Medellín: Auf dem Weg zu einer katholischen Kirche…
I. Rückblick auf das 2. Vat. Konzil
In Zentrum standen (noch) die Themen und Sorgen der westeuropäischen Länder. Bischöfe und Theologen aus Deutschland, Holland, Frankreich und Belgien bestimmten weitgehend Tagesordnung und Thematik. Selbst in „Gaudium et Spes“ dem wohl am meisten in die Zukunft weisenden Dokument, spielt die Situation in den „unterentwickelten“ Ländern keine oder kaum eine Rolle. Man öffnet sich zwar der Welt, doch man meint die Welt der höchst entwickelten Länder, die Welt der liberalen und modernen Gesellschaften. Die Kirche suchte auf dem Konzil mit diesen Gesellschaften „Frieden“ zu schließen, bzw. sich zu versöhnen. Die Autonomie des „Weltlichen“ und die Religionsfreiheit wurden anerkannt, der Dialog mit den Religionen begann. Als großes Problem wird der zunehmende Atheismus gesehen. Doch das Thema, das Papst Johannes XXIII. vor Eröffnung des Konzils angesprochen hatte, eine Kirche der Armen, war zwar nicht ganz vergessen, spielte aber eine eher marginale Rolle.
Siehe auch mein Vortrag In Medellín am am 13.04.18: "50 Jahre Medellín"
Dennoch markiert das Konzil das Ende einer tausendjährigen Epoche (1500 bzw. 1000 Jahre) und den Beginn einer neuen Epoche - aus heutiger Sicht und rückblickend gesagt: Das Ende der Dominanz - oder gar der Verabsolutierung - der griechisch-römischen Kultur und Rechtsprechung und einer daraus resultierenden Theologie, die vor allem – je nach Betrachtungsweise - vornehmlich platonisch, aristotelisch und thomistisch geprägt war – aber weniger oder kaum „jesuanisch“. Vor allem aber: Die Kirche verabschiedet sich auf dem Konzil von einem Konzept, das die Kirche in Lehre und Praxis bisher geprägt hat: Das Konzept einer „societas perfecta“. Das wird u.a. deutlich in dem neuen Verständnis von Pastoral. Pastoral (Praxis) und Dogma (Lehre) werden als gleichwertig gesehen, vor dem Konzil ging es zuerst um das Dogma, um die Reinheit der Lehre. Pastoral und Dogma bilden nun aber keinen Gegensatz, sondern sie bedingen sich einander. In der „societas perfecta“ spielen dagegen die konkrete Praxis und die Auswirkungen einer Lehre, z.B. ob menschenfreundlich oder nicht, (fast) keine Rolle. Der Begriff, ein politischer Begriff, stammt von Platon (4. Jh. vor Chr.) und meint eine Gesellschaft, die aus sich heraus alles hat, was sie zum Leben braucht, also autark ist. Im 4. Jh. nach Chr. wurde dieser Begriff auf die Kirche übertragen und bis ins 20. Jh. so definiert, dass der Kirche von Gott alles gegeben wurde, was sie zu ihrer Existenz braucht. Sie braucht „die Welt“ nicht, sie ruht in sich und für sich. Sie regelt alles aus sich selbst heraus. Sie ist ein Machtkonzept.
II. Übergang zu Medellín, von 1965 - 68
Lateinamerikanische Kirchenhistoriker bezeichnen die Zeit von 1965 - 68 als die Periode, in der in kurzer Zeit auf kontinentaler Ebene wie nie zuvor so viele Bewegungen entstanden sind (Priester und Laien), die alle ein Ziel hatten:
- Hören und sehen, was die Menschen bewegt, worunter sie leiden und worauf sie hoffen,
- dies analysieren und im Lichte des Evangeliums neu deuten und
- Folgerungen für die Theologie, vor allem aber für die praktische Pastoral zu ziehen.
Soziokulturelle und sozioökonomische Studien sollten helfen, die Zeichen der Zeit – und letztlich das Evangelium – besser oder gar neu verstehen zu können und ein neues Bewusstsein für eine notwendige Veränderung zu schaffen. Beispielhaft ein Auszug aus der Rede von Dom Helder Camara in Mar del Plata, 1966: „Zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas stehen wir vor fundamentalen Veränderungen. Die Kirche muss dazu beitragen, einen ´neuen Menschen´ zu verkünden und ihn zu leben. Der ´neue Mensch´ wird nicht ein gigantischer Produzent oder Konsument sein, nicht Teil einer gigantischen Maschinerie, die zum Ziel hat, alles – so auch die gesamte Natur – zu beherrschen. Ziel ist vielmehr, ein freier und bewusster Mensch zu werden im Kontext einer Befreiung aller, die geknechtet sind, damit das entstehen kann, was Freiheit ausmacht: frei zu sein, um sich von seiner eigenen Gier befreien zu können um so sich so dem Anderen, dem Nächsten, hingeben zu können.“ In diesem Zusammenhang spricht er auch von einer ´kollektiven Sünde´, d.h. von den Verhältnissen, die den Menschen versklaven und die ihn daran hindern, zu dem zu werden, zu dem er berufen ist. In den Dokumenten von Medellín wird dann von den „Strukturen der Sünde“ die Rede sein.
Führender Theologe und Berater der Bischöfe war seit 1966 Gustavo Gutiérrez. Seine theologischen Arbeiten waren die Grundlagen für viele bischöfliche Versammlungen. So hielt er z.B. 1967 in Montreal einen viel beachteten Vortrag mit dem Titel: „Die Kirche und die Armut“. Er bezeichnet die massenhafte Armut in Lateinamerika als skandalös, als nicht hinnehmbar und schließlich als Frucht der Ungerechtigkeit und der Sünde der Menschen. Diese Armut als Folge himmelschreiender Ungerechtigkeit, widerspricht fundamental dem Willen Gottes. Diesen Zustand nicht nur hinzunehmen, sondern ihn gar zu rechtfertigen und zu segnen und die Menschen zu vertrösten auf eine Belohnung im Jenseits, widerspricht völlig der Botschaft Jesu. Er unterscheidet hier auch die verschiedenen Arten von Armut. In Medellín wurde diese seine neue Interpretation von Armut übernommen (Kap. 14).
III. Folgen von Medellín – eine neue Perspektive
Ein praktisches Beispiel aus Bambamarca[1]: Die Dokumente von Medellín spielten auch in der Praxis eine große Rolle. So wurden z.B. bei den Campesinos in der Diözese Cajamarca, Peru, die Dokumente von Medellín sehr positiv aufgenommen. Sie entdeckten darin die gleichen Prioritäten, nach denen sie bisher schon gearbeitet hatten. „In Medellín hat sich die Mehrzahl der Bischöfe für eine Option für die Armen ausgesprochen. Das sind Worte, die sich uns einprägten. Medellín bestätigte, dass auch wir Campesinos Kirche sind. Kirche ist nicht nur die Hierarchie, die Kirche sind wir alle“ (Concepción Silva, Katechet).
Dammert erreichte 1969 in Gesprächen mit Papst Paul VI., dass seine Diözese unter Missionsrecht (Ius missionale) gestellt wurde.[2] Dies ermöglichte es, dass die bestehenden Gesetze gemäß den regionalen Notwendigkeiten ausgelegt werden konnten und Laien, Männer und Frauen, zu Gemeindeleitern, Täufern und allgemein zu pastoralen Diensten (Eheschließung, Bußandachten, etc.) beauftragt werden konnten. „Der Papst ermutigte mich von ganzem Herzen, mit meiner bisherigen Arbeit fortzufahren, trotz aller Schwierigkeiten. Er drängte mich, einige Experimente weiterzuführen, ein Ritus für die Taufe durch ländliche Katecheten auszuarbeiten, ebenso einen Katechismus, angepasst an die Mentalität und das Verständnis der Campesinos. Er hielt mich an, das Verständnis des Priestertums in einer andinen Umgebung neu zu entwickeln“.
Feier der Eucharistie: Erinnerung – Danksagung - Vorwegnahme der Herrschaft Gottes
In den meisten der etwa 200 Comunidades („Indiogemeinden“) der Pfarrei Bambamarca wurden regelmäßige Versammlungen abgehalten und priesterlose Gottesdienste gefeiert, in einigen Regionen wöchentlich, in anderen monatlich und nicht notwendigerweise an einem Sonntag. Ein solcher Gottesdienst dauerte 4 - 6 Stunden. Die Familien brachten je nach Möglichkeit Essen und Trinken mit. Gesang, Begrüßung, Grund des Zusammenseins, Rückblick und Ausblick auf gemeinsame Aufgaben, Hören der Frohen Botschaft und das Sprechen über das Gehörte im Lichte der eigenen Sorgen und Hoffnungen gehörten zum „Inventar“ des Treffens. Höhepunkt war das gemeinsame Mahl. Alle hatten schon zu Beginn ihre mitgebrachten Speisen (manchmal war auch an Ort und Stelle gemeinsam gekocht worden) auf ausgebreitete Tücher oder Ponchos abgelegt. Der Leiter und Katechet der Gemeinde nahm nach einer Einführung ein Brot, zeigte es allen und sprach die Worte, die Jesus im Abendmahl sprach. Wenn wir das alles miteinander teilen als Zeichen für all das, was wir für ein Leben in Würde brauchen, dann ist Jesus mitten unter uns und wir werden selbst zu „Brot und Wein“ für andere. Danach ging das Fest weiter und es endete mit einem gemeinsamen Segen. Ein solcher Gottesdienst wurde als Krönung dessen verstanden, was im Alltag gelebt wurde: Leben und arbeiten, säen und ernten in Gemeinschaft, Beistand für Kranke und Bedürftige, usw. Die Gegenwart des Auferstandenen wurde leibhaftig erfahren.
IV. Medellín und wir in Europa
In einem Interview mit dem Portal Weltkirche der DBK wurde mir folgende Frage gestellt: „Die Forderungen des Katakombenpakts von 1965 nach einer dienenden und armen Kirche sind heute noch genauso aktuell wie damals. Wo sehen sie diese Verpflichtungen in der Kirche in Deutschland umgesetzt?“
„Da sehe ich leider noch große Unterschiede. Die Kirche in Deutschland steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite ist sie die reichste Kirche der Welt. Sie hat die finanziellen Mittel, unglaublich viel Gutes zu tun – nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland. Das ist ein großer Schatz. Auf der anderen Seite bringt der Reichtum auch Gefahren mit sich. Auf der zweiten Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín wurde der Geist des Konzils konkret auf die Lebenswirklichkeit der Leute angewandt. Die Bischöfe kamen zu dem Schluss: So wie die Menschen in Lateinamerika leben, als Arme, das ist nicht der Wille Gottes. Das ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit. Gott will nicht, dass Kinder verhungern, obwohl es genügend Nahrungsmittel gibt.
Diese theologische und gesellschaftspolitische Analyse wurde so in Europa und speziell in Deutschland nicht durchgeführt. Wäre dem so gewesen, hätte man sich vielleicht als eine Kirche entdeckt, die selbst in ein ausbeuterisches System eingebunden ist und von den herrschenden Verhältnissen mit profitiert. Das wäre eine sehr bittere Selbsterkenntnis gewesen. Aber gerade diese Einsicht ist notwendig, sonst kann es keine Umkehr geben.“
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[1] Die Pfarrei Bambamarca (etwa 100.000 Katholiken, 95% Campesinos) war das Pilotprojekt der Diözese Cajamarca und wurde über Peru hinaus zum Vorbild einer befreienden Kirche und Pastoral, siehe auch „Vamos caminando“, das Glaubensbuch der Campesinos. G. Gutiérrez ging dort nach eigenen Angaben „in die Lehre“. Bischof Dammert brachte, ausgehend von den bereits in seiner Diözese eingeführten Praxis, mit G. Gutiérrez diese Erfahrungen dann in Medellín ein.
[2] Lateinamerika als Missionsgebiet – nach 400-jähriger „Missionierung“ und fast alle getauft? Wie sieht es in Deutschland (Europa) aus? Wäre es nicht an der Zeit, Deutschland nun auch zum Missionsgebiet zu erklären?