Zum 50. Todestag von Camilo Torres
Sein Anliegen
Am 15. Februar 1966 wurde der kath. Priester Camilo Torres von Einheiten der kolumbianischen Armee erschossen. Kurz zuvor, mit dem „Aufruf an das kolumbianische Volk“ vom 7. Januar 1965, hatte er sich der ELN (Ejército de la Liberación Nacional – Nationale Befreiungsarmee) angeschlossen, einer Guerillaorganisation, die bis heute noch aktiv ist.
Eine kurze Zusammenfassung seines Glaubens (im Stil von Camilo Torres): Wenn das Wesen des christlichen Apostolats die Nächstenliebe ist, dann hat ein Christ in einem Land wie Kolumbien, in dem jede Viertelstunde ein Kind stirbt, die Pflicht, sich dafür einzusetzen, die Hungrigen zu speisen, die Durstigen zu tränken, die Obdachlosen zu beherbergen, die Nachbarn zu kleiden (Mt 25,31-46). Und wenn dieser Christ nun alles – aber auch wirklich alles – versucht hat, dieses oberste Gebot der Nächstenliebe mit legalen Reformen zu erfüllen und an der hartnäckigen Reformfeindlichkeit der herrschenden Oberschicht gescheitert ist, dann hat er die Pflicht, die Herrschaft dieser Oligarchie zu brechen um der Mehrheit des Volkes das geben zu können, was es zum Leben braucht.
Wenn ein Priester seine Kirche immer wieder daran erinnert, welche Botschaft sie zu verkünden hätte, auf wessen Seite sie im Geiste Jesu stehen müsste und wie sie stattdessen Zeugnis von der Liebe und Hingabe Jesu Christi geben müsste – dies aber nicht tut. Was kann man als Priester dann noch tun, um seine Berufung zum Dienst am Nächsten zu leben? Hoffen auf Unterstützung die „Mitbrüder“? Die kolumbianische Kirchenhierarchie ignorierte nicht nur das soziale Elend der Mehrheit der Bevölkerung, sondern war aufs Engste mit den Herrschenden verbunden. Mit Gewalt eine Veränderung herbeiführen?
Die Gewalt existiert bereits, eine alltägliche und tödliche Gewalt. Den „Kindern dieser Erde“, den Kindern Gottes, das tägliche Brot vorzuenthalten, sie von jeglicher Bildung und Gesundheitsfürsorge auszuschließen, ihnen ihr Land zu rauben und ihre Lebensgrundlagen zerstören ist die tödlichste und häufigste Form von Gewalt, sie ist die „Gewalt Nr. 1“ (Helder Camara). Diese Gewalt ist dem System immanent, sie gehört wesensmäßig zur herrschenden Ordnung, denn darauf beruht ihre Macht und ihr Erfolg. Diese Gewalt zu überwinden ist eine priesterliche Pflicht. Allein die Herrschenden sind dafür verantwortlich, wenn zur Überwindung der Gewalt und der Tyrannei – als letztes Mittel – vorübergehend Waffengewalt gebraucht werden muss. Lehnt man dies von vorneherein ab, macht man sich zum Komplizen der herrschenden Gewalt und verstößt gegen das Gebot der Nächstenliebe. Die Kirche selbst hat immer auch Gewalt ausgeübt, auch kriegerische Gewalt. Und sie profitiert von der systembedingten Gewalt – wie in Kolumbien – und rechtfertigt sie.
Soweit das Leben, der Glaube und die Lehre von Camilo Torres.
Einige Daten zu Kolumbien (1965): 68 % der Bevölkerung leben in Lehmhütten (oder vergleichbares), 92,6 % der Landbevölkerung und Slumbewohner haben kein fließendes Wasser und WC in ihren Hütten, 95,8 % kein elektrisches Licht. Insgesamt gehen nur 50% aller Kinder in die Grundschule, 3% besuchen eine weiterführende Schule. Von den etwas mehr als 2 Millionen Einwohnern Bogotas sind 1 Million obdachlos. Aber zwischen 1951 und 1961 erhielten die USA für jeden importierten Dollar 4 Dollar zurück. (Dieser Teufelskreis der gezielten Verschuldung - einschließlich des horrenden Kapitalabflusses der einheimischen Oberschichten - wurde bei uns erst in den 90er Jahren entdeckt und dies zudem nur unzureichend analysiert – siehe erlassjahr.de).
2 Textausschnitte von Camilo Torres
a) Brief vom 24. Juni 1965 an den Kardinal von Bogotá mit der Bitte um Entbindung von den Pflichten des Priesteramtes (Ausschnitte):
„Ew. Eminenz, als Zeugnis der Treue zur Kirche und zu dem, was ich für die wichtigsten Gebote des Christentums halte, scheint es mir notwendig, Eure Eminenz um Entbindung von den Pflichten des Priesteramtes zu bitten. … Euer Sohn in Jesu Christo.
Beigefügte Presseerklärung: „Wenn bestimmte Umstände es den Menschen unmöglich machen, den Geboten Christi zu folgen, dann hat der Priester die Aufgabe, diese Umstände zu bekämpfen, selbst auf Kosten der Möglichkeit, den eucharistischen Ritus zu zelebrieren, denn das kann nicht ohne die Nachfolge Christi geschehen. In der augenblicklichen Struktur der Kirche sehe ich mich nicht in der Lage, die Ausübung meines Priesteramtes in seinen äußeren Formen fortzusetzen. Das christliche Priesteramt besteht nicht allein im Zelebrieren der äußeren Riten. Der Gottesdienst, der den eigentlichen Inhalt des Priesteramts ausmacht, ist in ihrem tiefsten Sinn eine gemeinschaftliche Handlung. Die christliche Gemeinschaft kann jedoch das Messopfer nicht wirklich darbringen, wenn sie nicht vorher das hauptgebot der Nächstenliebe in wirksamer Weise erfüllt hat. Ich habe mich für das Christentum entschieden, weil ich in ihm die reinste Form des Dienstes am Nächsten sehe. Ich wurde von Christus zum lebenslänglichen Priesteramt berufen, weil ich mich vollständig der Liebe zu meinen Mitmenschen hingeben wollte.
Bei der Untersuchung der kolumbianischen Gesellschaft wurde mir immer klarer, dass eine grundlegende Veränderung notwendig ist, wenn man die Hungrigen speisen, die Durstenden tränken, die Nackten bekleiden und den Massen unseres Volkes ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen will. Ich vertrete die Ansicht, dass der revolutionäre Kampf ein christlicher und priesterlicher Kampf ist. Nur durch ihn können wir unter den konkreten Umständen unseres Landes die Liebe verwirklichen, die die Menschen ihren Mitschenken schulden. Ich opfere damit eines der Recht, an denen ich am meisten hänge, als Priester das Messopfer feiern zu können, um die Bedingungen schaffen zu können, durch die diese heilige Handlung erst ihren eigentlichen Sinn erhält. Ich bin bereit, alle Gefahren auf mich zu nehmen, die das Streben nach diesem Ziel mit sich bringt“.
b) Aufruf an die Christen (26. August 1965, Ausschnitte)
„An erster Stelle steht im Katholizismus die Liebe zum Nächsten. `Wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt`. Wenn diese Liebe echt sein soll, so muss sie auch versuchen, wirksam zu sein. Wenn Wohltätigkeit, Almosen, einige kostenfreie Schulen, einige Wohnungsprojekte, kurz das, was man Caritas nennt, nicht genügen, um die Mehrheit der Hungrigen zu speisen, die Mehrheit der Nackten zu bekleiden, die Mehrheit der Unwissenden zu unterweisen, dann müssen wir nach wirksameren Mitteln suchen.
Die privilegierten Minderheiten, die über die Macht verfügen, werden nicht nach solchen Mitteln suchen, denn dann müssten sie ihre Privilegien aufgeben. Wir müssen also den privilegierten Minderheiten die Macht nehmen und sie der Mehrheit der Armen geben. Das ist das Hauptziel der Revolution. Die Revolution kann friedlich vor sich gehen, wenn die Minderheiten keinen gewaltsamen Widerstand leisten. Die Revolution ist also die Form, zu einer Regierung zu kommen, die die Hungrigen speist, die Nackten bekleidet, die Unwissenden unterweist, die also die Werke der Caritas, der Nächstenliebe, nicht nur gelegentlich und vorübergehend, nicht nur an einigen wenigen, sondern an der Mehrheit unserer Nächsten erfüllt.
Daher ist die Revolution für die Christen, die in ihr die einzig wirksame und umfassende Möglichkeit sehen, die Liebe zu allen Menschen zu verwirklichen, nicht nur erlaubt, sondern sie ist seine Pflicht. Sicher, ‚Es gibt keine Gewalt außer von Gott‘ (Röm 13,1). Aber Thomas von Aquin schreibt, die Übertragung der Gewalt gehe vom Volk aus. Jede gegen das Volk gerichtete Gewalt ist illegitim und heißt Tyrannei. Wir Christen können und müssen gegen diese Tyrannei kämpfen. Die gegenwärtige Regierung ist tyrannisch, weil sie sich nur auf 20% der Wähler stützt und weil ihre Entscheidungen allein der privilegierten Minderheit nützen.
Die irdischen Mängel der Kirche dürfen uns nicht empören. Die Kirche ist menschlich. Wichtig ist es zu glauben, dass sie auch göttlich ist und dass wir die Kirche stärken, wenn wir unsere Pflicht der Nächstenliebe erfüllen. Ich habe die Pflichten und Rechte des Klerus aufgegeben, aber ich habe nie aufgehört, Priester zu sein.
Ich glaube, dass ich mich der Revolution aus Nächstenliebe verschrieben habe. Ich habe aufgehört die Messe zu lesen, um die Nächstenliebe im weltlichen – im wirtschaftlichen und sozialen – Bereich verwirklichen zu können. Wenn mein Nächster nichts mehr gegen mich vorzubringen hat, werde ich nach Vollendung der Revolution wieder das Messopfer darbringen, wenn Gott es mir erlaubt. Ich glaube, dass ich auf diese Weise dem Gebot Christi folge, das da heißt: ‚Wenn du also eine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder oder deine Schwester etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar und gehe hin und versöhne dich zuvor mit deinem Bruder und deiner Schwester. Dann komme und opfere deine Gabe‘ (Mt 5, 23-24). Nach der Revolution werden wir Christen wissen, dass wir ein Gesellschaftssystem aufbauen wollen, in dem die Nächstenliebe der höchste Wert ist.“
Persönliches Fazit:
Ich möchte mir nicht anmaßen, über den Entschluss von Camilo Torres, sich der bewaffneten Revolution anzuschließen, zu urteilen. Ich halte es aber mit Dom Helder Camara, der sinngemäß über Camilo Torres sagte: „Ich selbst habe einen anderen Weg gewählt. Wenn aber ein Mitbruder alles in seiner Macht stehende versucht hat, die primäre Gewalt zu überwinden und die Situation der Ärmsten nachhaltig zu verändern, ohne eine ebensolche Veränderung erreichen zu können und dann zur Waffe greift – Wer bin, dass ich ihn deswegen verurteilen könnte? Ich habe sehr großen Respekt vor einem Menschen, der bereit ist aus Liebe zum notleidenden Nächsten sein Leben hinzugeben“.
Im Jahre 1966 habe ich mein Abitur gemacht und bin bereits 1967 mit Camilo Torres und seinem Anliegen „begegnet“. Seine Schriften und sein Weg haben mich sehr beeindruckt und schließlich – neben anderen Einflüssen – dazu geführt, erst Pädagogik und dann Theologie zu studieren und Priester zu werden. In St. Georgen (SJ)
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Anexo: Klassenkampf als Kampfbegriff - oder: wer hat hier welches Interesse?
(aus einer Seminararbeit „Theologie der Befreiung als neue Theologie?“ , WS 1973/74)
Klassenkampf, Gewalt, Bruch der menschlichen Gemeinschaft in mindestens zwei entgegen gesetzte Pole widersprechen fundamental der christlichen Botschaft von Liebe, Solidarität und Einheit. Der Klassenkampf wird von vielen Christen geleugnet bzw. wenn sie doch davon hören, verstehen sie gewohnheitsgemäß dies: angestiftet von kommunistischer Propaganda werden die Massen aufgewiegelt, gegen die bestehende Ordnung zu kämpfen, auch mit Waffengewalt. Dies sei äußerst verwerflich, erstrecht, weil man die bestehende Ordnung mit westlicher Zivilisation und christlichem Abendland gleichsetzt. Dies ist die übliche Sichtweise in den reichen Ländern, auch in den reichen Kirchen, besonders in der reichsten Kirche der Welt, der westdeutschen Kirche.
Doch vom Standpunkt der Christen in den ärmsten Ländern sieht dies genau umgekehrt aus. Sie erleiden entsetzliches und tägliches Elend, weil ein permanenter und systematischer Krieg gegen sie geführt wird, weltweit und bereits seit Jahrhunderten, ausgehend von den „christlichen“ (und weißen) Ländern des Nordens. Sie sind die Opfer des weltweiten Klassenkampfes, gleichzeitig wissen sie deshalb Jesus auf ihrer Seite. Diese Sichtweise wird „natürlich“ von den vielen Christen hierzulande geleugnet, denn sie müssen ihn ja nicht erleiden, sondern sie profitieren davon (auch Nichtwissen entschuldigt nicht). Dabei ist gerade ihr Wohlstand ein Beleg dafür, dass es diesen Klassenkampf gibt. Das herrschende, kapitalistische Weltwirtschaftssystem (dem auch der „Ostblock“ verfallen ist) produziert notwendigerweise und systemimmanent immer mehr Arme und immer weniger Reiche. Es ist zudem „auf Leben und Tod“ auf ständiges Wachstum angewiesen, das immer mehr die überlebensnotwendigen Ressourcen der Erde und damit die Zukunft der Menschheit gefährdet.
Der Klassenkampf wird von oben nach unten geführt, die Ungleichheit und Ausbeutung werden mit militärischer Gewalt aufrechterhalten, von den reichen Ländern eingesetzte und gestützte Marionettenregierungen in den meisten armen Ländern verschleudern den natürlichen Reichtum ganzer Erdteile und der „zivilisierte Westen“ unterstützt grausamste Diktatoren und bekämpft mit brutalsten Mitteln die Sehnsüchte der Völker nach Teilhabe und Gerechtigkeit. Dies alles geschieht unter dem Deckmantel - ausgerechnet - der Demokratie und der Zivilisation. Für Christen in den armem Ländern besonders bestürzend: dies alles wird von den reichen Kirchen in der Regel nicht nur legitimiert, sondern diese sind Teil des Tod bringenden Systems und profitieren auch noch davon.
Noch einmal: Wer wie die Made im Speck lebt, redet nicht von Klassenkampf (man ist ja so edel, hilfreich und gut) und wenn doch, dann voller Abscheu von den Barbaren, die mit Gewalt alles ändern wollen. Klassenkampf aber wird von denen erlitten, die an den Rand gedrängt werden und die auch in der Kirche (Hierarchie) keine Stimme haben. Weil sie keine Stimme haben, werden sie auch nicht gehört bzw. wenn doch, dann völlig missverstanden. Daher wird der Klassenkampf selbst von bürgerlichen Christen guten Willens nicht zur Kenntnis genommen.
Wer vom Klassenkampf spricht, stellt nur eine Tatsache fest, er propagiert ihn nicht. Er ist ja schon längst da, ausgeübt von den Mächtigen, die mit Gewalt an ihren Privilegien festhalten. Die Theologie der Befreiung propagiert nicht den Klassenkampf, sondern sie sucht Wege, ihn zu überwinden. Sie steht auf der Seite der Unterdrückten, der Opfer, nicht um die immer größer werdende Spaltung der Menschheit zu vergrößern, sondern um sie zu überwinden (zumindest Brücken zu bauen). Ziel ist ja eine Gesellschaft, in der es weder Unterdrücker noch Unterdrückte gibt (immer unter dem Vorbehalt, dass es in jedem Menschen und zu aller Zeit die Versuchung geben wird - der man auch leicht erliegt - mehr zu sein und zu haben als der „Nachbar“ und sich selbst zum absoluten Maßstab zu machen).
Wer dagegen den Klassenkampf leugnet oder sich aus ihm heraushalten will, schlägt sich in Wahrheit auf die Seite der Herrschenden und Profiteure. Aber wie steht es mit „Einheit“ und „Liebe“? Tatsache ist, dass die menschliche Familie (alle Menschen als Kinder des einen Vaters) aufs Tiefste gespalten ist. Wer hier von Einheit redet, ohne die Realität wahrzunehmen, ergreift Partei für die Mächtigen, hilft mit, die bestehenden Abgründe zu rechtfertigen oder gar noch zu vertiefen. Er bemäntelt unter religiösem Vorwand (Missbrauch der Religion) seine eigenen egoistischen Interessen und ein gottloses, rein materialistisches System, das per se Götzendienst ist.
Für die Kirche bedeutet dies: sie ist gespalten in Christen, die von den „Vorzügen“ dieses Systems profitieren und auf Kosten ihrer Mitbrüder und Mitschwestern leben und denen, die das alles erleiden müssen. Dies könnte man als Manifestation der Ursünde bezeichnen. Der Abfall von dem Gott des Lebens, der ein Leben in Fülle für alle seine Kinder will und die Verehrung von fremden Göttern, führen zu Elend und zum Tod (Vertreibung aus dem „Paradies). Es ist ein System, das den Brudermord zum Prinzip erhebt. Die direkte Folge ist der Hungertod von 40 Millionen Kindern im Jahr. Die herrschende Aufteilung der Welt ist die geschichtliche Ausfaltung der Ursünde.
Nebenbei: Ökumene würde bedeuten, dass Christen gemeinsam dagegen aufstehen würden. Denn der eigentliche Skandal und Zeichen der Spaltung der Kirche ist, dass es Christen gibt, die auf Kosten anderer Christen leben. Und dies meist ohne Skrupel und in der schönen Illusion (Halluzination?) leben, sonntags beim Kommunionempfang durch den bloßen Empfang einer Hostie Jesus Christus zu empfangen, ohne wirklich das tägliche Brot (und das, was der Mensch zum Leben braucht) zu teilen. Christus ist vor allem aber dort real gegenwärtig, wo tatsächlich im Namen Jesu das tägliche Brot geteilt wird.