieller Werte sich das Heil zu sichern - Mythen zugrunde, von denen ich zwei nennen möchte, die sich in der Praxis als sich gegenseitig ergänzende und unterstützende Mythen herausgestellt haben:

 

  1. Die Armen sind an ihrem Schicksal selbst schuld bzw. Armut ist Strafe Gottes und Reichtum ist ein sichtbares Zeichen der Auserwählung Gottes
  2. Wer sich anstrengt hat Erfolg und kommt zu Reichtum. Dieser Weg basiert auf dem Recht des Stärkeren, der Nächste wird als Konkurrent wahrgenommen.

 

Die erste Annahme wird meistens als calvinistische Lehre dargestellt. Nach dieser Lehre ist der durch Fleiß und Anstrengung erworbene Reichtum ein Zeichen für das Wohlwollen Gottes, ein Vorgriff auf die endgültige Belohnung im Himmel. Umgekehrt gilt: wer es im Leben zu „nichts“ gebracht hat (Maßstab sind materieller Wohlstand, Erfolg oder auch Gesundheit), muss wohl ein Sünder sein, der den Zorn Gottes herausgefordert hat und der nun seine gerechte Strafe erleidet - sichtbar für alle und ebenfalls als Vorgriff auf die endgültige Verdammnis. Mit dieser Lehre wird u.a. der wirtschaftliche Aufschwung des protestantischen Nordens Amerikas im Vergleich zum katholischen Süden Amerikas begründet. Doch diese calvinistische Lehre ist de facto auch Grundbestand „katholischer Realpolitik“ - zumindest in den vergangenen Jahrhunderten. Sie ist heute mehr denn je Grundlage fast aller meist nordamerikanischer – oft fundamentalistischer – Sekten (die in LA sehr stark sind).

 

Ein Beispiel mag dies illustrieren: Auf dem Weg von Bambamarca in eine abgelegene Comunidad traf ich auf einen Campesino, mit dem ich ins Gespräch kam. Er hatte einen Radiorekorder geschultert, den er gerade in der Stadt gekauft hatte. Damit dies auch alle bemerkten, war die Lautstärke entsprechend hoch eingestellt. Voller Stolz erzählte er mir, welche Opfer er für diesen Kauf gebracht hatte und wie er nun in seiner Comunidad deswegen geachtet werden wird. Er lud mich spontan in seine Hütte ein, um mitzuerleben, wie sich seine Familie und Nachbarn freuen werden ob der neuen Erwerbung. Er hatte sieben Kinder, alle waren barfuß, ebenso seine Ehefrau. Um den Radiorekorder kaufen zu können, hatte er seine einzige Kuh verkauft. Der Mann erklärte mir auf meine Fragen, warum dieser Radiorekorder so wichtig für ihn war: Er wollte endlich auch als Mensch geachtet und anerkannt sein. Und er glaubte, wenn er etwas kaufen kann, was ansonsten nur die Weißen in der Stadt haben, wäre er bald auch wie einer von ihnen und er hätte allen bewiesen, dass er ein rechtschaffener Mensch sei und dass er Gott dafür dankbar sei, dass dieser ihn nun erhört habe.

 

Es handelt sich hier nicht um einen Einzelfall. Viele Untersuchungen und auch persönliche Erlebnisse mit den Campesinos bestätigen dies. (In Campesinogemeinschaften, die intensiver den Weg der neuen Pastoral von Bambamarca seit 1962 mitgegangen sind, sind solche Beispiele viel seltener anzutreffen). Es sind Folgen einer jahrhundertelangen Indoktrination und Entfremdung von den eigenen Wurzeln und Verlust der Identität) usw. Hier wird schon deutlich, was nun befreiende Evangelisierung bedeuten kann.  Aus dieser Sicht vieler Campesinos beruht die Vorrangstellung der Weißen auf deren Allianz mit dem allmächtigen Gott. Dieser Gott der Weißen erwies und erweist sich als stärker. Wie sollte es sonst möglich gewesen sein, dass die eigenen Götter gestürzt wurden, dass die Weißen so mächtig sind, dass sie scheinbar alles können und wissen und dass sie mit unendlichen Reichtümern und Fähigkeiten gesegnet sind? Sie selbst dagegen sind die Verlierer, die Götter haben sich von ihnen abgewandt und der Gott der Weißen ist nicht auf ihrer Seite, sondern gegen sie. Um den Zorn des allmächtigen weißen Gottes zu besänftigen, muss man ihm viele Opfer bringen.

 

Nach Jahrhunderten währender Unterdrückung haben viele Campesinos dies so verinnerlicht, dass sie sogar daran zweifeln, ob sie in gleicher Weise Mensch seien wie die Weißen. Denn Gott schenkt den Weißen alles, ihnen selbst aber wird alles genommen - so ihre alltägliche Erfahrung. Sie haben aus irgendeinem Grunde, den sie sich nicht erklären können, Schuld auf sich geladen und sind nun zu Armut und Knechtschaft verdammt - Gott wird schon wissen warum. Sie erfahren sich selbst als Sünder und als unwürdig, als zu nichts würdig und zu nichts fähig. Nur wenn sie ihr Schicksal demütig ertragen, haben sie die Chance, vielleicht doch noch das Wohlgefallen Gottes zu verdienen. Wenn nun aber ein Campesino bereits in diesem Leben es so weit gebracht hat, dass er etwas haben kann, was sonst den Weißen in der Stadt vorbehalten ist, so kann dies ein Zeichen dafür sein, dass er nun das Wohlgefallen Gottes gewonnen hat.

 

Etwas profaner gesagt: wenn ein Campesino etwas Bestimmtes kaufen kann, wenn er sogar in der Stadt wohnen kann, dann hat er Anteil am Leben der Weißen, d.h. er hat dann Anteil am eigentlichen Menschsein, an der Fülle des Lebens, die ihm als Indio, als Ausgestoßener des Systems, sonst vorenthalten bleibt. „Je mehr Dinge ich kaufen kann, desto mehr Mensch bin ich.“ Und genau dies ist das grundlegende Dogma des Kapitalismus, der notwendigerweise auf permanente Erweiterung seiner Herrschaft ausgerichtet ist. Nur wenn ich Geld habe, kann ich meiner Bestimmung als Verdammter und Ausgestoßener entkommen und zu einem anerkannten Jünger und zu einem Weltbürger mit dem ihm zustehenden Rechten werden.

 

Der gewaltsame Einbruch der Europäer hat das Weltgefüge der Indios so durcheinander gebracht, dass sie die Religion der Europäer akzeptiert haben, ohne sie je zu verstehen. Die europäischen Missionare mögen die beschriebene Lehre den Indios so nicht vermittelt haben, in der Praxis haben die Einheimischen aber die Herrschaft der Europäer so erfahren wie geschildert. Zudem ist festzuhalten, dass es nicht zuerst die Worte sind, die Menschen überzeugen, sondern die Taten. In diesem Sinne waren die Eroberer mit ihren Gräueltaten die eigentlichen Missionare, die Verkünder der Botschaft von der Einzigartigkeit der Europäer und ihrer Religion. Und diese Auffassung von Religion konnte umso mehr Fuß fassen, je öfter die offiziellen Vertreter dieser Religion an dem Tisch der Mächtigen gesehen wurden bzw. diese als eine Einheit oder gar als identisch mit den Sklavenhaltern wahrgenommen wurden.

 

Wie an diesem Beispiel des Campesinos gezeigt werden kann, verschmelzen sich die beiden Grundprämissen der neuzeitlichen Religion: der Arme ist selbst schuld, die Armut ist eine gerechte Strafe Gottes und wer sich im Konkurrenzkampf durchsetzt und Erfolg hat, hat Anteil an der Kultur und Zivilisation der Sieger. Die Verschmelzung der beiden Ursprungsmythen fand ihre Konkretisierung in der Allianz der Kirche mit den Mächtigen auf Kosten der Indios (und Afrikaner, Asiaten). Dabei ist es unwichtig festzustellen, was zuerst da war: der Mythos als erfundene Rechtfertigung der Herrschaft oder eine Praxis der Herrschaft, aus der heraus ein entsprechender Mythos entwickelt wurde.

 

Diese beiden Mythen können als die beiden Grundsakramente des Kapitalismus bezeichnet werden, analog zu den beiden Grundsakramenten der katholischen Lehre, der Taufe und der Eucharistie. Deren Annahme und Akzeptanz ist die Vorausbedingung für die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, denen das Heil zugesagt ist. Das Annehmen der Botschaft führt zu einer bestimmten Praxis und zu einer Orientierung an Lebensinhalten und Lebenszielen, die von der jeweiligen Wertegemeinschaft vorgegeben werden. Im Falle des Kapitalismus sind dies die schon erwähnten Fixierungen auf äußerlich messbaren Erfolg und auf materielle Werte mit ihren jeweiligen austauschbaren Symbolen. Diese Werte gewinnen aber nur dann ihre eigentliche Bedeutung, wenn sie öffentlich dargestellt oder gar öffentlich zelebriert werden können. Einfacher ausgedrückt: der Kauf eines bestimmten Markenartikels kann das sichtbare Zeichen der Anteilhabe an den Segnungen des Systems, also eine sakramentale Handlung, sein - vergleichbar mit der Anteilhabe an der Gnade Gottes.

Im Folgenden werden beispielhaft fünf Heilsverheißungen des Kapitalismus in ihrer Konkretisierung am Beispiel der Goldminen von Cajamarca vorgestellt und auf dem Hintergrund der Erfahrungen in Cajamarca hinterfragt.

 

1. „Die Bergbauunternehmen (wie alle Unternehmen) dienen der Entwicklung der Region, in der sie tätig werden“. In Cajamarca wurde den Comunidades versprochen, dass sie durch die Investitionen der Mine die Chance erhielten, Anschluss an die moderne Zeit zu finden. Neue Straßen, Schulen, Arbeitsplätze usw. wurden für die Campesinos in Aussicht gestellt. Um beim Beispiel des erwähnten Campesinos zu bleiben: durch das Auftreten der Minengesellschaft können nun bald viele Campesinos einen Radiorekorder kaufen. Dadurch werden sie im eigentlichen Sinne zu modernen Staatsbürgern. Es ist ein Grundprinzip von staatlicher Entwicklungshilfe, möglichst vielen Menschen den Zugang zum Weltmarkt zu verschaffen, d.h. dass sie ihre Produkte – auch Lebensmittel – verkaufen, um dadurch die Mittel zu erhalten, an den Segnungen der Zivilisation teilhaben zu können. Jede deutsche Bundesregierung hat bisher damit ihre Entwicklungshilfepolitik begründet. Eine solche Politik liegt selbstverständlich auch im Interesse der deutschen Wirtschaft, die existentiell auf den Export angewiesen ist.  Nach dieser These können logischerweise alle diejenigen, die z.B. gegen die Ausweitung der Minentätigkeiten und für mehr Umweltschutz eintreten, leicht als „Feinde des Fortschritts“ gebrandmarkt werden, die letztlich das Wohl der Gesamtheit aus klein kariertem Denken heraus gefährden.

 

2. „Die modernen Bergbauunternehmen liegen auf die Erhaltung der Umwelt größten Wert“. In Wirklichkeit gilt: Die Zerstörung der Natur ist der Preis für diese Art von Fortschritt. (Nachhaltigkeit – „Grüner“ Kapitalismus?)

 

3. „Die Investitionen von Unternehmen schaffen neue Arbeitsplätze“. Die Erfahrungen in allen Teilen der Welt sprechen dafür, dass Unternehmen nicht zuerst das Wohl oder die Arbeitsplatzsicherheit der Beschäftigten im Auge haben. Vielmehr zeichnet sich ein erfolgreiches Unternehmen gerade dadurch aus, dass es mit möglichst wenig Personal ein Höchstmaß an Effizienz erreicht und von den Beschäftigten werden als besondere Tugenden Flexibilität und bedingungslose Leistungsbereitschaft erwartet.  Auch der Goldabbau bei Cajamarca wird mit der derzeit modernsten Technologie betrieben. Dies ist umso bemerkenswerter in einem sozialen Umfeld, in dem eine Masse von billigen Arbeitskräften zur Verfügung steht. In anderen Industrien (z.B. Textilindustrie) wird dies als Standort- und Wettbewerbsvorteil intensiv genutzt. (Investitionen in unterentwickelten Ländern sind meist von der Steuer absetzbar, weil sie angeblich Arbeitsplätze schaffen, in Wirklichkeit aber meist die einheimische Kleinindustrie und das Handwerk in den Ruin treiben; Arme Länder - genauer deren Oberschicht - buhlen gar um die Ansiedlung großer Unternehmen mit dem Argument der billigen Arbeitsplätze - u.a. Kinderarbeit - und der niedrigen Sozial- und Umweltstandards). 

 

4. „Wenn die Unternehmen gute Gewinne machen, kommt dies allen Menschen, besonders aber den Armen zugute“. Diese Verheißung ist eine der ältesten Verheißungen, und sie stand bereits am Anfang der industriellen Revolution. Mögen bei Adam Smith vor dem anbrechenden industriellen Zeitalter noch humanitär - liberale Motive eine Rolle gespielt haben, so ist die ständige Wiederholung dieses Dogmas angesichts steigender Armut und zunehmender „Freisetzung von Arbeitskraft“ purer Zynismus. So wurden z.B. den Campesinos dreißig Dollar pro ha Land angeboten. Dieses Angebot war begleitet von der Drohung, wenn sie ihr Land nicht verkaufen, würde es vom Staat ohne Entschädigung enteignet werden, denn die Gesetze seien auf der Seite der Mine. Zudem wurde den Campesinos dieser Comunidad versprochen, dass alle in der Mine Arbeit finden würden, wo sie viel mehr verdienen würden als je zuvor.

 

Die Campesinos verkauften ihr Land. Doch nur acht Campesinos fanden Arbeit in der Mine (Straßenbau) - ohne Arbeitsvertrag, einem Subunternehmer ausgeliefert, Essen und Unterkunft mussten teuer bezahlt werden, der Lohn wurde in Essensgutscheinen ausgezahlt, eine Versicherung wurde trotz Versprechen nicht abgeschlossen. Dann wurden sie nach 18 Monaten Arbeit ohne Urlaub und ohne jede Bezahlung entlassen, die Schulden wurden ihnen wenigstens großzügig erlassen. Durch die harte Arbeit in über 4.000 m Höhe und einer nicht ausreichenden Verpflegung, vor allem Mangel an Flüssigkeit, sind viele krank geworden, ein Arzt ist für sie nicht erreichbar. Heute leben über die Hälfte dieser Familien am Stadtrand von Cajamarca im Elend und auch die übrigen Familien leben in größerer Armut als zuvor.
Selbstverständlich gibt es auch einige Familien in Cajamarca und sogar einige wenige Campesinos, die durch die Anwesenheit der Mine profitiert haben. Solche Beispiele werden dann immer als Beleg dafür herangezogen, dass der Mythos tatsächlich funktioniert und kein Mythos ist, sondern Realität. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der erfolgreiche Campesino XY eben clever war: leistungsbereit, flexibel, aufgeschlossen für die Moderne etc., während die anderen eben nicht ihre Chance zu nutzen wussten.

 

5. „Die Unternehmen legen Wert darauf, zu den Kommunen und Bürgern gute Kontakte zu pflegen und das soziale und kulturelle Leben der Bürgerschaft zu fördern“. Dieser Mythos wird besonders in der nordamerikanischen Gesellschaft gepflegt. Dies geschieht in engem Kontakt mit den Honoratioren der Stadt und der Kirche, durch Stiftungen an Schulen (Computerausrüstung), an die Kirche (Bischof) und an das Krankenhaus (neue Geräte). Es werden kulturelle Events gesponsert, die Medien wissen dies zu würdigen. Deshalb hat die Mine einen guten Ruf bei den einflussreichen Familien der Stadt. Einladungen, Empfänge mit den ausländischen Ingenieuren sind glanzvolle gesellschaftliche Ereignisse.

 

Die Campesinos gehören wohl nicht zu den Bürgern, mit denen man gute Kontakte pflegen muss. Als die Präsidentin der nationalen Kommission für Menschenrechte die Campesinos besuchte und kurz danach Augenzeugenberichte der Campesinos im TV-Programm in Lima erschienen, wurden wenigstens einige Bürger in Cajamarca wachgerüttelt, denn was die Campesinos zu berichten hatten, war ihnen nicht bekannt, obwohl dies täglich vor ihrer Haustür geschieht.  „Sie sagten mir, ich solle das Land verkaufen, aber ich wollte nicht. Sie sagten, wenn es nicht im Guten geht, dann eben auf die andere Tour. Das Land gehört euch nämlich gar nicht, denn alles Land, das für Minen geeignet ist, gehört dem Staat“. „Ein anderer sagte mir: ‚Verkauf mir dein Land“, doch ich sagte ihm: ‚Ich kann das nicht, Herr Ingenieur, denn darauf halte ich meine Tiere, ich tue dies, damit ich meine Kinder ernähren kann’ und ich weinte in seinem Büro. Doch er sagte mir nur: ‚Also gebe ich dir gar nichts, wenn du unser Geschenk nicht annimmst, dann bekommst du eben gar nichts’

 

Vergleich von kirchlichen und kapitalistischen Mythen

Unter „kirchlich“ wird die über Jahrhunderte von der Kirche praktizierte Politik im Bund mit den Herrschenden verstanden. Der folgende Vergleich bezieht sich darauf. Es geht hier vor allem um das vergleichbare Nichtwahrnehmen der Realität von den Armen her und dem Bestehen auf absoluten Prinzipien, z.B. dass Arme „den Gürtel enger schnallen“ sollen „um des Himmelreiches willen“.

 

Mit diesen Grundannahmen sind fundamentale Einstellungen zur Rolle des Menschen (Menschenbild), der Sicht und Deutung der Welt (Weltanschauung), zur Frage nach Leben und Tod, Sinn des Lebens usw. verbunden. Darüber gilt es zu streiten, sich auseinander zu setzen, sich hinterfragen und zwingen zu lassen, seine eigene Anschauung rational, d.h. sachgerecht und praxisnah, zu begründen. Werden jedoch die Grundannahmen zu unantastbaren, unveränderlichen oder göttlichen Heilswahrheiten erhoben, ist ein rationaler Dialog nicht mehr möglich, bestenfalls „ein zur Kenntnis nehmen“. Der Mythos hat seine „rationale“ Begründung in dem Willen derer, die eine bestimmte Wirklichkeit so wahrnehmen wollen, wie es ihnen am meisten behagt oder am ehesten zum Vorteil gereicht. Auf diese Weise kann diese bestimmte Wirklichkeit niemals Gegenstand der Kritik sein und es kann auch kein Wahrnehmen einer anderen Wirklichkeit geben, weil es diese ja gar nicht geben darf oder geben kann. (Göttliche Ordnung bzw. „keine Alternative“  > kein Dialog möglich, siehe Papst Ratzinger etc.).

 

So wird auch der real existierende Kapitalismus als die einzig denkbare Art und Weise der Weltgestaltung und des Zusammenlebens der Menschen betrachtet. Dies geschieht umso mehr, als eine scheinbare Alternative kläglich gescheitert ist. Jede Alternative zu diesem System wird, weil als absurd geltend, erst gar nicht mehr diskutiert. Die Sieger sprechen stetig von ihren Erfolgen und können so gar nicht mehr wahrnehmen, dass die Zahl der Verlierer zunimmt. Wer davon spricht, dass die Armen selbst schuld an ihrem Elend sind, der kann dann nicht mehr die eigentlichen Ursachen des Elend wahrnehmen, geschweige denn die Armen als Subjekte verstehen - z. B. die Mutter, die um fünf Uhr morgens aufsteht, Wasser am Fluss holt, Wäsche wascht, Brennholz sucht, auf den Markt geht, um drei Tomaten zum Kauf anzubieten und die sich um 22 Uhr todmüde auf ihre Matratze aus Stroh legt und daran denkt, was sie ihren Kindern morgen zum Essen geben kann.

 

Eine weitere Version eines derartigen ideologischen Diskurses ist die Politik, nach der die armen Menschen der armen Länder ihre Gürtel enger schnallen müssen, damit sie fit gemacht werden können für den Wettbewerb in der globalen Gesellschaft, um so einen Weg aus ihrer selbstverschuldeten Armut zu finden. Dahinter steht die Auffassung, dass erst einmal Reichtum angehäuft werden muss, damit die Armen eine Chance erhalten, zu Arbeit und Brot zu kommen. Wenn es nämlich z.B. mehr Autos auf den Straßen gibt, dann gibt es auch mehr Möglichkeiten für Straßenkinder, im Stau vor der Ampel die Scheiben der Autos zu putzen und damit Geld zu verdienen. Gleichzeitig bekommt das Kind das Bedürfnis vermittelt, selbst einmal in einem solchen Auto sitzen zu können, weil man nur dann wirklich Mensch ist. Und wenn das einfache Volk erst einmal etwas Geld hat, dann gibt es auch mehr Möglichkeiten, dieses Geld auszugeben, was wiederum z.B. der Unterhaltungsindustrie und der Freizeitindustrie zugute kommt, die dann ebenfalls mehr Arbeit bieten. So entsteht ein Kreislauf, der immer mehr Menschen in Brot und Arbeit bringt und der damit zu einem steigenden Wohlstand für alle führt.

 

Verkünder dieser Frohen Botschaft sind u.a. der IWF und die Weltbank, die den armen Ländern Strukturanpassungsmaßnahmen vorschreiben, nach denen zuerst alle sozialen Programme gestrichen werden müssen, damit es später allen besser geht - falls sie es überlebt haben. An diesem Gesetz geht kein Weg vorbei, denn die Wirtschaft funktioniert nach den Gesetzen des Marktes und der ist blind, er ist wertneutral. Wer gegen den Markt handelt, geht unter. Dies wird als ein unumstößliches Naturgesetz hingestellt. Damit wird jeder Versuch, dieses Modell zu hinterfragen oder gar von den Opfern her zu deuten, als Wahnsinn betrachtet, d.h. es ist der Kritik entzogen: IWF dixit! (Der IWF hat gesprochen - ex catedra!).

 

Oberflächlich betrachtet geht es z.B. darum, dass die Banken möglichst lange viele Zinsen kassieren wollen, dass man die Armen unter Kontrolle behalten und die armen Länder reif für rentable Investitionen machen will. Auch der Nachweis, dass die verschuldeten Länder schon längst mehr an Zinsen zurückbezahlt haben als sie je an Kredit erhalten haben und trotzdem auf immer höheren Schulden sitzen bleiben, wird mit dem richtigen Hinweis begegnet, dass es um das Prinzip gehe. In der Tat ist es dieses Prinzip, das über allem steht, das verabsolutiert wird und das als die Wahrheit schlechthin verkündet wird. Im Grunde geht es möglicherweise um etwas ganz anderes: um die endgültige und gewaltsame Etablierung einer neuen Weltordnung im Dienste des Kapitals unter der alleinigen Führung der USA (weil man es den Europäern nicht zutraut).

 

Standardsatz christlich-abendländischer Theologen im 16. – 17. Jh.: „Damit sind die Bergwerke bei diesen Barbaren eine gute Sache; denn Gott hat sie gegeben, damit sie ihnen Glauben und Christenheit brächten - den Fortbestand in ihr und zu ihrer Rettung“. In diesem Satz gehen in idealtypischer Weise die beiden Mythen ineinander über. Gemäß dieser Logik dürfen sich die Menschen des Irak darüber freuen, dass ihnen Gott Erdöl geschenkt hat. Deswegen kommen nun die christlichen US-Amerikaner und bringen ihnen Freiheit und Demokratie. Ohne die Anwesenheit und die Religion der Europäer - heute: die Goldminen mit ausländischen Kapital und Knowhow - würden die Barbaren wieder dem Götzendienst verfallen, d. h. heute aus der Sicht des Totalen Marktes: Subsistenzwirtschaft, staatliche Programme zur Sicherung der Grundbedürfnisse, Vorrang der Grundnahrungsmittel, kostenlose medizinische Grundversorgung, etc.).

 

So kann García de Toledo über Las Casas schreiben: „Deshalb nahm sich der Teufel diesen Ordensmann zu seinem Werkzeug, damit er die Minen und Schätze verstecke“. Und der aktuelle Bischof von Cajamarca darf im Namen der Kirche über seinen Vorgänger, den „Bischof der Indios“ sagen, dass dieser die Indios um das ewige Heil gebracht habe, weil sie bei ihm das Beten vergessen hätten. Dagegen würde er selbst sich wirklich um das ewige Heil der Indios kümmern, weil er ihnen die Möglichkeit gebe, regelmäßig die Sakramente empfangen zu können. Es sind die von oben - sei es von den Verkündern des freien Marktes, sei es von den Verkündern der reinen Lehre - gewährten Sakramente, die den Gläubigen das Heil garantieren.


 

II.) Der Glaube und die Kultur der Menschen in den Anden

 

Jede Kultur ist das Produkt verschiedener Einflüsse. Wenn hier auf wesentliche Unterschiede zur europäischen Kultur und Religion hingewiesen wird, dann nicht im Sinne einer Abgrenzung. Vielmehr soll angesichts der Übermacht eines universellen Anspruchs der abendländischen Tradition die Andersartigkeit der andinen Tradition als eine Wirklichkeit dargestellt werden, die das Leben der Menschen noch heute - oft verfremdet und rudimentär - bestimmt. Puebla: „Mit Kultur wird die Art und Weise bezeichnet, wie die Menschen eines Volkes ihre Beziehung untereinander, mit der Natur und mit Gott pflegen, um ein wahrhaft menschenwürdiges Leben führen zu können“:

 

Zwei Anmerkungen bzw. Vorbemerkungen:

 

a)  Es wird meist als selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Christentum als eine europäische Religion betrachtet wird. Dabei wäre eine Untersuchung über die geglückte oder nicht geglückte Inkulturation des Evangeliums als Zeugnis einer vorderasiatischen Religion in Europa vermutlich dringlicher und spannender als die entsprechenden Untersuchungen in Bezug auf Amerika. Dabei könnte die Frage aufgeworfen werden, ob das Evangelium dem Verständnis der indianischen Völker nicht viel näher als den Völkern Europas ist und ob daher das Evangelium nicht auf dem „Umweg“ über die nichteuropäischen Völker den Europäern verständlich gemacht werden könnte, selbstverständlich unter Beachtung interkultureller Kriterien.

 

b)  Zum real existierenden Rassismus in Lateinamerika (Indigene). Was hier als Rassismus bezeichnet wird, hat seine tieferen Wurzeln und muss im Zusammenhang der europäischen Kosmovision gesehen werden: der abendländischen, griechisch-christlichen Tradition in Philosophie und Theologie. Seit ihrem Entstehen vor mehr als 2.500 Jahren begreift sich diese Weltanschauung insofern als eine totalitäre Weltanschauung, als sie andere Sichtweisen und Erfahrungen fremder Völker als „barbarisch“ bezeichnet und daher nicht als dialogfähig anerkennt. Der Andere wird in seiner Andersheit geleugnet und umgekehrt ergibt sich daraus automatisch ein Anspruch auf universelle Gültigkeit, die dazu führt, den Anderen nicht nur nicht anzuerkennen, sondern ihn noch nicht einmal als solchen wahrnehmen zu können. Er ist schlichtweg entweder nicht existent oder wird vereinnahmt und zwangsweise in die eigene Welt integriert. Ist es noch relativ leicht nachzuweisen und einzusehen, dass die Eroberer und die meisten Missionare den Indio nicht als gleichwertigen Menschen mit eigener Kultur, Würde und Identität wahrnehmen konnten, so fällt die Einsicht, dass sich dies bis heute möglicherweise nicht sehr geändert hat, wesentlich schwerer. Philosophie und Theologie fällt es nicht leicht, nichteuropäische Entwürfe als gleichwertig anzusehen oder gar von ihnen zu lernen. Da gleichzeitig der Faktor der Abhängigkeit weitgehend unberücksichtigt bleibt, kann man nur schwer erkennen, dass die von Europa ausgehende realpolitische und wirtschaftliche Eroberung der Welt als konsequente Weiterführung einer totalitären Weltanschauung gedeutet werden kann.

 

In den abgelegenen Zonen der Anden kann man auch heute noch den Ausspruch hören: „Ich bin doch ein Christ“. Ein Christ zu sein bedeutet für ihn, Kultur und Rechte zu haben, sowie die Möglichkeit, in der Stadt leben zu dürfen und alles das haben und sein zu können, was ein „zivilisierter Mensch“ - gleich Christ - als selbstverständlich besitzt. Der christlichen Verkündigung scheint es gelungen zu sein, Menschsein mit Christsein gleichzusetzen, sowie Christentum mit Kultur und Religion schlechthin. Außerhalb des Abendlandes gibt es kein Menschsein - so ist zumindest die Erfahrung und die Interpretation der Adressaten dieser Botschaft. Eine ganz bestimmte Weltauffassung, die in einer kleinen Ecke dieser Welt entstanden ist, wird zum absoluten Maßstab erhoben. Die Erfahrungen der Chinesen und der Mayas werden dann bestenfalls als Objekte studiert und der Indio und seine Welt werden bestenfalls zu einem Gegenstand, den man gesehen haben muss, um als moderner Weltbürger zu gelten.

 

Die räumlich und zeitlich begrenzten Erfahrungen bestimmter Menschen in einer bestimmten Gegend dieser Welt können aber nicht für alle Welt verbindlich gemacht werden. So haben z.B. bestimmte Voraussetzungen der abendländischen Geistesgeschichte wie die Trennung von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Diesseits und Jenseits, heilig und profan etc. für die Menschen der Anden keine Bedeutung und erscheinen gar als unsinnig, weil sie den Jahr-tausende alten Erfahrungen dieser Menschen widersprechen. Die europäischen Konzepte konnten nur mit Gewalt und im Gefolge der Sieger durchgesetzt werden, nicht durch Überzeugung. Erst die Anerkennung anderer Konzepte und Weltanschauungen als eigenständige und Sinn stiftende Kulturen ermöglicht einen echten Dialog und kann helfen, die Einschränkungen der eigenen Kosmovision zu erkennen und aufzubrechen.

 

Einige Grundelemente der andinen Kosmovision*

 

Ausgangspunkt der andinen Kosmovision ist die gelebte und erlebte Erfahrung der real existierenden Menschen und nicht zuerst ein Logos oder eine übernatürliche Offenbarung. Diese Erfahrungen werden gewonnen aus der Beobachtung der Natur und kosmischen Ordnung, von Krankheiten und Ursachen des Todes und der Art und Weise des Zusammenlebens. Diese Erfahrungen sind existentiell. Sie sind nicht zuerst von der Vernunft vorgegeben oder vordefiniert. Der andine Mensch hat zu diesen Erfahrungen einen überwiegend emotionalen Zugang. Rein objektive Erfahrungen kann es nach seinem Verständnis gar nicht geben, denn jede Erfahrung ist gebunden an eine ganz konkrete Wirklichkeit, die wiederum von z.B. so zufälligen Gegebenheiten wie Klima und Geographie abhängig ist. Aus den gemeinsam erlebten Erfahrungen bildet sich ein kollektives Bewusstsein, das seinerseits dazu führt, neue Erfahrungen von diesem Bewusstsein her zu deuten und einzuordnen. Erfahrungen werden von der Wirklichkeit geprägt und sie helfen gleichzeitig, diese Wirklichkeit zu deuten.

 

Gemäß dieser Wirklichkeit zu leben und einen Sinn darin zu finden, ist vernünftig - in europäischer Begrifflichkeit ausgedrückt. Vernunft und Rationalität bedeutet für den andinen Menschen, in der Welt, die ihn umgibt, seinen rechten Ort zu finden. Die herausragende Aufgabe für jeden Menschen ist es, seinen je eigenen Platz im Rahmen einer größeren Ordnung und einer größeren Gemeinschaft zu finden und zu erkennen. Je mehr ihm das gelingt, umso weiser ist er. Weisheit und Wissen bedeutet nicht, durch intellektuelle Bemühungen sich abstraktes Wissen anzueignen, sondern im Strom der über Jahrhunderte angesammelten kollektiven Weisheit und Erfahrungen wie ein Fisch im Wasser zu schwimmen. Sein Zugang zur Wirklichkeit geschieht zuerst über die Sinne, auch über die üblichen fünf Sinne hinaus. Bildlich gesprochen (für Europäer bildlich, für die Campesinos real) hört der andine Mensch, „das Herz der Mutter Natur schlagen“ und er spürt auch, wenn sie leidet. Die kultische Feier ist die dichteste Weise, um die Wirklichkeit zu begreifen - nicht im europäischen Sinne von Erkenntnis, sondern als das Bewusstsein, Teil dieser Wirklichkeit zu sein - und sich als Teil einer größeren Gemeinschaft zu erleben.

 

Vielleicht der wichtigste Aspekt in der andinen Kosmovision ist die Erfahrung und Gewissheit, dass alles Existierende miteinander in einer Beziehung steht. Es handelt sich um das Prinzip der Relationalität. Die Beziehung ist die Basis für alles und das Gegenteil für die Beziehung ist das Nichts und nicht etwa das „Absolute“, das aus sich selbst heraus existieren könnte. Eine solche Weltsicht hat konkrete Folgen für die Auffassung von der Natur, vom Menschen und von Gott. Denn der gesamte Kosmos ist nichts anderes als Beziehung. Es gibt verschiedene Hauptachsen, die den Kosmos und die Wirklichkeit zusammenhalten: Oben und Unten als räumliche und Vorher und Nachher als zeitliche Achse sind die wichtigsten. Diese beiden Achsen sind nicht zu verwechseln mit den europäischen Vorstellungen von horizontal und vertikal. Für den andinen Menschen ist im Oben jeweils auch das Unten präsent, das Vorher im Nachher usw. Von daher ergibt sich, dass z.B. Tod und Leben keine unvereinbaren Gegensätze darstellen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Tod bedeutet immer auch das Entstehen von neuem Leben.

 

Es gibt grundsätzlich keine sich gegenseitig ausschließende Gegensätze, es gibt weder „das Böse“ noch „das Gute“; es gibt keine absoluten Wahrheiten, und nie ist etwas völlig falsch. Im alltäglichen Leben zeigt sich dies z.B. darin, dass ein Campesino nie strikt Nein sagt oder etwas völlig ablehnt. Eine strikte Verneinung bedeutet nämlich nichts anderes, als dass zu dem Verneinten keine Beziehung mehr möglich ist, was aber nicht sein kann. Es gibt nichts, was aus dem Netz der allgemeinen Verbundenheit herausfallen könnte. Die Knotenpunkte in diesem Netz heißen Chakanas. Sie gleichen Brücken, sie vermitteln und setzen die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit miteinander in Beziehung. Wichtige Knotenpunkte wie die Bergspitzen, der Blitz und der Regenbogen halten das Netz zusammen und symbolisieren den Zusammenhang zwischen „Unten und Oben“. Vor allem die Gipfel der Berge als Sitz der Apus (der Geister) haben eine große Bedeutung. Auf den Berggipfeln werden Kreuze aufgestellt, sie repräsentieren die Schnittstellen und verbinden die verschiedenen Bereiche des Kosmos.

 

Der Mensch ist in diesem Geflecht keine unverzichtbare, aber eine sehr wichtige Chakana. In ihm berühren und kreuzen sich verschiedene Bereiche der Wirklichkeit und er hat die Fähigkeit, mit allen Bereichen der Wirklichkeit Kontakt aufzunehmen. Jeder Mensch hat seinen ganz bestimmten Ort im kosmischen Geflecht und seine größte Aufgabe ist, diesen Ort so gut auszufüllen, dass er zu einer beständigen Brücke für andere und zu anderen wird. Gelingt ihm dies, gilt er als ein weiser Mensch und er hat Autorität. Aus dieser Verflechtung oder Beziehung zu allem Seienden ergibt sich, dass ihm das Seiende in allen seinen Erscheinungsformen nicht als etwas Fremdes gegenübertritt. Die Natur ist ihm nicht wesensfremd und er unterscheidet sich von ihr nicht wesensmäßig. Die Natur wird damit auch nicht zu einem Objekt und damit zur Beute des „überlegenen“ Menschen, sondern der Mensch wird zum Diener, zu einer Brücke, und je besser er diese Funktion ausfüllt, desto harmonischer lebt er in seiner Umwelt. Es ist für ihn selbstverständlich, dass er existentiell von der Natur abhängig ist - und entsprechend behandelt er sie.

 

Die Natur wird dem Menschen am Vertrautesten in der Mutter Erde, der Pachamama. Pachamama hat wie alle lebenden Wesen ihre ganz eigenen Bedürfnisse und Launen. Sie will gehegt und gepflegt werden, sie hat Durst, sie zürnt dem Menschen, der Mensch verdankt ihr sein Leben. Er ist aber nicht nur Hüter seiner Pachamama, sondern in dem Behüten und Kultivieren der Pachamama ist er zugleich Behüter aller Lebensgrundlagen für sich selbst und den gesamten Kosmos, die sich in der Pachamama bündeln - auch für die Tiere, Pflanzen und alle Phänomene der Natur. Dieses Kultivieren ist eine kultische Aufgabe, in christlicher Ausdrucksweise: es ist ein Gottesdienst. Die Natur als Ganzes ist ein lebendiger Organismus und der Mensch hat die Aufgabe, diesen Organismus nicht nur am Leben zu erhalten, sondern er ist auch für die Harmonie zwischen allen Bereichen verantwortlich. Leidet Pachamama, leidet der Mensch und leidet der Mensch oder die Beziehung der Menschen untereinander, dann leidet der ganze Kosmos. Bringt der Mensch die Harmonie durcheinander, dann können große Katastrophen die Folge sein.

 

Der Campesino kennt die unfruchtbaren Tage und die besonders fruchtbaren Tage der Mutter Erde. Er bittet sie um Erlaubnis, wenn er ihr etwas entnimmt und gibt dies wieder in symbolischer Gabe zurück. Tiere und Pflanzen sind Teil der Mutter Erde, sie sind die natürlichen Gefährten des Menschen. Dennoch kommt es immer wieder zu Störungen im Gleichgewicht der Natur. Dann hat der Mensch als Chakana die heilige Aufgabe, durch symbolische Handlungen im Rahmen einer Feier das Gleichgewicht wieder herzustellen. In der Feier und durch die Feier kann die aus den Fugen geratene Schöpfung wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. In dieser Aufgabe liegt die eigentliche Bedeutung des Menschen innerhalb der kosmischen Ordnung.  Was bedeutet es demnach, wenn die Natur zur Ware wird, zum Spekulationsobjekt, und man inzwischen auch das Erbgut der Mutter Erde patentieren kann und damit vollends zu deren „Eigentümer“ wird? Dies ist die logische Konsequenz einer Weltanschauung, die die Natur als ein feindliches Gegenüber versteht, das es zu besiegen und zu beherrschen gilt, analog zur Herrschaft des Menschen über die „Un-Menschen“.

 

Trotz der Bedeutung des Menschen ist der Mensch nicht Mittelpunkt oder gar die „Krone der Schöpfung“. Der Mensch als Individuum, das sich kraft seiner Vernunft aus den Verstrickungen mythologischer Mächte und den Fesseln der Natur emanzipiert, hat in der andinen Kosmovision keinen Platz. Besser gesagt: es kann dieses so verstandene Individuum gar nicht geben. Der Mensch findet seine Begründung nicht aus sich selbst heraus, sondern in der Beziehung zur Gemeinschaft der Menschen untereinander und mit dem gesamten Kosmos. Ein Mensch ohne Beziehung ist tot. Die Gemeinschaft ist seine Lebensgrundlage und die oben erwähnten Aufgaben kann er nur innerhalb und mit der Gemeinschaft erfüllen. Die Gemeinschaft ist das eigentliche Subjekt, die Beziehung ist der Ursprung von allem. Die Beziehung verleiht dem Menschen seine Identität. Diese Beziehung ist nicht nur eine Beziehung zwischen Personen und ist auch nicht nur als Beziehung zwischen Mann und Frau zu verstehen. Sie bezieht sich auf alles, was existiert, weil der Mensch ja Teil eines Netzes ist, das alle Bereiche umfasst. Wer sich aus dieser Einheit ausklingt, schadet der Gemeinschaft und setzt gar deren Überleben aufs Spiel.

 

Ausgehend von der Erfahrung und Gewissheit, dass alles Existierende miteinander in einer Beziehung steht, kann es auch nicht den konstruierten Gott der europäischen Philosophen geben. Die europäische Konzeption von Gott geht ja gerade davon aus, dass das Wesen Gottes darin besteht, dass Gott absolut transzendent ist, d.h. auch, dass er nicht auf Beziehungen, sei es zur Schöpfung insgesamt, sei es zu den Menschen, angewiesen ist und er vielmehr aus sich heraus existiert. Die Bibel sagt zwar etwas anderes, denn Gott ist Beziehung, in sich selbst und mit den Menschen. Doch hier soll gesagt werden, dass der Gott der Philosophen in der griechisch-christlichen Theologie oft die Oberhand über den biblischen Gott gewonnen hat und dass dadurch die Botschaft Jesu verdunkelt wurde. Die Botschaft Jesus dagegen hat wesentliche Berührungspunkte mit der andinen Kosmovision (Gemeinschaft, Schöpfung, soziale Verantwortung, Brot teilen etc.).

 

Wer und was nicht in irgendeiner Beziehung steht, existiert nicht. Das bedeutet aber für den andinen Menschen nicht, dass Gott mit dem Seienden oder z.B. mit der Natur gleichgesetzt wird, also nur als „immanent“ gedacht werden kann. Gott ist weder nur transzendent noch nur immanent. Wenn man aber schon aus einer europäischen Gewohnheit heraus katalogisieren möchte, dann ist Gott eher immanent, weil er eben Teil der Wirklichkeit ist, ohne selbst aber diese Wirklichkeit zu sein. Er repräsentiert aber diese Wirklichkeit, die als kosmische Ordnung erfahren wird. Von diesem Verständnis her lassen sich für die christliche Auffassung von Gott und der Welt drei Grundsätze ableiten, die für christliche Theologie und Glauben von höchster Bedeutung sind:  

 

  1. Die Welt (und jedes Teil von ihr) ist heilig, sie ist das „Sakrament des Göttlichen“.
  2. Die christliche Lehre von der Inkarnation – Menschwerdung Gottes - gewinnt von daher eine neue Bedeutung.
  3. Die Bedeutung von Gemeinschaft und sozialer Verantwortung für Mitmensch und Natur.

 

Jede Tätigkeit des Menschen hat automatisch eine sakrale Dimension. Wenn z.B. ein Campesino die Erde bearbeitet, dann steht er mit Gott und allen göttlichen Mächten des Universum in einer unmittelbaren Beziehung. Die Erde ist für ihn nicht nur eine Mutter, sie ist zugleich das Symbol des gesamten Universums und über seine Arbeit steht er mit dem gesamten Universum und damit auch mit allen Menschen in Beziehung. Schließlich bezieht er seine eigene Identität aus der Erfahrung, Teil eines sinnvollen und Sinn stiftenden Ganzen zu sein. Es gibt keine Trennung von profan und sakral, weltlich und überweltlich - und damit im christlichen Sinne von sozial und pastoral. Das bedeutet nicht, dass alles unterschiedslos gleichgesetzt werden kann. Es gibt bestimmte Zeiten, Orte und Tätigkeiten, die mehr das Profane oder das Sakrale hervorheben, aber dies geschieht nicht in Abgrenzung zum jeweils anderen, sondern in Einheit. In der andinen Kosmovision ist die christliche Vorstellung der „Fleischwerdung Gottes“ sehr nahe liegend: Himmel und Erde werden eins, Gott wird Mensch, und der Mensch hat dadurch Teilhabe am Göttlichen. Der leidende und mitfeiernde Gott ist für den andinen Menschen eine Realität, die im Alltag und jeden Tag neu erfahren wird.

 

Gott ist immer jemand (im bereits christianisierten Verständnis von Gott als Person), der mitleidet, mitfeiert und dem das Schicksal der Welt und des Menschen gar nicht gleichgültig sein kann. Denn wenn der Mensch leidet, leidet auch Gott. Auch von der andinen Kosmovision her lässt sich sagen: Jesus ist das Bild Gottes für den Menschen, als Mensch repräsentiert er Gott und Gott zeigt durch ihn, wie sein Verhältnis, seine Beziehung, zu den Menschen ist. Durch Jesus zeigt Gott den Menschen, dass er der Garant einer guten und gerechten Ordnung ist. Er garantiert, dass das Gleichgewicht und die Harmonie immer wieder neu hergestellt werden und dass damit die universale Gerechtigkeit (gerechter Austausch, Brot teilen am Tisch der Gemeinschaft und Teilhabe an allem) garantiert wird.

 

Reziprozität als weitere Grundlage andiner Kultur und Religion  

Seit Jahrtausenden und über verschiedene Kulturepochen hinweg existiert in den Anden das Prinzip der Reziprozität, des wechselseitigen Gebens und Nehmens. Es hat seine Grundlage in der wirtschaftlichen Notwendigkeit des Warenaustausches und der gegenseitigen Hilfe. Die geografischen Notwendigkeiten in den Anden führten dazu, dass bestimmte Produkte nur in einem eng begrenzten Raum angebaut werden konnten. Nicht weit davon entfernt wurden aufgrund anderer klimatologischer Bedingungen wiederum andere Produkte angebaut. Es kam notwendigerweise zu einem Austausch und einer Verteilung der Produkte auf der Basis einer freien Übereinkunft nach den Regeln von Angebot und Nachfrage - allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze, die nicht überschritten werden durfte. So war bei einem Ausfall der Ernte oder generell in Notzeiten der Austausch sozialisiert, d.h. sozial verträglich.

 

Im Interesse der Gesamtheit und im Einklang mit den natürlichen und göttlichen Kräften mussten Notleidende, die unverschuldet keinen entsprechenden Gegenwert liefern konnten, dennoch mit Gütern versorgt werden und der sonst übliche Tauschwert konnte symbolisch verrechnet und verbucht werden. Solche Gaben an Notleidende hatten denselben Stellenwert wie die Gaben an die Mutter Erde. Die Mitversorgung eines Waisenkindes war genauso notwendig wie der Dank an die Mutter Erde, deren Güter schließlich allen Menschen zur Verfügung stehen sollten. Auf dieser Basis konnte weder eine Comunidad, noch eine Großfamilie oder ein Einzelner in den Ruin getrieben werden. Es gab keine Insolvenz. Weil jeder lebendiger Bestandteil eines kreativen Netzwerkes war, konnte auch jeder - auch die alte Witwe und das Waisenkind - etwas beitra¬gen und einbringen. Unter einem Totalausfall (Hungerstod) hätte die gesamte Gemeinschaft, ja sogar der ganze Kosmos gelitten. Schon allein deswegen war es undenkbar, ein Mitglied der Gemeinschaft dem Hungerstod zu überlassen.

 

Geld oder vergleichbare Zahlungsmittel waren bis zur Ankunft der Spanier nicht bekannt. Gold diente nur zur Verehrung der Götter. Der Wert eines Produktes (im materiellen Sinne) und ei¬nes Geschehens (im rituellen und spirituellen Sinne) war daher unmittelbar erfahrbar und für alle transparent und einsichtig. Innerhalb der Comunidades war das Prinzip der gegenseitigen Verpflichtung die Grundlage des sozialen Zusammenlebens auf der Basis der erwähnten Sozialverträglichkeit. Das Prinzip der Reziprozität war das ethische Grundprinzip.

Wie wirkte die neue Religion auf die Indios?

 

Die von den Christen ausgehende Gewalt war für die Indios nicht fassbar, sie konnten deren Grund nicht verstehen und sie nicht „einordnen“. Es gab selbstverständlich auch vor dem Eintreffen der Christen Gewalt, Eroberungen und Kriege in den Anden. Aber selbst die schmerzlich erlittene Eroberung durch die Inkas war in den Augen der Eroberten ein Geschehen, das sie einordnen und innerhalb ihres bisherigen Weltbildes erklären konnten. Außerdem beließen die Inkas den Eroberten im Wesentlichen ihre Kultur, ihre Lebensgrundlagen (Landwirtschaft, soziale Organisation) und ihre Identität (Kultur, Religion – außer Inka als „Sohn Gottes“). Auch der Strafkatalog sah drastische Strafen vor, bis hin zur Verhängung der Todesstrafe. Doch diese Strafen und der Tod des Verurteilten standen in einem kausalen Zusammenhang und erfüllten innerhalb der indianischen Werteordnung einen „Zweck“: die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, der Harmonie zwischen Mensch und Gemeinschaft, Mensch und Natur, Mensch und göttlichen Mächten. Sie folgten dem andinen Prinzip des Gebens und Nehmens, nachdem jede von Menschen verursachte Störung der kosmischen Ordnung und der menschlichen Gemeinschaft als Spiegelbild der kosmischen Ordnung durch entsprechende Handlungen oder auch Opfer wieder gut gemacht werden musste.

 

Die von den Spaniern ausgehende Gewalt sprengte jedoch alle bisherigen Dimensionen und entzog sich sowohl kausalen Kriterien als auch dem Kriterium des Gebens und Nehmens. Die Indios mussten ohnmächtig erfahren, dass sie nicht einmal als Menschen betrachtet wurden, geschweige denn als gleichwertige Menschen. Vollends erschüttert wurde ihr Weltbild aber, als sie feststellen mussten, dass die Spanier ob ihrer Frevel und Gottlosigkeit offensichtlich nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, noch nicht einmal von ihren eigenen Göttern. Im Gegenteil: deren Götter schienen sie zu beschützen und zu belohnen. Die Spanier erschienen als „Wesen von einem anderen Stern“, im Bündnis mit göttlichen Mächten, die den eigenen Göttern wohl überlegen waren, denn sonst hätte ja nicht das alles geschehen können, was geschehen ist. Die Götter der Weißen erschienen den Indios auf diese Weise als noch nie erlebte Ungeheuer, denn sie belohnten offensichtlich die Ungeheuerlichkeiten der Weißen. Sie mussten aber bald anerkennen: diese Götter und deren Repräsentanten und Verkünder erwiesen sich als allmächtig, und ein Kampf gegen sie erschien aussichtslos. So blieb den Indios nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu ergeben und zu versuchen, sich mit den Eroberern und deren Göttern zu arrangieren bzw. sie gnädig zu stimmen.

 

Der Kolonialmacht in seiner Symbiose mit dem Christentum scheint es gelungen zu sein, auch die Seelen der Opfer zu kolonialisieren. Die Opfer der Geschichte übernehmen nicht nur die Werte der Sieger, sondern sie glauben sich nur dann Mensch, wenn sie selbst zu „Siegern“ werden. Selbstverständlich bestätigt und rechtfertigt dieses Verhalten die angebliche Überlegenheit der Herrschenden. Es sind die „Reliquien des Kapitalismus“ und die entsprechenden Statussymbole, die Indios und Weißen dann in gleicher Weise als erstrebenswert erscheinen: Anteilnahme an der Welt der Mächtigen vermittels bestimmter Waren und davon abgeleiteter Symbole. Auf dieser Ebene wird die Illusion der Gleichheit und Freiheit aller Menschen begründet und verkündet. Die eine Religion geht nahtlos in die andere Religion über, weil es sich offensichtlich um dieselbe Religion handelt: je mehr Besitz und Macht, je mehr gerechtfertigter Mensch - egal ob Indio oder Weißer.

 

Fazit

 

Die Prinzipien der andinen Religion und Kultur wurden entwickelt, gelebt und als heilsam erfahren im Kontext einer Gesellschaft, Kultur und Geschichte, die sich gemäß diesen Prinzipien entwickelt und die von daher ihre Legitimität erhalten hat. Eingebettet in diesen Kontext, erfuhr sich der Einzelne als getragen und akzeptiert. Die Fundamente und Ziele einer solchen Gesellschaft standen im Einklang mit denen des Einzelnen und umgekehrt. Dies war Identität stiftend, es vermittelte einen Sinn und gab Orientierung für die Bewältigung des Lebens und seiner Aufgaben. Doch diese Gesellschaft ist in ihrer Macht- und Sinnstruktur zerstört worden - nicht nur äußerlich, sondern auch in ihren tiefsten Fundamenten. Die Allmacht des weißen Gottes war so offensichtlich, dass die bisherige Auffassung von Gott und der Welt von den Indios zumindest in Zweifel gezogen wurde. Das Einbrechen einer neuen und als allmächtig erfahrenen Wirklichkeit schien dem Bisherigen keinen Raum mehr zu lassen. Die Indios wur¬den dadurch in ihrem innersten Selbstwertgefühl getroffen und tief verletzt. Derart aus der Bahn geworfen war die Versuchung groß, bei dem neuen Gott Zuflucht zu suchen. Es war unbegreiflich für die Indios, dass die Weißen offenbar nicht dem Prinzip der Rezipro¬zität unterworfen schienen, weder auf wirtschaftlicher, sozialer noch religiöser Ebene.

 

  • Auf wirtschaftlicher Ebene führten die neuen Herren u.a. die Zwangsarbeit ein (Bergbau, Landwirtschaft, Manufakturen). Diesen Terror bezahlten Millionen von Indios mit ihrem Leben. Die Indios mussten erkennen, dass die Weißen immer nur nahmen und nichts gaben - noch nicht einmal der Mutter Erde, der sie wertvolle Metalle raubten und diese nicht zur Verehrung der Götter brauchten, sondern zur Sicherung ihrer eigenen Macht. Die Christen wurden dafür augenscheinlich auch noch von ihren Göttern belohnt.
  • Auf sozialer Ebene wiederholte sich diese Beobachtung. Die Spanier zerstörten das Leben in der Comunidad, rissen Familien auseinander und zerstörten das über Jahrtausende ge¬wachsene Gleichgewicht und die für den Kosmos lebensnotwenige Harmonie zwischen allem Seienden - ohne dass der Kosmos deswegen einstürzte.  
  • Auf religiöser Ebene, auf der alle anderen Ebenen sich treffen, machten die Indios die Erfahrung, dass ihre eigenen Götter sie vor all dem nicht beschützen konnten und dass der Gott der Weißen so mächtig ist, dass den Weißen im Schutz und im Namen dieses Gottes eine geradezu übernatürliche Macht zukam. Gott beschützt die Weißen und belohnt sie mit allen Gütern dieser Erde. Deren Macht und Reichtum waren offensichtlich von Gott so gewollt. Als einzige Chance zum Überleben erkannten die Indios, dass sie sich diesem Gott und seinen Schützlingen bedingungslos unterwerfen mussten.

 

Konsequenzen für das Selbstbewusstsein, das alltägliche Verhalten und Fazit (vor befreiender  Evangelisierung)

 

  • Wenn der Campesino sich die Schuld an seinem Elend selbst gibt, dann wird er nur schwerlich nach Wegen suchen wollen und können, die ihn aus die¬sem Status herausführen könnten. Das Entscheidende ist aber, dass es nach seiner Auffas¬sung Gott selbst ist, dem er dieses Schicksal zu verdanken hat. Er ist arm, weil er vor Gott versagt hat bzw. weil seine eigenen Götter ihm nicht mehr helfen konnten. Das von Gott so gewollte und auferlegte Schicksal ändern zu wollen, wäre eine noch größere Sünde und würde nur noch mehr Unheil oder gar eine endgültige Verdammung zur Folge haben.
  • Vor diesem Hintergrund können die wahren Ursachen des Elends und der Ungerechtigkeit nicht erkannt werden, was aber gerade der erste notwendige Schritt wäre, um diese Bedingungen verändern zu können. Umgekehrt haben die Nutznießer dieser Situation kein Interesse an der Aufdeckung der Ursachen. Jeder Versuch, den Armen nicht nur Brot zu schenken, sondern mit ihnen die Verhältnisse ändern zu wollen, wird nicht nur politisch bekämpft, er wird gar als Sakrileg diffamiert.
  • Einen Ausweg scheint es doch zu geben: Da die eigene Identität nur als eine „sündhafte“, eine minderwertige und eine schuldbeladene Identität verstanden wird, die der Weißen und Erfolgreichen aber als eine von Gott gesegnete, ist der Weg vorgezeichnet: Sein wie der Weiße! Die Flucht vom Land in die Städte wird als eine Art von Menschwerdung ver¬standen, als Neugeburt. Wenn man in der Stadt lebt und am Leben der Weißen teilhaben kann, Anteile an deren Leben, deren Erfolg und Reichtum erlangen kann, dann wird man ein neuer Mensch. Erst dadurch - so der Glaube - kommt man zu sich selbst, gewinnt man die Achtung und den Respekt der Mitmenschen. Und erst dann kann man sich der Gunst Gottes sicher sein. Die Welt des Unterdrückers wird zum Modell, das es zu kopieren gilt. Die Welt, aus der man kommt, wird verachtenswert. Mit den Worten eines Katecheten ausgedrückt: „Der Eroberer hat nicht nur die andine Kultur und die Lebensgrundlagen ihrer Menschen zerstört, er hat auch von der Seele des Indios Besitz ergriffen. Er hat sich im Innersten des Indio eingenistet und ihn so endgültig besiegt“.

 

Es gibt Hinweise dafür, dass der Erfolg der neoliberalen Weltordnung gerade darauf basiert, die Seele der Völker zu zerstören und an ihrer Stelle eine neue Werteordnung zu etablieren, die ihrerseits die Menschen absolut beansprucht und die ohne Alternative erscheint. Sie be¬zieht ihre Legitimität von ihrem Erfolg, ihrer universalen Einzigartigkeit und dem damit ver¬bundenen Machtmonopol. Und auch diese neue Religion hat ihre Heiligen, ihre Heilsverheißungen, Sakramente (Heilszeichen), Kulte etc. Deren Verehrung ist Prinzip und Ziel dieser Religion.

* Für die Erklärung der Grundelemente einer Cosmovisión Andina waren mir die Studien von Josef Estermann: „Andine Philosophie – eine interkulturelle Studie zur autochthonen andinen Weisheit“ (IKO, 1999), eine große Hilfe.

Exkurs: Volksreligiosität (Papst Franziskus?) und spanische Volksreligiosität des 16. Jahrhunderts


 

III.) Befreiende Evangelisierung – Umkehr und Neubeginn                

Es war der 16. November, der Jahrestag der Gefangennahme von Inka Atahualpa und der ersten Begegnung der Menschen von Cajamarca mit der „christlichen Botschaft“. Etwa 100 Katecheten - Männer und Frauen aus den Landzonen der Diözese Cajamarca - saßen im Kreis auf dem Lehmboden. Sie waren nach Cajamarca gekommen, um zusammen mit Padre Juan die Eucharistie zu feiern. Es herrschte tiefe Dunkelheit. In der Mitte des Kreises war ein großes Tuch ausgebreitet. Außerhalb des Tuches lag wie weggeworfen eine alte Bibel im Staub, sie war kaum zu erkennen. Die Feier begann mit einer Gabe an die Mutter Erde, an die Kinder der Erde und deren Ahnen.

 

Zwei Katecheten baten Mutter Erde um Verzeihung für die an ihr begangenen Sünden und für das Versagen der Kinder dieser Erde untereinander. Die Gaben, Früchte der Erde und Cocablätter, wurden auf die vier Ecken (als Zeichen des gesamten Kosmos) des Tuches in der Mitte des Kreises verteilt. Nachdem auf diese Weise der sakrale Bereich (wieder) hergestellt war, wurde von einem Katecheten die Bibel vom Staub aufgehoben, wo sie über Jahrhunderte unbeachtet lag. Dann legte er die Bibel in die Mitte des Tuches und er zündete ein Licht an. Die Bibel wurde damit als Quelle des Lebens in die Mitte des sakralen Bereiches aufgenommen. Ein anderer Katechet trat nun barfüßig in die Mitte des sakralen Raumes, schlug die Bibel auf und las die Worte Jesu: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen die Gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Freiheit verkünde und die Blinden sehend mache; damit ich die Zertretenen aufrichte und eine Zeit der Gnade ausrufe“ (Lk 4, 18,19). Nach jedem der vier Sätze wurde ein neues Licht an je einer Ecke des Tuches - des sakralen Raumes - angezündet. Nach der Proklamation der Botschaft Jesu wurde das Licht an alle verteilt und sie begannen zu sprechen:

„Dank an Padre Juan, der Sämann war, der aussäte und dessen Saat auf fruchtbaren Boden viel, wo sie Wurzeln fasste, heranwuchs und dann reife Früchte trug. Padre Juan ging über das Land, war unermüdlich zu Fuß unterwegs; er fand Begleiter und daraus entstand eine starke Bewegung“. „Die Ahnen sind die Wurzeln und der Stamm, ohne die wir wie welke Blätter wären. Dank der Begegnung mit den Worten des Evangeliums beginnen aus dem trockenen Holz neue Keime zu sprossen, die uns helfen, die Weisheit unserer Ahnen nicht zu vergessen“. „Wir haben gelernt wieder zu respektieren, was unsere Ahnen respektiert haben: den Respekt vor unserer Mutter Erde und vor allen Söhnen und Töchtern dieser Erde!“ „Wir erarbeiten nichts Neues, wir bestätigen nur was war: den Respekt vor der Natur und den Mitmenschen. Diese Haltung ist für die Mächtigen ein Stein des Anstoßes“. „Die Bibel hilft, uns selbst zu entdecken, wer wir sind und wohin wir gehen“. „Lesen zu lernen, seine Geschichte und seine Herkunft zu entdecken, bedeutet, endgültig den Kolonialismus zu überwinden, d.h. nicht mehr sein zu wollen wie der weiße Eroberer, sondern stolz zu sein auf die eigene Identität“. „Die Bibel war nach Meinung von uns nicht für uns. Wir glaubten sogar, dass wir nicht das Recht hätten, mit unseren unreinen und schmutzigen Händen das Buch mit dem weißen und reinen Papier anfassen zu dürfen“. „Gott hat uns ausgesandt, mit den Bedürftigsten zu arbeiten, das ist unsere Mission“. „Das Beispiel von Jesu in Nazareth verpflichtet uns, seine Botschaft zu verkünden - auch wenn die selbst ernannten Frommen vor Wut außer sich geraten und uns in den Abgrund stürzen wollen“.

 

Seit dem 16. November 1532, als in Cajamarca Padre Valverde in der Begleitung von Francisco Pizarro dem letzten Inka Atahualpa die Bibel mit den Worten überreichte, dass sich die Indios von nun an den neuen Herren und ihrem Gott zu unterwerfen hätten und die Europäer dies dann auch mit Gewalt durchsetzten, war die Stimme der Indios zum Schweigen gebracht worden. Ihre Kultur und Religion, ihre Traditionen und Lebensformen wurden zerstört. Die Mehrheit der Bevölkerung wurde auch physisch ausgerottet. Nach verschiedenen Volkszählungen aus dem 17. Jh. überlebten nur etwa 1/10 der ursprünglichen Bevölkerung in den Anden die ersten 150 Jahre der Eroberung. Den Überlebenden wurde das Recht, ein Volk und eigenständige Menschen zu sein, verwehrt. Auch im Zeitalter der Demokratie wird der Mehrheit der Bevölkerung systematisch und systembedingt ein ausreichender Zugang zu Bildung, med. Versorgung und gesunder Ernährung verwehrt. Und in den letzten Jahren geht die Tendenz dahin, dass die Campesinos noch nicht einmal als potenzielle Konsumenten gebraucht werden. In der neuen Welt des entfesselten Marktes sind sie entweder schlicht überflüssig oder werden als bloßer Störfaktor wahrgenommen. Einige postmoderne Intellektuelle sprechen ihnen aber immerhin noch folkloristisches oder genetisches Potenzial zu, das es zu hegen und zu pflegen gilt.

 

Im Selbstverständnis der überlebenden Nachfahren der ursprünglichen Bevölkerung ist es von fundamentaler Bedeutung, eine Stimme zu haben und die Stimme erheben zu können. Dies ist ein Zeichen ihrer Existenz als Volk und als Menschen. Ihre Stimme erheben heißt in ihrem Sprachgebrauch, sich nicht mit dem Unrecht und der Gewalt abfinden, sondern ihre Rechte als Menschen einfordern. Es bedeutet für sie ein Stück Menschwerdung. Den höchsten Ausdruck, den die Campesinos dafür gebrauchen ist: „Somos gente“ (Wir Menschen, wir sind wer). Sie verbinden damit implizit Begriffe wie Menschenwürde, Gleichheit und Grundrechte für alle Menschen. Ihre Stimme erheben bedeutet, ihre Wurzeln als andine Menschen neu zu entdecken und ihre Zukunft selbst zu gestalten.

 

Beispiel der Minga:  Ausgehend von den Bedürfnissen der Cam¬pesinos ist es gelungen, wirtschaftliche Notwendigkeiten, Restbestände einer uralten Kultur und die Botschaft des Evangelium zu verknüpfen und auf dieser Basis einen Weg zu finden, der zu mehr Menschsein führt: zur Überwindung materieller Not und deren Ursachen und die Entdeckung der eigenen Würde. Beispiele von gemeinschaftlichen Arbeiten: gemeinsamer Kanalbau, Tauschhandel, alle Produkte sind für alle bestimmt, Kooperativen etc.  Der Boden gehörte allen. Die Menschen leben und arbeiten als Mitglieder eines Comunidad zusammen. Landwirtschaft und kunstvolle Bewässerungsanlagen werden gemeinsam betrieben. Das Wasser wird gleichmäßig verteilt, denn auch das Wasser gehört allen. Die Entdeckung der Werte der alten und ehemals eigenen Kultur ist für das Selbstbewusstsein der heute lebenden Campesi¬nos von großer Bedeutung. Entscheidend ist, dass in diesen wieder entdeckten Werten viele grundlegende Werte des Evangeliums enthalten sind: Solidarität, praktische und gegenseitige Hilfe, Leben in Gemeinschaft, Dienst an der Gemeinschaft. Die gemeinschaftliche Arbeit wird als ein Fest verstanden. Denn genauso wichtig wie die Arbeit sind das gemeinsame Es-sen, die Musik und der Tanz. Die gewonnene Einsicht, dass ihre Vorfahren eine Kultur und Lebensweise hatten, die in vielen Aspekten de¬nen der Eroberer überlegen war, ist deshalb für das Selbstverständnis der Campesinos wichtig. Denn eine Berufung auf die alten Traditionen wurde bisher von den Euro¬päern als Heidentum gebrandmarkt und den Campesinos wurde vermittelt, dass sie als „Wilde“ auf die Zivilisierung durch die Christen angewiesen seien.                        

 

Analyse (sozial und kirchlich)

Es wurde deutlich, dass die zentrale Botschaft des Christentums, der Glaube Jesu und die Lehre von Jesus dem Christus nicht im Mittelpunkt der religiösen Praxis stand, weder auf dem Land noch in der Stadt. Und auch die Verkündigung und Lehre der Kirche stellte nicht Jesus Christus in den Mittelpunkt. Im Mittelpunkt standen Äußerlichkeiten wie prunkvolle Prozessionen, festliche Opfergottesdienste und der „Lärm der Lieder und Trompeten“, letztlich aber der Klerus selbst als unentbehrlicher Zeremonienmeister.

 

Deutung:

  • Die soziale Situation der großen Mehrheit der Menschen widerspricht fundamental den Werten und der Botschaft des Evangeliums.
  • Eine Evangelisierung fand nicht statt, die Bibel blieb unbekannt. Daraus ergibt sich u.a. eine strikte Trennung von Glauben und sozialer Verantwortung.
  • Der verkündende Jesus und der verkündete Christus waren unbekannt – Menschwerdung und Auferstehung.
  • Die Kirche war erst Teil der kolonialen Struktur, danach eine Säule des Status quo.
  • Innerkirchlich gesehen war die Kirche weder strukturell, methodisch noch inhaltlich auf die Anforderungen der Zeit und auf die Bedürfnisse der Menschen vorbereitet – sie konnte und wollte diese noch nicht einmal sehen.  
  • Die Kirche musste ihren „Standort" wechseln, um Kirche Jesu Christi werden zu können.
  • Der „neue Geist des Konzils“ musste einziehen und Veränderung bewirken.  

 

Die vorgefundene Situation als eine Situation zu deuten, die „zum Himmel schreit“ (Medellín) hat neben der in jedem Menschen angelegten Disposition, sich selbst und seinen Mitmenschen als Ebenbild Gottes erkennen und achten zu können, noch eine weitere Voraussetzung: die Entdeckung der Bibel, die das notwendige Instrumentarium und die unerlässliche Orientierung liefert, um den Menschen - den Armen und denen, die mit den Armen gehen wollen - auf den rechten Weg zu verhelfen und ihn auf diesem Weg zu leiten. Haben die Campesinos erst einmal die Erkenntnis gewonnen, dass sie als Kinder Gottes genauso viel wert sind wie andere Menschen, dass Jesus Christus in ihrer Mitte geboren wurde und mit ihnen lebt, dann brauchen sie nicht mehr viele Erklärungen und Begründungen. Sie haben diese ihre neue Erkenntnis so verinnerlicht, dass sie wie selbstverständlich die bestehenden Missstände als unvereinbar mit dem Willen Gottes deuten und sie deshalb zu überwinden suchen.

 

Die  Re – Evangelisierung  (nicht zu verwechseln mit römischer Deutung…..)    

 

Entscheidende Voraussetzung für jede Evangelisierung und jeden Dialog ist der absolute Respekt vor dem Gegenüber. Evangelisierung bedeutet daher, zuerst sich selbst bewusst werden, in welchem Kontext man lebt. „Die Armen evangelisieren uns“. Dieses Hören auf den Anderen als Offenbarung des ganz Anderen kann in seiner religiösen und theologischen Dimension hier nur angedeutet werden. Vergleichbar ist dieser Prozess mit dem Erkenntnisprozess der Jünger von Emmaus: „Weil ihr Herz brannte“ waren sie fähig, die Worte des Fremden zu hören und zu verstehen. Und sie kamen vollends zur Erkenntnis des Fremden, als sie miteinander das Brot teilten. Beim Brot teilen gingen ihnen die Augen auf. Auf die pastoralen Mitarbeiter bezogen bedeutet dies, dass sie erst dann ihre Aufgabe und ihre Mission klar erkennen konnten, als sie bereit waren, das Brot der Armen auch tatsächlich mit ihnen zu teilen und in ihrer Hütte auf dem Lehmboden zu übernachten.

 

Die neue Evangelisierung in Lateinamerika geht von dem Armen aus, dem unter die Räuber Gefallenen, dem Anderen als eigenständiges und gleichberechtigtes Subjekt. Sie hat die Ankündigung des Reiches Gottes und die damit verbundene Umkehr als Ziel, sowie ein neues Leben in einer neuen Gemeinschaft. In dieser Evangelisierung bringt sich der Verkünder existenziell mit ein, er wird dadurch ein anderer, er wird selbst evangelisiert. Jeder Getaufte hat den Auftrag zur Verkündigung, jeder Christ ist berufen, die Botschaft Jesu zu verkünden.

Von einem „Gott der Weißen“ zu einem „Gott mit uns“

 

Der Umbruch und der Neubeginn lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Umbruch bestand in der Ablösung der alten Religion durch eine Bewegung, in der Jesus Christus der Maßstab war. Das entscheidend und unterscheidend Christliche ist eben, sowohl den Glauben Jesu als auch den Glauben der ersten Christen an Jesus den Christus zu teilen. Die Praxis der Kirche und die Theologie müssen sich daran messen lassen. Die Wahrheit der jeweiligen Religion zeigt sich in den jeweiligen konkreten Konsequenzen für die Menschen, besonders für die Armen: befreit der Glaube an Jesus Christus zu einem neuen Leben und zu einer gerechteren Gesellschaft oder dient er der Rechtfertigung des Bestehenden bzw. einer Sanktionierung der von Menschen geschaffenen Verhältnisse?

 

  • Jesus der Messias „kommt zur Welt“ inmitten der „Hirten von Bethlehem“ – sie sind die ersten Adressaten.
  • Jesu Botschaft: „Kehrt um, denn das Reich Gottes beginnt jetzt“ (Zeichen der Herrschaft Gottes).
  • Jesus wird wegen seiner Botschaft vom Reich Gottes bedroht und schließlich getötet.
  • Jesus der Christus ist mit uns auf dem Weg der Befreiung – Option für die Armen

 

Es kann eine direkte Linie von den Erfahrungen der ersten Christen zu den Erfahrungen der Campesinos und den „Indios dieser Welt“ gezogen werden. Der Umweg über die europäische Theologie - speziell im Kontext der Eroberung - und europäische Art von Kirchesein erweist sich als Sackgasse. In der Praxis und den Erfahrungen einer „Kirche mit Poncho und Sombrero“ sich erstmals die Umrisse eines nichteuropäischen Christentums, ausgehend von den Rändern dieser Welt und von den Menschen, die unter die Räuber gefallen sind. Diese Erfahrungen mit den Campesinos führten zu den Beschlüssen von Medellín und zu dem, was später unter dem Namen „Kirche der Armen“ oder „Theologie der Befreiung“ geführt hat.

 

Die Comunidad als Ausgangspunkt kirchlicher Strukturen und als Ort der Evangelisierung (Basisgemeinden)

 

Comunidad bedeutet Gemeinschaft und hat eine doppelte Bedeutung: eine politische und sozial-religiöse. Die Menschen einer Comunidad fühlen sich als eine Einheit, auch wenn sie untereinander zerstritten sind, und sie wissen um ihre Zusammengehörigkeit. Sie ist die Plattform und der Rahmen für das alltägliche soziale Leben. Sie hat damit auch eine religiöse Dimension, weil sich der Glaube im Leben der Comunidad entfaltet. Jedes soziale Handeln in und mit der Comunidad ist im Kontext der religiösen Dimension zu sehen. Jede Handlung hat seine Auswirkungen sowohl auf die jeweilige Gemeinschaft, als auch auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch, auf die Harmonie und das Gleichgewicht zwischen der Natur und den göttlichen Mächten.  

 

Es waren inhaltliche Gründe, die für die Comunidades als Basis der Re - Evangelisierung sprachen. Da für die Campesinos der Glaube seinen Ausdruck im alltäglichen Leben innerhalb einer Gemeinschaft findet, ist es unabdingbar, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft sich nicht nur kennen, sondern sich auch von der Gemeinschaft getragen und sich der Gemeinschaft verpflichtet fühlen. Dann sind sie auch bereit, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Dies kann am ehesten innerhalb einer überschaubaren Gemeinschaft geschehen, in der jeder Einzelne in der Lage ist, persönliche Beziehungen zu den Mitmenschen aufzubauen. In einer solchen Gemeinschaft ist es dann selbstverständlich, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft über ihren Glauben sprechen, ihren Glauben miteinander feiern und das Leben innerhalb der Gemeinschaft aus dem Glauben heraus zu gestalten versuchen.

 

In dieser Form der Glaubensgemeinschaften gibt es keine nur passiven Mitglieder, sondern alle sind auf ihre Weise aktiv und mitverantwortlich am Leben in der Gemeinschaft beteiligt. Man erinnerte an das Leben innerhalb der ersten christlichen Gemeinschaften und stellte fest, dass die soziologisch-religiöse Basis der vorgefundenen Comunidades beste Voraussetzungen bietet, um ein Leben im Geiste der Jüngerinnen Jesu und der ersten Glaubensgemeinschaften anzuregen, in der sich niemand als Fremder fühlt. Wenn die Campesinos dann auch erfahren, dass ihre bisherige Art in der Gemeinschaft zu leben und der von außen neu gekommene Anstoß, sich selbst als Kirche im Sinne der ersten Christen zu verstehen, sich auf harmonische Weise ergänzen, dann werden sie das Neue als Bereicherung aufnehmen.

 

Durch diesen Ansatz der Evangelisierung erfuhren sich die Campesinos selbst nicht als Objekte, sondern diese Evangelisierung half ihnen, ihre eigenen Werte und ihre eigene Identität wieder zu entdecken. Erleichtert wurde dieser Prozess noch dadurch, dass sich Werte des Evangeliums nahtlos mit eigenen Wertvorstellungen verknüpfen ließen bzw. diese erst richtig zur Geltung brachten. Die gemeinsame Arbeit findet ihren Höhepunkt in dem gemeinsamen Fest, durch das sich die Gemeinschaft konstituiert, in dem das Miteinander und das Teilen seinen höchsten Ausdruck finden und in dem die Verbindung zu allen Menschen und dem gesamten Kosmos und zu Gott auf dichteste Weise zum Ausdruck kommt. Dies entspricht dem Verständnis von Eucharistie in seiner ursprünglichen Bedeutung.

 

Neuevangelisierung in Deutschland?   (Wir sind doch alle getauft….? wieso umkehren?)

 

Weder Theologie noch Gemeinden scheinen in der Lage zu sein, Befreiungsprozesse in Deutschland zu wagen, bzw. überhaupt die Notwendigkeit solcher Prozesse zu erkennen. Den eigenen Standort (im Kapitalismus) kann oder will man nicht hinreichend wirtschaftlich und theologisch analysieren, daher ist es schwer, zu einer entsprechenden Praxis zu finden. Wenn man dagegen von der Einen Kirche als einer globalen Gemeinde ausgeht, kann man mit den Armen zusammen den globalen Kontext mit seinen konkreten lokalen Auswirkungen sehen und seinen jeweiligen Standort darin erkennen. Nicht nur ein Wechsel der Perspektive, sondern ein Wechsel des Standorts (das, was mit der Option für die Armen und Umkehr gemeint ist), ist gefordert. Angeregt durch befreiende Erfahrungen der Armen könnten dann auch in reichen Gemeinden befreiende Lernprozesse für das eigene Leben in Gang kommen. Für deutsche Christen und Gemeinden geht es nicht zuerst darum, die Armut in der Dritten Welt zu bekämpfen, sondern darum, in der eigenen Gesellschaft, aus der Perspektive der Opfer, die Mechanismen der Globalisierung zu entdecken, sie als Götzendienst zu entlarven, aufzustehen und befreiende Alternativen zu entwickeln.

 

Aufgrund kirchenpolitischer Entwicklungen weltweit, scheint es heute noch viel schwerer geworden zu sein, das hier Geforderte in Angriff nehmen zu können. Schon der erste Schritt scheint zunehmend schwerer zu werden: die Campesinos überhaupt zu sehen und zu hören. Wenn die Stimme der Campesinos heute noch weniger als in den letzten Jahrzehnten gehört wird, können dafür fünf Gründe genannt werden:

 

  1. Der weltweite Siegeszug des Totalen Marktes, in der die „Indios dieser Welt“ mehr als je zuvor nur als unnötiger Ballast vorkommen - wenn überhaupt noch.
  2. Die uniformierte Beliebigkeit einer weltweiten Kommunikationsgesellschaft und Postmoderne und eine damit einhergehende Beliebigkeit von Moral und Ethik.
  3. Die zunehmende Autozentrik von Gruppen und Einzelnen (Orientierung am eigenen, augenblicklichen Wohlbefinden) bei gleichzeitigem Zerlegen persönlicher und gesellschaftlicher Lebensbereiche in nicht mehr zusammenhängende und verstehbare Einzelteile.
  4. Die Rückkehr autoritärer Strukturen von Befehl und Gehorsam innerhalb des kirchlichen Apparats, dessen Verrechtlichung und Abschottung vom realen Leben.
  5. Die Sprachlosigkeit einer wortreichen Verkündigung und einer elitären Theologie, die ihre Bedeutung in der Gesellschaft verloren hat und sich vorrangig um sich selbst dreht.

 

Glaubensbekenntnis der Campesinos

 

Der theologische Inhalt wurde den Campesinos nicht als Theorie vorgegeben, allerdings wurden ihnen gewisse „Werkzeuge“ in die Hand gegeben, mit deren Hilfe sie das Wort Gottes, die Botschaft Jesu, entdecken und dann deuten konnten. Sie deuten das Wort Gottes auf dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte, ihrer Erfahrungen und ihrer konkreten Situation und entdecken dabei Parallelen in der Bibel und in der Praxis des Volkes Gottes. Diese Deutung wird in dieser Arbeit als Theologie verstanden - auch deswegen, um auf der Basis einer gemeinsamen theologischen Sprache einen Dialog zu führen. Die folgenden Inhalte wurden direkt aus der Begegnung mit den Campesinos und deren Glauben heraus entwickelt und formuliert. Sie geben daher das wieder, was für die Campesinos der Inhalt ihres Glaubens ausmacht. Es geht um Glaubensinhalte, die für die Campesinos Grundlage und Horizont ihres eigenen Glaubensverständnisses und der damit verbundenen Praxis stehen.

 

Ausgangspunkt für die Kirche mit „Poncho und Sombrero“ ist die Erfahrung der Menschwerdung Gottes in einer täglich erlittenen Realität von Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. Die grundlegende Entdeckung der Campesinos ist, dass Gott mitten unter ihnen geboren wurde. Er schenkt neues Leben, er offenbart sich als ein Gott des Lebens, als dessen Kinder sie sich erfahren. Als Kinder Gottes haben sie eine einzigartige Würde und unantastbare Rechte. Sie haben Hunger nach Gott und nach Brot und dieser Hunger wird nun ansatzweise und zeichenhaft gestillt. Dies ermöglicht ihnen, ihre seit dem Schock der Eroberung unerklärliche Abhängigkeit von den Weißen neu zu deuten: als Bruch der ursprünglichen Harmonie, unter der sie selbst, die gesamte Wirklichkeit und auch alle göttlichen Kräfte leiden. Die Botschaft Jesu ermöglicht ein neues Leben in allen seinen Dimensionen. Dieses neue Leben beginnt jetzt, hier und heute. Jesus ist für sie „die Brücke zwischen Himmel und Erde“.

 

Der Glaube an Jesus und an seine bleibende Gegenwart inmitten der Armen befähigt sie zu einer befreienden Praxis. Aufgrund ihres Glaubens setzen sie sich für eine gerechtere Gesellschaft ein. Dieser Einsatz kann zu Verfolgung führen, erst recht, wenn sie die herrschenden Mächte und die herrschende Religion als falsche Götter entlarven. Doch Jesus ist als Christus mit ihnen und deswegen geht ihr Weg weiter. Diese Wegegemeinschaft ist die Kirche Jesu Christi. Ihr Glaube findet in der gemeinsamen Feier der Tisch- und Mahlgemeinschaft als Zeichen des Reiches Gottes seinen Höhepunkt und dichteste Ausdrucksform - andin: eine Wiederherstellung der kosmischen Ordnung, in der alle Elemente des Kosmos in einem ausgewogenen Verhältnis und einer gegenseitigen Beziehung leben. Diese Feier bezieht ihre zentrale Bedeutung nicht daher, ob ein geweihter Priester oder ein Katechet die Feier leitet. Sie hat deshalb eine zentrale Bedeutung, weil eine Gemeinschaft in der Praxis des Brot teilen die Gegenwart Gottes erfährt und von daher die Kraft empfängt, Leben und Welt zu verändern. In der Feier selbst ist die gesamte Wirklichkeit bzw. das, was sie bezeichnet, auch tatsächlich enthalten und präsent.

 

Die Eucharistie ist für die Campesinos die kondensierte Form einer Praxis, in der das schon erwähnte Gleichnis vom Festmahl als Grundlage und Leitvision praktischen Handelns dient.  Wenn die Menschen sich an einen Tisch setzen und geschwisterlich Essen und Trinken teilen, werden das Reich Gottes zeichenhaft sichtbar und das endgültige Hochzeitsmahl vorweggenommen. Die Gewissheit der Verheißung und die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Vollzug des Brot teilen gibt den Campesinos die Kraft, ihr Leben in den Dienst des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit zu stellen.

 

Die Erfahrungen des Volkes Israels mit ihrem Gott, der sie aus der Sklaverei befreite, die Erfahrungen der ersten Christen mit dem auferstandenen Christus und viele Zeugnisse engagierter Männer und Frauen, die ihr Leben hingaben, damit andere in Würde leben können, begleiten sie auf ihrem Weg und geben ihnen Halt und Orientierung. Es ist ein Weg, den schon andere vor ihnen gegangen sind und die ihnen nun als Brücke zur Gegenwart den Weg weisen. Auf diesem Weg werden sie zum Volk Gottes. Als Volk Gottes, auf dem Weg aus der Sklaverei in das Gelobte Land, repräsentieren sie die Gemeinschaft derer, die an Jesus den Christus glauben. Sie sind daher die Kirche Jesu Christi. Sie können sich eine Verwirklichung ihres Glaubens nur in Gemeinschaft vorstellen bzw. indem sie sich für die Gemeinschaft einsetzen.

 

Diese Glaubensgemeinschaft ist durch das Hören des Wortes Gottes entstanden und verwirklicht sich in der Nachfolge Jesu, z.B. so mit einander umzugehen, wie es Jesus vorgelebt hat. Angesicht ihrer konkreten Situation ist es zentrale Aufgabe dieser Glaubensgemeinschaft, gegen die herrschende Gewalt und für eine Gesellschaft, in der alle Kinder Gottes ein Leben in Fülle haben werden, zu kämpfen. So überwinden sie die tödliche Spaltung der Menschheit und sind so als Kirche Jesu ein Sakrament des Heils für alle Menschen. Sie sind vorrangig Zeugen der Auferstehung und stehen somit in der Tradition der Apostel und der ersten Christen. Sie haben am eigenen Leib erlebt, was es heißt, wenn durch Missachtung grundlegender Prinzipien die göttliche Ordnung gestört ist. Die Neu-Evangelisierung hilft ihnen dabei, diese Ordnung wieder als eine Heil volle und Sinn stiftende Ordnung zu erfahren.

 

Theologie in Cajamarca und in Deutschland

 

Mit den Campesinos war es nicht notwendig, über die soziale Dimension des Glaubens und die Einheit von Sozial und Pastoral zu theoretisieren oder einen erst mühsam zu begründeten Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis, zwischen Mystik und Politik, Spiritualität und gesellschaftliches Engagement und zwischen Befreiung und Erlösung herzustellen. Alle diese rationalen Verkomplizierungen gehen am realen Glauben der Campesinos und der Armen vorbei. Sie sind eher ein Symptom dafür, dass man in den reichen Kirchen die Mitte und damit die Orientierung verloren hat. Das heißt nicht, dass man sich nicht mit diesen Fragestellungen beschäftigen könnte, sondern vielmehr, dass diese von außen heran getragenen Fragestellungen, Konzepte und Begrifflichkeiten wenig hilfreich sind, um einen Zugang zu den Glaubenserfahrungen der Campesinos und zum Evangelium insgesamt zu finden.

 

Wenn dieser Zugang möglicherweise für Außenstehende schwerer ist, so ist dies nicht das Problem der Campesinos, sondern das Problem der Außenstehenden, die vielleicht nicht den Vorzug erleben durften, Kreuz und Auferstehung existenziell erfahren zu haben. Deshalb fällt es ihnen schwerer, sich mit den Armen wirklich an einen Tisch zu setzen und mit ihnen das Brot und ihren Hunger nach Gerechtigkeit zu teilen. Es bleibt offen, ob die strukturelle Schwierigkeit der Außenstehenden, die geschilderten Glaubenserfahrungen zu verstehen, nicht die Frage aufwerfen muss, ob es nicht für sie noch viel schwieriger ist, das Evangelium angemessen zu verstehen, das räumlich, zeitlich und vor allem in einem inneren Sinne noch weiter weg ist, als es die Campesinos sind. Denn von der Geschichte des versklavten Volkes Gottes her gesehen haben die reichen Kirchen eher ihren Standort bei denen, die als Herrscher dieser Welt die Mehrheit der Menschen in Schuldknechtschaft und Abhängigkeit halten (Euro-Theologen als Hoftheologen des Pharao?), Die Campesinos dagegen verstehen die Verkündigung von der Menschwerdung Gottes als Auftrag, gegen alle Verhältnisse aufzustehen, die ein „Leben in Fülle“ behindern.

 Es werden einige grundsätzliche Unterschiede zwischen der Theologie der Campesinos und der Theologie Europas deutlich. Die Unterschiede lassen sich an folgenden markanten Punkten festmachen (u.a.):

 

Der jeweilige Standort ist verschieden. Innerhalb der globalen Wirtschaft seit Beginn der Neuzeit kommt den Campesinos die Rolle der Objekte und der Opfer zu, die Europäer sind die Subjekte und die Nutznießer ungerechter globaler Strukturen. Die europäische Kirche und Theologie ist im Rahmen dieser Rollenverteilung zu sehen (muss aber nicht notwendigerweise darauf fixiert bleiben, denn Ausbrüche sind möglich). Der verschiedene Standort bedingt einen verschiedenen Zugang zur Realität und zum Glauben. Entsprechend verschieden ist die Deutung im Lichte des Glaubens. In Europa wird der eigene Standort nicht hinreichend analysiert oder er wird ausgeklammert. Für die Campesinos ist dagegen die Analyse und Deutung des eigenen Standorts der Ausgangspunkt zur Veränderung. Es geht darum, die Realität zu verändern. Dies führt zu einer konkreten Option und einer befreienden Praxis. Es gibt keine neutrale Erkenntnis.

 

Der Einsatz für Gerechtigkeit, das Reich Gottes, ist für die Campesinos wahrer Gottesdienst und Gotteserkenntnis. Der europäischen Theologie fällt es schwer, ausgehend von eigenen Erfahrungen zu einer befreienden Praxis zu finden und diese zu reflektieren. Stattdessen (meta-) reflektiert sie ihre eigenen Konstrukte. Die Menschwerdung Gottes und seine Auferstehung stehen bei den Campesinos im Zentrum des Glaubens. Dies verändert ihr Leben. In Europa hat der historische Jesus zuerst seine Bedeutung als Forschungsobjekt. Der Christus des Glaubens ist für die Campesinos identisch mit dem historischen Jesus. Die europäische Theologie findet einen Zugang zu Christus eher mit Hilfe von Dogmen und Hoheitstiteln, Christus wird „definiert“. Der historische Jesus fordert aber zur Nachfolge auf. In der Nachfolge werden Passion und Auferstehung Jesu real erfahrbar. Die Nachfolge erfolgt in Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft versteht sich von Jesus Christus als Zentrum her und nicht zuerst als Institution wie in Europa. Europäische Glaubenspraxis scheint sich daher eher an Kult und Gesetz zu orientieren und weniger am Beispiel Jesu und den Bedürfnissen der Menschen, besonders derer im Straßengraben.

 

Schlussüberlegungen:

 

  1. Sich seines eigenen Standpunktes bewusst werden (welche Interessen, von woher…). Warum Umkehr so schwer? Ausbruch aus dem Goldener Käfig.
  2. Sich seines Glaubens bewusst werden (an welche Götter glaube ich, an was hänge ich mein Herz? Götzendienst: Biblischer Gott des Lebens oder Götter des Todes.
  3. Radikale (von der Wurzel her) Opposition gegen menschenverachtende Wirtschaft
  4. Nicht-europäische Kirche und nichteuropäische Theologie: barbarische Theologie statt griech. römischer Kirche mit ihrer unheilvollen Theorie und Praxis (römisch-kap. Reichstheologie.
  5. Eine Kirche der Armgemachten, Aufstand gegen eine reiche Kirche der Institutionen und Apparatschiks.
  6. Eine jesuanische Spiritualität:* von Geburt Jesu (Hirten) bis zu seinem Tod
  7. Radikaler Bruch mit dem Wachstumswahn (Kapitalismus, Götzendienst)
  8. Bruch mit der Komplizenschaft mit der Macht und dem Kapital

 

* Spiritualität wird hier als Kraft verstanden, sein Leben im Geiste und in der Nachfolge Jesu zu gestalten. Spiritualität bedeutet aus der Sicht der Armen, Gott inmitten ihres Leides und ihrer Hoffnungen als ein Gott des Lebens in Fülle zu entdecken, der mit ihnen ist und sie führt. Aus der Sicht der Reichen bedeutet Spiritualität, im leidenden Nächsten, das Antlitz des Gekreuzigten zu entdecken, sich mit dem Armen auf den Weg machen und mit ihm zusammen seine Sehnsucht nach dem Reich Gottes zu formulieren und diesem im Hier und Heute Gestalt zu verleihen. Die Grenzen der eigenen Welt werden überschritten bzw. das Fremde wird als Fremdes in die eigene Welt mit hinein genommen. Dies kann als Fundament oder Voraussetzung einer Spiritualität und Offenheit gedeutet werden, ohne die das Christentum keine Zukunft hat.