Für das Treffen der Fidei-Donum-Priester (deutschsprachige Priester in Lateinamerika) wurde ich gebeten, einen Vortrag (Impuls) für das Thema für das Thema "Der synodale Weg" zu halten. Das konkrete Treffen wird nach Ostern in Buenos Aires, Argentinien stattfinden. Dieser Text gilt als Vorbereitung für das Treffen.
Der synodale Weg – einige Hinweise (18.01.2022)
Ich verfolge intensiv den synodalen Prozess, nicht nur in Deutschland, war auch in diözesanen und örtlichen Gremien und werde täglich mit Stellungsnahmen etc. konfrontiert. Zudem lese ich die Texte von lateinamerikanischen Theolog/innen. Es gibt sehr viel Widersprüchliches in diesem Prozess, auch sehr unterschiedliche Interessen, die nicht so offen angesprochen werden. Die Situation in den einzelnen Kirchengemeinden vor Ort spielt fast keine Rolle bzw. ist einfach zu wenig bekannt. Es wird viel Aufwand betrieben, der Apparat wird zusätzlich aufgebläht, aber gerade dadurch wird die Kommunikation zwischen „oben und unten“ eher erschwert. Dennoch bin ich weiter der Meinung, dass es zu einem echten Dialog kommen muss, zu einer gemeinsamen Suche, aber im Bewusstsein, dass es verschiedene Standorte gibt (Ausgangspunkte), es diese auch weiterhin geben wird und dass niemand das Allheilmittel kennt oder gar besitzt.
Kardinal Marx zum Start am 1.12.19: „Papst Franziskus fordert uns auf, eine synodale Kirche zu werden und unseren Weg gemeinsam zu gehen. Es soll ein Weg der Umkehr und der Erneuerung sein, der dazu dient, einen Aufbruch im Lichte des Evangeliums zu wagen und dabei über die Bedeutung von Glauben und Kirche in unserer Zeit zu sprechen“. Was soll der „Synodale Weg“ sein und wohin soll er führen? Zwar ist es erfreulich, dass Laien und ihre Vertretungen, Bereitschaft zum Mitmachen bekundet haben. Das ändert aber nichts daran, dass Beschlüsse derartiger Versammlungen bisher einfach nicht respektiert wurden.
Aber was wurde denn eigentlich beschlossen? In unserer Diözese gab es einen Dialogprozess (2011 -14), darauf aufbauend (?) eine Kirchenerneuerung namens „Kirche am Ort“ (2015 - 18) - und nun schon wieder ein neuer Aufbruch? Dienen vielleicht all diese Erneuerungsprogramme eher dazu, dem Volk Gottes mehr Geduld und Resilienz einzuüben, damit es die klerikalen Zumutungen weiterhin und besser ertragen kann?
Der zunächst auf zwei Jahre angelegte „Synodale Weg“ begann am 1. Advent 2019; wegen der Corona-Pandemie konnten die weiteren Synodalversammlungen erst im Oktober 2021 und Februar 2022 stattfinden können. Für den Kirchenrechtler Norbert Lüdecke zeigt sich auch in diesem neuerlichen „Gesprächsangebot“, dass die deutschen Bischöfe ihre ganz eigene Art der Krisenbewältigung perfektioniert haben, um in von ihnen als bedrohlich empfundenen Situationen „Druck aus dem Kessel“ zu nehmen – ohne an den Strukturen etwas ändern zu müssen. Der „Synodale Weg“ ist aber nur dann sinnvoll, wenn er ein verbindliches Ziel vor Augen, einen wegweisenden Charakter hat und vor allem Neues auch beschließen kann.
„Synode“ meint Zusammenkommen, gemeinsam sich des Weges vergewissern und sich auf den Weg machen. Jesus der Christus fordert seine Jünger*innen auf immerhin wohl gläubige ihrer Zeit! - umzukehren und ihm nachzufolgen. Kirche Jesu Christi sein bedeutet demnach die Gemeinschaft derer, die sich im Namen Jesu versammeln und gemeinsam aufbrechen. Dieser Wege - Gedanke setzt Ursprung und Ziel des Weges voraus. Am Anfang des Weges steht die Umkehr. Das würde bedeuten zu erkennen, dass wir bisher auf dem falschen Weg waren.
In der Tat: Das Bewusstsein wächst, dass wir in einer Sackgasse gelandet sind. Papst Franziskus sagte in der Ansprache beim Treffen der Volksbewegungen, 2015: „Erkennen wir, dass dieses System die Logik des Gewinns um jeden Preis durchgesetzt hat, ohne an die soziale Ausschließung oder die Zerstörung der Natur zu denken? Ja, so ist es, ich beharre darauf, sagen wir es unerschrocken: Wir wollen eine Veränderung, eine wirkliche Veränderung, eine Veränderung der Strukturen. Dieses System ist nicht mehr hinzunehmen; die Campesinos ertragen es nicht, die Arbeiter ertragen es nicht, die Gemeinschaften ertragen es nicht, die Völker ertragen es nicht… Und ebenso wenig erträgt es die Erde“.
Wenn wir von „katholischer Kirche“ sprechen, meinen wir immer auch die weltweite, allumfassende Kirche als Einheit, also Aufbruch weltweit. Der Ausgangspunkt ist allen gemeinsam: das Evangelium, das Ziel ebenfalls: die Herrschaft Gottes, die jetzt schon in den Taten und Worten Jesu und seiner Jünger*innen aufleuchtet und sichtbar wird. Die Ausgangslage für einen weltkirchlich gemeinsamen Weg ist aber verschieden. Beispiel Eucharistie, dem Grundsakrament von Kirchesein: Wenn wir Eucharistie feiern, dann feiern wir dies immer auch im Namen der weltweiten („katholischen“) Kirche. Wie können wir uns aber gemeinsam mit denen an einen Tisch setzen, für die noch nicht einmal die Brosamen übrigbleiben, die von unserem überreich gedeckten Tisch fallen? Wir können nicht miteinander Eucharistie feiern, während oder falls wir gleichzeitig bemüht sind, unseren schon üppig gedeckten Tisch noch üppiger zu decken - und dafür in Kauf nehmen, dass immer mehr Menschen um ihr Leben gebracht werden. Christlicher Glaube zeigt sich aber darin, dass wir im Namen Gottes und in der Nachfolge Jesu das Brot, die Früchte unserer Mutter Erde und unser Leben miteinander teilen.
Es gibt diesbezüglich zwar einige wegweisende Stellungnahmen sowohl von Papst Franziskus (u.a.) als auch vom Weltkirchentag (ÖRK, letzte Vollversammlung in Busan 2013, die nächste in Karlsruhe 2022), doch was davon ist in unseren Kirchengemeinden angekommen? Dabei stellte sich heraus, dass ausgerechnet in Deutschland diese zentralen und wegweisenden weltkirchlichen Botschaften entweder kaum bekannt sind oder nicht ernst genommen werden.
Liegt dies vielleicht daran, dass die deutschsprachigen ev. und kath. Kirchen die mit Abstand reichsten Kirchen weltweit sind - mit einer immer noch bestens ausgestatteten Infrastruktur und Kirchenapparaten, mit viel Personal, meist mit Pensionsanspruch (auch ich), und auch theol. Fakultäten wie sonst an keinem Ort der Welt. Ist dies vielleicht auch ein Grund, warum deutsche Theologen sich immer noch anmaßen, die ganze Welt zu belehren und Schulnoten für ihnen „fremdartige“ Entwürfe aus ehemaligen Kolonialländern zu verteilen?
So ist z.B. in der deutschen Kirche, erst recht in Reformkreisen, die Schreiben des Papstes („Querida Amazonia“) zur Amazonassynode sowie „Fratelli Tutti“ überwiegend mit großer Enttäuschung aufgenommen worden. Die Erwartung war, dass die Zulassungsbedingungen zum Priesteramt für verheiratete Männer und dann auch Frauen zumindest gelockert werden. Doch bei der Amazonassynode geht es vor allem um ganz andere Themen. Es geht um das Überleben ganzer Völker, nicht nur in Amazonien, es geht um unsere gemeinsame Zukunft als Menschheit.
Aber in unseren Kirchengemeinden sorgen sich oft die Gläubigen (diejenigen, die nicht schon längst weg sind) eher darum, noch einen „eigenen“ Pfarrer zu bekommen, statt sich selbst zu organisieren. Das Ziel ist wohl eine Kirche als „Wellnessverein“, in der man allerdings noch einige „alte Zöpfe“ wie Zölibat und die exklusive Männerherrschaft abschaffen muss, um sich dann auch wirklich wohlfühlen zu können. Dieser Blick ad intra (kirchenintern) trübt oder verhindert gar den Blick ad extra - den Blick auf das von uns mitverursachte Elend weltweit. Dennoch: Man darf und kann „ad intra und ad extra“ nicht gegeneinander ausspielen. Denn nur eine Kirche, in der es innerhalb gerecht und transparent zugeht, kann nach außen glaubwürdig sein.
Auch unsere Partner im Süden hatten sich vom Papstschreiben mehr erhofft, zumal die Vorschläge auf der Synode in Rom eine Offenheit bei den Zulassungsbedingungen zum Priesteramt erwarten ließen. Hauptargument: Das Recht von christlichen Gemeinschaften und Kirchengemeinden auf die Feier der Eucharistie steht über den zeitlich bedingten Vorschriften der Zulassung zum Priestertum. Dennoch sieht man das Schreiben des Papstes etwas gelassener. Denn einerseits gibt es in zunehmendem Maße wieder Gemeinden, die ganz gut ohne Priester im herkömmlichen Sinn auskommen, in denen Frauen Gemeinde leiten, Gottesdienste feiern, etc. und die sowohl von ihrem Bischof und der Gemeinde selbst dazu berufen wurden. Andererseits interpretiert man das Schreiben sehr kreativ.
Der Papst hat die Tür für neue Wege nicht zugeschlagen, alles ist offen. Da Papst Franziskus sich immer wieder sehr kritisch über Klerikalismus, Selbstreferentialität des Klerus und entsprechende Privilegien etc. äußert, fühlt man sich ermutigt, dagegen etwas zu tun und genauer hinzusehen. Brauchen wir wirklich noch mehr der Keuschheit verpflichtete („reine“) Männer als Priester? Hat denn Jesus das Sakrament der Priesterweihe gestiftet und Priester geweiht? Davon steht nichts in der Bibel. Vielmehr haben sich die ersten christlichen Gemeinschaften „von unten“ gebildet und entsprechend den vorhandenen Charismen organisiert. Die beauftragten Koordinator*innen“ der Gemeinschaft leiteten auch die Gottesdienste. Mit der Taufe (als bewusste Entscheidung erwachsener Menschen) wird man Mitglied einer christlichen Gemeinschaft. Mit der Taufe haben wir alle in gleicher Weise teil an der Sendung und in der Nachfolge Jesu.
Bemerkenswert ist eine Aussage von Franz Josef Overbeck, neu gewählter Vorsitzende der Glaubenskommission in der Bischofskonferenz. Gestützt auf die Definition von Kirche als „Volk Gottes“ folgert er, dass wir „Licht der Welt“ nur selber sind, wenn wir mit den Tränen . . . so vieler Betroffenen wirklich ernst umgehen. "Um es deutlich zu sagen: Wir können deswegen auch von einem Lehramt der Betroffenen sprechen. So werden sie in die Nähe Jesu gerückt. Und es ist mir wichtig, dass wir an dieser Stelle wissen: Das ist das einzige wirklich unfehlbare Lehramt.“
Bischof Overbeck hat damit der gesamten Kirche und der Synode den Weg gewiesen. Die Orientierung liegt jetzt nicht mehr bei einer Amtshierarchie von alten geweihten Priestern, sondern bei den Missbrauchten, Gedemütigten, Erniedrigten, Leidenden. So kann die Kirche zur heiligen Kirche des Gottes werden, der in der Bibel der Gott aller Leidenden ist, aller Unterdrückten und Verlassenen, der Gott der Witwen und Waisen. Daraus folgt die Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe. Jesus als der Christus verkörpert diese zu Mensch gewordene Liebe Gottes. Seine Tischgemeinschaften mit den „Wegwerfmenschen“ wurde von der damaligen Amtskirche, den Tempelpriestern als Skandal angesehen. Er sitzt nicht auf einem Ehrenplatz, er sitzt mit allen auf einer Bank. Er revolutioniert (in ihr Gegenteil verkehren) die herrschende Sitzordnung bzw. die gesellschaftlich-politische Rangordnung. Er will nicht bedient werden, er selber wäscht den Jüngern die Füße.
Für einige bekannte Theologinnen ist dies übrigens das wesentliche Merkmal der Nachfolge Jesu. Die Fußwaschung war in den Gemeinden des NT ein Frauendienst. Es ist also das Beispiel der Frauen, das Jesus als Leitbild für seine Nachfolge wählt. Die Männer des Evangeliums stehen dagegen in seltsamen Kontrast zu diesen Frauen. Es sind fast nur Männer, die geheilt werden müssen oder die Jesus nicht verstehen. Sie sind es, die der Heilung bedürfen. Sie sind blind und lahm, sterben fast oder sind schon tot. Außerdem: Sie hören zwar das Wort Gottes (die Frohe Botschaft), verstehen es aber nicht und das Entscheidende: Jesus ist auferstanden, er lebt, er ist mitten unter uns, aber sie sind taub und blind.
Es ist schließlich eine Frau, die voller Liebe ist und die deswegen versteht, dass Jesus lebt und die dann seinen männlichen Jüngern die Augen öffnet. Wenn also doch von den „Ersten im Reich Gottes“ die Rede sein sollte, dann von Menschen wie Maria Magdalena (Maria von Bethanien?) statt von Männern in römischen Gewändern (und wohl auch römischer Gesinnung) und gar mit einer Mitra auf dem Kopf, dem Hoheitszeichen der Pharaonen, die das Volk Gottes versklavt hielten. Fiorenza Schüssler: „Wenn wir alle diese Aspekte berücksichtigen, so ist der/die Evangelistin daran interessiert, Maria von Bethanien als die wahre Jüngerin und Amtsträgerin zu schildern. Maria nimmt Jesu Gebot, als Zeichen der Agape-Praxis wahrer Nachfolge einander die Füße zu waschen, vorweg“.
Brauchen wir denn einen Klerikerstand?
Jesus hat keine Menschen zu Priestern geweiht. Das Wort „Klerus" taucht im Neuen Testament nicht auf. Dieser Begriff wurde wahrscheinlich im 3. Jahrhundert von einigen christlichen Schriftstellern eingeführt. Unter „Klerus" wurde eine Gruppe von „privilegierten" Menschen verstanden, privilegiert, weil sie von Steuerlasten und anderen Verpflichtungen befreit waren, die der Kirche gewährt wurden - insbesondere ab dem Jahr 313, anlässlich der sogenannten Bekehrung von Kaiser Konstantin. Diese „Privilegierten" verstanden sich nun als die Führer der Kirche.
Kurz gesagt, der Klerus hob sich damit wie selbstverständlich vom gemeinen Volk ab. So ist und bleibt es seit dem 4. Jh. Wenn es jedoch eine Sache gibt, die in den Evangelien klar ist, dann ist es dies, dass Jesus in seiner Gemeinschaft der „Anhänger" und Jünger*innen weder Privilegierte noch Privilegien wollte, siehe das Beispiel von Jakobus und Johannes. Und vor allem gab Jesus seinen Aposteln beim Abschiedsessen das Beispiel des Lebens, das sie führen sollten: Die Füße anderer waschen (Joh 13,12-15). Das bedeutete, dass sie ihr Leben nicht als abgehobene Kaste, als „Privilegierte“, sondern als „Sklaven“ im Dienst des Nächsten führen sollten.
Der Schlüssel von Franziskus´ Begründung eines Perspektivenwechsels hin zu einer neuen Ordnung ist seine Auslegung der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) in „Fratelli Tutti“. In der Welt gibt es Räuber, die Menschen ausplündern. Daher sei an dieser Stelle näher darauf eingegangen. Es ist eine Geschichte, die sich heute wiederholt. „Dieses Gleichnis ist ein aufschlussreiches Bild, das fähig ist, die grundlegende Option hervorzuheben, die wir wählen müssen, um diese Welt, an der wir leiden, zu erneuern. Angesichts so großen Leids und so vieler Wunden besteht der einzige Ausweg darin, so zu werden wie der barmherzige Samariter. Jede andere Entscheidung führt auf die Seite der Räuber oder derer, die vorbeigehen, ohne Mitleid zu haben mit den Schmerzen des Menschen, der verletzt auf der Straße liegt.
Das Gleichnis zeigt uns, mit welchen Initiativen man eine Gemeinschaft erneuern kann, ausgehend von Männern und Frauen, die sich der Zerbrechlichkeit der anderen annehmen. Sie lassen nicht zu, dass eine von Exklusion geprägte Gesellschaft errichtet wird, sondern kommen dem gefallenen Menschen nahe, richten ihn auf und helfen ihm zu laufen, damit das Gute allen zukommt. Den Glauben so zu leben, dass er zu einer Öffnung des Herzens gegenüber den Mitmenschen führt, ist die Gewähr für eine echte Öffnung gegenüber Gott. Der hl. Johannes Chrysostomos hat diese Herausforderung für die Christen mit großer Klarheit zum Ausdruck gebracht: »Willst du den Leib Christi ehren? Dann übersieh nicht, dass dieser Leib nackt ist. Ehre den Herrn nicht im Haus der Kirche mit seidenen Gewändern, während du ihn draußen übersiehst, wo er unter Kälte und Blöße leidet«.“ (FT 67)
Christen in Deutschland befinden sich eher in der Situation des Priesters oder Leviten, die gewohnheitsmäßig (!) ihren Weg zum Gottesdienst im Tempel in Jerusalem gehen. Sie können nicht sehen, dass der unter die Räuber Gefallene etwas mit ihnen zu tun haben könnte und erst recht nicht mit ihrem Glauben an Gott. Der Mensch im Straßengraben hat nicht die oberste Priorität, er wird so nicht wirklich als Mitmensch und nicht als Opfer erkannt. Es zählt nur das Opfer im Tempel. Jesus aber stellt diese religiöse Ordnung auf den Kopf: Es gibt nichts Wichtigeres als der Mensch im Straßengraben. Er ist das „Sakrament Gottes“ (G. Gutiérrez).
Dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen bedeutet, den scheinbar rechten Weg des Glaubens zu verlassen. Nun gilt es aber nicht nur dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen, sondern danach zu fragen, wie es zu dem Verbrechen kommen konnte und danach, wie die Wege beschaffen sind, die im Grunde fromme Menschen dazu verleitet im Vertrauen auf den richtigen Weg an den Opfern vorüber zu gehen. Wer hat mit welchem Interesse die Wege so gebaut, dass sie zwar zum Tempel in Jerusalem führen, nicht aber zu dem Menschen im Straßengraben? In heutiger Sprache: Wie lange noch will sich die Kirche - selbstreferentiell, wie der Papst mahnt - vorrangig um sich selbst drehen? Es geht also darum, als Gemeinschaft „auf dem Weg“ seine Verantwortung gegenüber dem Opfer und seine eigene Verstrickung zu erkennen und seinen Weg zu ändern.
Gemeinsam auf dem Weg - Richtung und Ziel des gemeinsamen Weges
Wir scheinen vor einem Epochenwechsel globalen Ausmaßes zu stehen: Über Tausende von Jahren hinweg hat die Menschheit bestimmte Verhaltensregeln entwickelt, um die destruktiven Seiten des Menschen einigermaßen zu zähmen und die Gleichheit aller Menschen zu entwickeln. Doch nun steht dies zur Disposition: „Immer mehr, jeder für sich und einer gegen alle, wer etwas hat, der hat Recht und wer nichts hat, hat bestenfalls Pech gehabt oder ist selbst schuld“, das wird zur Grundregel unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens erklärt - ohne jede Alternative. Im Zuge der Kolonialisierung seit dem 16. Jh. wurde dieser Irrweg globalisiert und damit als erste Regionalkultur universalisiert.
Mit Papst Franziskus werden die zentralen Themen des Evangeliums wieder mehr an Bedeutung gewinnen. Dies betrifft auch die Kirche selbst. Themen wie eine „Kirche der Armgemachten“ bzw. eine (materiell) arme Kirche sind eine prophetische Herausforderung gerade auch an unsere Diözesen und Landeskirchen - an uns alle. Eine jesuanische Spiritualität, die uns in ausgegrenzten und leidenden Menschen den gekreuzigten Christus entdecken lässt, wird zu einem radikalen Umdenken führen und Welt und Kirche erneuern.
Bischof Fragoso 1973, Brasilien: „Wir können mit der Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie den Atheismus predigen, wenn wir uns nicht für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen. Die uns im Gotteshaus versammelt sehen, sehen sie uns auch Hand anlegen beim Kampf um die Gerechtigkeit, damit alle unsere Geschwister in Würde leben können?“. Bischof Fragoso wurde wie andere wegen diesem seinen Glauben eingesperrt und misshandelt - solche Frauen und Männer sind daher die wahren Zeugen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi.
Eine wirkliche Umkehr und damit auch eine Erneuerung der Kirche wird es daher ohne eine vertiefte Spiritualität bzw. eine Vertiefung des Glaubens an Jesus den Christus nicht geben. Eine jesuanisch geprägte Spiritualität hat aber nichts zu tun mit der bei uns üblichen Suche nach Spiritualität, wo es oft zuerst um meine Seele, „meinen“ Gott oder um die eigene Befindlichkeit geht. Eine biblisch-jesuanische und somit eine unterscheidend christliche Spiritualität besteht darin, im gekreuzigten Nächsten das Antlitz des gekreuzigten Christus zu erkennen und an der Seite der Gekreuzigten darum zu kämpfen, dass immer weniger Menschen den global agierenden Räuberbanden zum Opfer fallen.
Die „weiße“ Theologie, ihre Worte und Phrasen gleichen dagegen oft noch eher einer Kunstwährung, die durch nichts mehr gedeckt ist, hohl, unglaubwürdig, und doch das Verkündigungsmittel einer kleinen Elite, die - wenn überhaupt noch in Beziehung - nur noch auf sich selbst bezogen ist, die fern von dem Geist des Evangeliums und fern den Menschen und ihren tiefen Bedürfnissen, nur noch selbstgefällig um sich kreist und die alles in ihrer Machtstehende unternimmt, um diesen sinnlosen Leerlauf und diesen hohlen Apparat am Leben zu erhalten.
Eingesperrt im „Goldenen Käfig“ und innerhalb einer Gesellschaft, deren Wohlstand teilweise immer noch auf der Ausbeutung ganzer Völker beruht, wird es schwer sein, eine jesuanische Spiritualität zu entwickeln, aber es ist nicht unmöglich, weil es sonst nicht möglich wäre auszubrechen und aufzustehen! Das Beispiel vieler Menschen, die in der Nachfolge Jesu bereit waren, ihr Leben dafür einzusetzen, kann uns Mut machen. Der Weg mit Jesus ist ein Weg der Solidarität mit den Armen und Bedrängten aller Art. Wenn wir mit ihnen das Brot brechen und teilen, dann werden wir zur wahren Gemeinde Jesu Christi, dann werden wir selbst - als Gemeinde und als jeder Einzelne - zum Brot des Lebens für andere.
Anmerkung 1: Christliches Abendland?
Diese Theorie und Praxis des „christlichen Abendlandes“ - einschließlich des weißen Amerika - hat natürlich seinen Ursprung nicht in der Bibel, sondern in deren Auslegung aus der Perspektive einer spätestens seit dem 4. Jh. imperial gewordenen Kirche (konstantinische Wende) anstelle einer Auslegung aus der Perspektive der „Aussätzigen“, der versklavten und in Schuldknechtschaft lebenden Menschen zur Zeit Jesu, die zudem unter dem unbarmherzigen Joch eines brutalen Imperiums litten.
Ein Beispiel für eine derart pervertierte Auslegung ist u.a. das „Gleichnis von den anvertrauten Talenten“ (Mt 25, 14-30). Darin wird ein Sklave belohnt, der das eh schon große Vermögen seines Herrn (woher das wohl kam?) in kurzer Zeit verdoppelt hat, während der Sklave, der entsprechend der Weisung der Tora mit dem ihm anvertrauten Vermögen verantwortungsvoll umgegangen ist - also die Talente nicht auf Kosten seiner Mitmenschen vermehrt hat - aufs Schärfste bestraft. „Er hat sich so verhalten, wie es Jesus in der Bergpredigt gelehrt hat. Er hat nicht dem Mammon gedient“ (Luise Schottroff). Mt 25, 26-28: „Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe. Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten. Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!“ Das ist eben die Logik dieser Welt!
Das nachfolgende Gleichnis vom Endgericht erklärt dagegen, wie es eigentlich sein sollte und was der eigentliche Maßstab für den Menschen und vor Gott ist. Diese beiden Gleichnisse stehen als Gegenpole am Ende des öffentlichen Auftretens Jesu - gewissermaßen als Zusammenfassung seiner Botschaft: Einerseits wie die Welt ist - andererseits wie die Welt sein sollte und sein wird, wenn wir als seine Jünger*innen gemeinsam mit ihm aufstehen und in seinem Geiste die Welt verändern.
Wenn man dagegen in seinem über Jahrhunderte tradierten Weltbild („Narrativ) verhaftet bzw. gefangen bleibt, wird man alles, vor allem alles Fremde (das „Andere“) stets so verstehen, wie man es gewohnt ist bzw. wie es alle innerhalb desselben Kosmos verstehen. Notwendig wäre es daher, unsere „Festplatte“ zu formatieren*, was allerdings sehr schwer sein dürfte. Denn was bleibt dann noch? Wie sollten wir sehen und unterscheiden können, was eigentlich nur noch „Folklore“ ist und in wessen Dienst unsere Ideologie und unser Glaube (an was?) steht.
Ernesto Dussel, bereits 1973: „Die auf Herrschaft ausgehende Expansion der griechisch-lateinisch-germanischen Christenheit formuliert dementsprechend eine auf Herrschaft ausgerichtete Theologie. … Schließlich ermöglichte die Expansion des Kapitalismus und Neokapitalismus den darin beheimateten Christen des Zentrums, bestenfalls eine Theologie des Status quo und einen Ökumenismus der friedlichen Koexistenz zu formulieren, um desto besser über die Peripherie herrschen zu können“.
Ein Anstoß von „außen“, unseren Standort wechseln, eine neue „Brille“ aufsetzen, neu sehen und hören lernen - das ist eigentlich das, was Jesus von uns fordert und das Gott uns auch zutraut. Es sind die Armgemachten, die uns helfen können, ein neues Programm aufzuspielen, nämlich die Botschaft Jesu und der Propheten neu zu verstehen und im Schrei der Mutter Erde und den Schrei der Menschen nach Gerechtigkeit und dem „täglichen Brot“ als den Anruf Gottes zu verstehen und umzukehren. „Die Armen evangelisieren uns“ heißt ein Slogan aus den Anfängen der Theologie der Befreiung. Denn es ist ein hermeneutisches Privileg der Armgemachten, die Nutznießer der westlichen Herrschaft aufzufordern, sich als Reiche in der Umkehr zu üben, auch zu deren eigenem Heil, weil dies ein zentrales Thema der biblischen Botschaft ist.
* „Festplatte formatieren“: Das könnte zu einem neuen Begriff für „Umkehr“ werden. Bisherige Denk- Verhaltens- und Lebensweisen (Kultur, Weltbild, Organisationsformen, Praktiken, etc.) verhindern, neue Herausforderungen bewältigen zu können bzw. sie sind nicht in der Lage, diese Herausforderungen als solche zu erkennen. Etwas als „Irrweg“ zu erkennen kann man ja nur dann, wenn man eine Vorstellung davon hat, wie es eigentlich sein könnte.
Es kann aber auch sein, dass über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg die ursprünglich sinnvoll programmierte Festplatte derart zugemüllt wurde, dass das ursprüngliche Programm nicht mehr funktioniert. Da hilft nur löschen und ein neues Programm aufspielen. Und, wir als Christen haben ein Programm, es wurde uns geschenkt: Eine befreiende Botschaft, eine „Gute Nachricht“, die Worte und Taten des Jesus von Nazareth, in der Tradition der biblischen Propheten.
Anmerkung 2: Zur Interpretation des Schöpfungsberichts:
Die bisher verstandene Bedeutung - Beherrschung der Natur - führt zur Zerstörung, sie ist zudem falsch, da sie die ursprüngliche Aussage völlig falsch verstanden hat. Sie wurde vom griech.- europäischen Denkmodell her verstanden und entsprechend übersetzt und gedeutet. Das europäische Denkmodell (Kosmovision) übersetzt z.B. das hebräische Schlüsselwort „kabash“ entsprechend der eigenen Denkweise mit erobern und unterjochen. Und diese Deutung wurde dann durch die Kolonialisierung globalisiert. Im hebräischen Denken - und damit in korrekter Übersetzung - bedeutet „kabash“ zum „Bereich Gottes gehörend“, allgemeiner:
Die Schöpfung Gottes gehört nicht uns, den Menschen. Wir können nicht über sie verfügen, sie ist uns bestenfalls nur geliehen. Und das bedeutet im biblischen Denken: Wir müssen sie im Sinne des Eigentümers (Gott) gestalten: Im Dienst des Mitmenschen, besonders der Ausgegrenzten, in Beziehung mit den anderen Geschöpfen; die Güter der Erde sind für alle Menschen bestimmt und der Zugang zu den Gütern der Erde muss allen Menschen offenstehen, denn sie dienen dazu, dass alle Menschen in Würde leben können, als Kinder Gottes, als sein Ebenbild. Das schließt natürlich das Leben zukünftiger Generationen mit ein.
Fazit: Eine orientalisch geprägte Kultur wurde in die europäische Denkweise übersetzt und daher völlig verfälscht, weil - wie gesagt - in der griech.-römischen Denkweise der Mensch der absolute Herrscher über die Natur ist, er sie rücksichtslos ausbeuten darf und in der die Natur gar als feindlich betrachtet wird, die es zu zähmen gilt.
In gleicher Weise wurden auch andere grundlegende Aussagen der Bibel, besonders der Worte und Taten Jesu, von einem europäisch-imperialen Denken her gedeutet und damit verfälscht oder gar in ihr Gegenteil verkehrt. Im Verlauf der Kirchengeschichte (und bis heute) führte dies zu verheerenden Konsequenzen!
10 Thesen – in Form von Fragen und Diskussionspunkten (eher „ad intra“)
Es müssen nicht alle Punkte besprochen werden > eigene Schwerpunkte herausgreifen bzw. selbst formulieren!
- Wie verbindlich können/dürfen Beschlüsse sein – bzw. können überhaupt Beschlüsse gefasst werden?
- „Alle, die sich für die Priesterweihe der Frau einsetzen – auch die Kirchenvolksbewegung –, kämpfen an einer erledigten Front. Stattdessen wäre das Priestertum selbst in Frage zu stellen.“ (H. Halbfas).
- Ist die Verfasstheit der röm.-kath. Kirche (Entscheidungsstrukturen) sakramental zu verstehen bzw. als von Jesus selbst gestiftet und daher ist eine grundlegende Reform gar nicht möglich? Hat Jesus Sakramente eingesetzt?
- Das amtliche und als nicht änderbar qualifizierte Selbstverständnis der katholischen Kirche sieht grundlegende Reformen gar nicht vor, die klerikale Hierarchie gehört vielmehr zum Markenkern? (Können oder sind Geweihte „mehr“? bzw. „näher bei Gott“)
- Sind die „Laien“ auch selbst schuld, wollen sie vor allem nur bedient werden? (Kirche als bloße, aber schöne Folklore)
- Wird Kirche vor allem immer noch als gesellschaftliche Befriedungs- und Werteagentur wahrgenommen (und zudem als ein auf dem Sozialmarkt unverzichtbarer Player) und wird daher noch gebraucht?
- Kann es einen echten Dialog zwischen Schafen und den Hirten geben, falls diese sich im Besitz göttlicher und ewiger Wahrheiten wähnen – also wirklicher Dialog Kirchenvolk – Hierarchie möglich?
- Bestellung oder gar Wahl der Gemeindeleiter/innen oder gar der Bischöfe? Demokratisierung „von unten“ ausgehend? Warum dient die Praxis der Urkirche zu wenig als Maßstab von Gemeindebildung?
- War (oder ist noch?) Verdrängung der menschlichen Sexualität ein Hauptgrund der Misere? (z.B. das 6. Gebot als DAS Hauptgebot)?
- Frohbotschaft statt Drohbotschaft: Ist der Mensch von Grund auf schlecht, wird als Sünder geboren und musste daher Gott zu seiner Rettung seinen eigenen Sohn opfern? (Augustinus theol. „Grunddogma“)
Eher „ad extra“:
- Was meinte Jesus, wenn er zur Umkehr aufrief, was bedeutete dies für die Menschen seiner Zeit - und heute? (Alter Mensch – neuer Mensch; der Beginn der Herrschaft Gottes mit Jesus – heute!)
- In welche Sackgasse sind wir nun geraten - als Kirche und als Menschheit?
- Erneuerung und Aufbruch: von einer (weißen) europäischen, imperialen und kolonialen Kirche hin zu einer armen, solidarischen und befreienden Kirche (Gemeinschaft der Jünger*innen Jesu)?
- Ziel: Eine weise statt einer „weißen“ Kirche weltweit – Kirche sein und Kirche werden aus der Perspektive der Kolonisierten. (Wer oder was ist „Weise“? – siehe u.a. die andine Kosmovision)!
- Kirche in unserer Zeit; gibt es denn bei uns (in der EU) eine gesellschaftlich-politische Analyse wie in Lateinamerika (z.B.: „Strukturen der Sünde“) - falls nein: warum nicht? ?
- Welche Wirtschafts-Finanz- und Kirchenstrukturen mit ihren zunehmenden Ungleichheiten und Spaltungen haben WIR zu verantworten und auf wessen Kosten leben wir?