Die Theologie der Befreiung als neue Theologie?
Grundlagen einer Theologie der Befreiung (Frankfurt St. Georgen WS 1973/74)
Die Theologie der Befreiung (TbB) versteht sich von ihrem Selbstverständnis her als eine neue Art Theologie zu betreiben. Ihr Ausgangspunkt ist die Botschaft Jesu Christi von der Erlösung / Befreiung des Menschen. Im Folgenden soll dies in Stichpunkten verdeutlicht werden (hier ohne explizit bibl. Exegese). Dieser Ansatz und der Begriff als solcher ist übrigens nicht zu verwechseln mit der akademisch - europäischen "Politischen Theologie", weil sie von einem ganz anderen Standort aus argumentiert.
I. Eigenart
1) Die TdB stammt aus Lateinamerika und ist ohne diesen Hintergrund (wirtschaftlich, geschichtlich, kulturell) schwer zu verstehen. Dies setzt voraus, dass man in diesen Kontext lebt oder ihn zumindest betroffen zur Kenntnis nimmt. Die TdB ist kein „Unterkapitel“ der allgemeinen Theologie und erst recht nicht irgendeine „folkloristische“ Bereicherung der klassisch-europäischen Theologie. Vielmehr versteht sie sich als eine völlig neue Weise des theol. Tuns und Denkens, die einen totalen Bruch mit den traditionellen Erkenntnismodellen voraussetzt. Die TdB als eine neue Sehweise, sowohl vom Zentrum der Botschaft Jesu Christi her, als auch vom Standpunkt der Menschen ausgehend, die unter die Räuber gefallen sind und beides zusammen im Kontext einer ganz bestimmten geschichtlichen – sozialen Situation. Dies hat in gleicher Weise für eine Theologie in der „Ersten Welt“ wie für eine Theologie in der „Dritten Welt“ zu gelten, nur sind die Ansatzpunkte verschieden.
Wenn in der Ersten Welt eine solche Theologie noch nicht entstanden ist, so hat dies seine Gründe. Den spezifisch europäischen Ansatzpunkt für eine befreiende Theologie zu finden, ist Aufgabe der europäischen Theologie, die aber bisher in dieser Richtung nichts getan hat, ja diese Herausforderung noch nicht einmal wahrnimmt. Geblendet von ihrem eigenen Glanz und Allwissenheit sieht sie nicht, dass sie eher eine Theologie der Sieger und nicht der Opfer betreibt. Träfe das zu, wäre sie in ihrem Kern zutiefst unchristlich (wie auch die europäische Kir- che, die von solch einer Theologie her ihre Rechtfertigung bezieht).
2) Die strukturelle Analyse: Man muss sehen (sehen im Sinne des Samariters, der den Menschen im Straßengraben als Bruder und Schwester erkennt), in welcher Situation die Menschen leben, in welchen Strukturen, in welchen wirtschaftlichen - sozialen - politischen und auch materiellen und geistigen Verhältnissen. Der erste Schritt ist also eine Analyse der bestehenden Wirklichkeit. Davon ausgehend wird nach dem Wie. dem Woher und dem Warum (Zweck) dieser Strukturen gefragt. Selbstverständlich werden diese Strukturen nicht als ontologische und über- oder außergeschichtliche Strukturen gesehen, sondern als von bestimmten Menschen geschaffen und zu verantworten.
Eine Analyse dieser Verhältnisse macht bald deutlich, dass die bestehenden Strukturen weltweite Strukturen der Unterdrückung, der Abhängigkeit und der Ungerechtigkeit sind – sowohl innerhalb der bestehenden Staaten als auch der Staaten und Völker untereinander. Die Instrumente dieser Analyse sind zuerst (nicht ausschließlich) die Sozialwissenschaften. Diese übernehmen nun die Rolle, die in der traditionellen Theologie die Philosophie (vornehmlich die klassisch-griechische) eingenommen hatte. Eine solche Analyse führt zu bestimmten Ergebnissen und zu einem bestimmten Bewusstsein, d.h. zum Beziehen bestimmter Positionen.
Die katholische Soziallehre erweist sich als ungenügend, weil sie z.B. die Geschichte der Eroberung, des Kolonialismus und des weltweiten Kapitalismus - aufgrund ihres eigenen Standortes- nicht hinreichend berücksichtigt. Sie ist daher nicht geeignet für eine objektive Interpretation der weltweit herrschenden Wirklichkeit. Die an Marx orientierte Analyse der Wirklichkeit wird dagegen als ein Werkzeug angesehen (obwohl auch ein typisch europäisches Produkt), das über einige „blinde Flecken“ der katholischen Soziallehre hinweg helfen kann. Zu beachten ist, dass es lediglich darum geht, die besten Werkzeuge zu finden, es geht hier nicht um Ideologien oder Glaubenswahrheiten (wenn auch das kategorische Ablehnen bestimmter Sicht- und Verfahrensweisen durchaus ideologisch bestimmt sein und blind für die Wirklichkeit machen kann).
3) Der „Sitz im Leben“: die jeweils konkrete historische und gesellschaftliche Situation (Realität). Das Erste ist die Verpflichtung der Liebe und des Dienstes, die sich in der Praxis zu bewahrheiten hat. Die Theologie als Reflexion und kritische Stellungnahme über die Praxis kommt danach oder als die Praxis begleitend. Theologie ist also Reflexion über die Praxis, die Pastoral und gelebte Nächstenliebe, und nicht umgekehrt. Selbstverständlich werden hier einerseits das Evangelium und der Glaube an Jesus den Christus schon vorausgesetzt. Andererseits wird das Evangelium erst in befreiender Praxis versteh- bar und der Glaube an Jesus den Christus verwirklicht sich erst in einer solchen Praxis.
II. Zusammenfassung des Bisherigen in Thesen
1. Die TdB ist kein Unterkapitel der Theologie, sondern sie versteht sich als neue Weise theologischen Denkens und Tuns für die gesamte Theologie (auch in Europa).
2. In der TdB ist die Theologie eine kritische Reflexion in und über die historische Praxis in Konfrontation mit der im Glauben angenommenen und gelebten Botschaft Jesu Christi.
3. Die theologische Reflexion (als Methode) lässt sich bestimmen von der Analyse der Wirklichkeit und von den Erfahrungen derjenigen Gläubigen, die schon im Befreiungsprozess stehen.
4. Theologie ist auf die Zusammenarbeit mit den Humanwissenschaften unbedingt angewiesen. Als Instrument der sozial-politischen Analyse darf die marxistische Analyse nicht a priori abgelehnt werden.
5. Ergebnis der Analyse: Die wirtschaftliche und politische Situation von Lateinamerika (und der arm gehaltenen Länder allgemein) ist gekennzeichnet von Abhängigkeit und Unterdrückung durch die rei- chen Länder einerseits, andererseits von der von außen auferlegten Übernahme kapitalistischer Strukturen, die auch innerhalb der einzelnen Länder zu Unterdrückung, Ausbeutung und Elend führen.
6. Angesichts der Unterdrückung, Abhängigkeit und geraubter Würde, in der die Mehrheit der Menschen in Lateinamerika leben („eine Sünde, die zum Himmel schreit), erhebt sich immer mehr der Ruf nach Befreiung. Eine Umkehr der bestehenden Verhältnisse (in denen das Kapital an erster Stelle steht) in neue Gesellschaften, die zuerst von den Bedürfnissen der „Schwächsten“ ausgeht, ist daher für Menschen, die an Jesus den Messias glauben, eine praktische Option ihres Glaubens.
7. Darum ist eine antikapitalistische Revolution vom Standpunkt des Friedens und der Gerechtigkeit wünschenswert, da sie in dieser geschichtlichen Situation am ehesten von allen auf der Linie der heils- geschichtlichen Befreiung liegt, die in und mit Jesus schon begonnen hat und von den Menschen selbst vorangetrieben werden muss. Vordergründiges Ziel einer solchen Umkehr: allen Menschen eines Landes ausreichend Nahrung, Kleidung und vor allem gleiche Rechte und Möglichkeiten zu geben, was innerhalb der herrschenden Strukturen nicht möglich ist.
8. Glaube an den Gott des Lebens (Leben in Fülle) und Glaube an Mammon (reines Profitdenken als Grundlage aller Werte) schließen sich aus. Der Glaube an Mammon führt zum Tode.
III. Befreiung als Ziel
1. Befreiung und Erlösung - drei verschieden Ebenen der Befreiung:
a) wirtschaftliche - politische - soziale Befreiung: Befreiung von wirtschaftlicher Abhängigkeit, Befreiung von unterdrückerischen Strukturen, Befreiung von bestimmten politischen Systemen, Diktaturen und Ideologien, vor allem aber Befreiung von Hunger, Not und Elend.
b) auf philosophischer Ebene: Geschichte wird als Befreiungsprozess des Menschen gesehen, in deren Verlauf dieser seine Geschichte selbst in die Hand nimmt (Emanzipation, Aufklärung etc.). Befreiung erscheint hier als Notwendigkeit des Menschen, alle seine in ihm angelegten Dimensionen entfalten zu können. Es entsteht das Bild eines Menschen, der sich Laufe seiner Existenz und seiner Geschichte immer mehr zu sich selbst findet (sein Selbst als solidarisches Wesen).
Die allmähliche Eroberung einer wirklichen und schöpferischen Freiheit führt zu einer permanenten Kulturrevolution, zur Schaffung eines neuen Menschen auf dem Weg zu einer qualitativ anderen, neuen Gesellschaft. Aus christlicher Perspektive bedeutet dies, das soeben Gesagte aus der Perspektive des Armen und des unterdrückten Vol- kes aus zu sehen und zu deuten.
c) auf theologischer Ebene: Die Bibel beschreibt uns Christus als denjenigen, mit dem dieser Prozess begonnen hat und in dem dieser Prozess in seiner Vollendung schon zeichenhaft offenbar wird. Es liegt an uns, diesen Weg einzuschlagen, in dem Bewusstsein dass Jesus mit uns auf dem Weg ist aber auch, dass es nicht in unserer Macht liegt, diesen Prozess vollenden zu können. Christus der Retter befreit den Menschen von der Sünde, die die letzte Ursache den Bruch der Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen und der Menschen untereinander ist.
Sünde heißt u.a.: sich selbst und seine Bedürfnisse zum Gott (zu Götzen) zu machen und sich daher auf Kosten anderer zu „verwirklichen“. Diese Sünde ist die eigentliche Ursache für die herrschende Ungerechtigkeit und für das Elend in dieser Welt als Folge hemmungsloser Bereicherung einiger Weniger auf Kosten der Mehrheit der Völker. Christus aber macht uns frei, er ermöglicht eine geschwisterliche Gemeinschaft mit ihm und in der Folge mit allen Menschen (und umgekehrt). Aber trotz Erlösung und Taufe, sind wie dennoch noch „Sünder“. Vollkommene Menschen wird es nicht geben, daher auch keine vollkommene Gesellschaft. Aber Jesus macht uns frei, gegen alle Ungerechtigkeiten aufzustehen und so die Grundlagen für eine gerechtere Welt zu legen. Schon im AT ist Gott für die Hebräer der Gott, der sie aus der Knechtschaft befreit hat.
Diese drei Bedeutungen schließen einander ein, sie bedingen sich einander, sie sind drei verschiedene Aspekte derselben Sache. Sie lassen sich nicht auseinander reißen, sondern sie bilden eine Einheit.
2. Begegnung mit Gott in der Geschichte
Weil Gott Mensch geworden ist, ist die menschliche Geschichte der Ort der Begegnung mit ihm. In den Menschen und im Engagement für die beschriebene Entwicklung der Menschen und der Menschheit als Ganzes ist Gott zu suchen und zu finden. Dies geschieht in besonderer Weise in der Begegnung mit den „Ausgeraubten und unter die Räuber Gefallenen“, denn mit ihnen hat sich Jesus zuerst identifiziert. Begegnung heißt hier: sich ebenfalls mit den Ausgeraubten zu identifizieren, mit ihnen zu leben und an ihrer Seite gegen Ungerechtigkeit und Gewalt zu kämpfen.
Weil sich Jesus als Christus zuerst mit den mit den Armen und Unterdrückten identifiziert, bedeutet ein Ausklammern der Armen und ein Ausklammern der Ursachen für deren Ausgrenzung usw. praktizierter A-Theismus. Die Brennpunkte der Begegnung mit Gott und der Heilsgeschichte sind die Befreiungsversuche die Unterdrückung, Armut, Selbstentfremdung … Die wahre Kirche, die Kirche Jesu Christi, wird in erster Linie von denen repräsentiert, die in dem Erlösungswerk, im Befreiungsgeschehen Christi in der ersten Reihe stehen und da- durch wie er selbst Verfolgung, Ausgrenzung und sogar den Tod erleiden.
Verbürgerlichte Christen und Kirchenführer, Stützen und Rechtfertiger eines unmenschlichen Wirtschaftssystems, stehen in ihrer Praxis im Widerspruch zur Botschaft und zum Leben Jesu. Eine solch reiche und angepasste Kirche wie z.B. die deutsche Kirche, ist ein Widerspruch in sich. Sie hat jedes Recht und jede Autorität verloren, sich Kirche Jesu Christi zu nennen. Sie ist in Wahrheit eine „römische Kirche“, die die weltweit herr- schende „Pax Romana“ („Amerikana“) rechtfertigt.
„Zeugen des Todes und der Auferstehung“ sind nicht irgendwelche Bischöfe und Prälaten (per se), sondern die Menschen, die mit den Leidenden dieser Welt im Kampf um eine bessere Welt (im Geiste Jesu Christi, bereit sind, das Kreuz auf sich zu nehmen. In ihnen und ihrem Anliege offenbart sich Gott und daher sind sie diejenigen, die allein authentisch und glaubwürdig die Kirche Jesu Christi repräsentieren.
3. Eschatologie und Politik
Politische und soziale Befreiung sind nicht die Erlösung und nicht das Kommen des Reichen Gottes. Aber sie sind eine momentan geschichtliche Realisierung des Reiches und daher auch eine Ankündigung der Fülle und Vollendung (ein Zeichen, quasi ein Sakrament, d.h. hier ein Ort der Begegnung mit Gott, vgl. Mt. 25). Die umfassende Liebe des Vaters zu verkünden führt unausweichlich zum Gegensatz zur weltweit und individuell herrschenden Ungerechtigkeit und daher unvermeidlich zu einer radikalen Kritik an all denen, die für diese systematische (systembedingte) Ausbeutung verantwortlich sind.
Denn diese Wirtschaftsstrukturen sind bewusst von Menschen so gemacht, dass sie zielgenau zur eigenen Bereicherung auf Kosten der anderen führen. Nebenbei: deswegen ist Liebe - sei zu Gott oder den Menschen - immer auch politisch. Denn wie könnte man den „unter die Räuber gefallenen“ Nächsten als Bruder oder Schwester erkennen und lieben, ohne ihm nicht nur zu helfen, sondern auch den „Räubern“ das Handwerk legen?
Das Verhältnis von Eschatologie und Politik stellt sich in jedem Bemühen dar, ein geschichtliches Projekt zu gestalten, das das Kommen einer gerechten, geschwisterlichen und solidarischen Gesellschaft und das Kommen eines wahrhaft „neuen Menschen“ (Paulus) bereiten hilft. Die biblische und in Jesus begründete Realutopie der totalen Befreiung wird zu einer politischen Aktion in Gestalt eines anhalten- den Bemühens für das Entstehen eines neuen Menschen in einer solidarischen Gesellschaft.
IV. Pastoral und Befreiung
1. Die befreiende Pastoral der Kirche wird auf drei Aspekte der Befreiung bezogen.
a) Personalisation, „Mehr sein“ durch Bekehrung, Umwandlung zum „neuen Menschen“. Überall wo Gesellschaftsstrukturen eine wirkliche Entfaltung des Menschen verhindern, wird das Wirken für mehr Personalisation (Menschwerdung) zur politischen Aktion im Sinne einer befreienden Bewusstseinsbildung und einer Pädagogik der Unterdrückten (P. Freire). Die Erkenntnis und das Erwerben eines „Mehr- seins“ im christlichen Sinne durch emanzipatorische Erziehung ist ein Humanisierungsprozess, der wesentlich zur revolutionären Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gehört. Mehr sein im christ- lichen Sinne: Mehr Mensch werden, seiner göttlichen Berufung als Kind Gottes gerecht werden, durch praktizierte Liebe („Wer ist mein Nächster“?) und Solidarität mit den Menschen, unter denen Gott Mensch wurde.
b) Partizipation: Dabei handelt es sich um das Bemühen, die Existenz von „Randgruppen“ anzuprangern und zu überwinden. Diese Menschen „am Rande“, „vor den Toren der Stadt“ etc. müssen vollen Anteil an allen gesellschaftlichen (Wirtschaft, Politik) Prozessen erhalten bzw. er muss ihnen garantiert werden. Mehr noch: alle diese Prozesse müssen von den Bedürfnissen der „Schwächsten“ ausgehen, mit dem Ziel, dass alle Menschen in Würde leben können, d.h. unter anderem, Anteil haben an allen Gütern der Schöpfung.
Die erstrebte Gesellschaft wird umschrieben als eine Gesellschaft, in der alle Menschen realen und effektiven Zugang zu den materiellen und kulturellen Gütern haben, eine Gesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen als ein schweres Verbrechen angesehen und bestraft wird und eine Gesellschaft, deren Strukturen Ausbeutung unmöglich machen. Die Wege von Jericho nach Jerusalem müssen so gestaltet werden, dass keine Menschen mehr unter die Räuber fallen.
c) Befreiung von jeder Art von Neokolonialismus: Anklage des Imperialismus (heute vor allem wirtschaftlicher Art, aber immer noch militärisch abgesichert) in jedweder ideologischer Prägung. Aufgabe der Kirche ist - wie schon bei a) und b) - nicht nur prophetisch Anklage zu erhaben, sondern selbst gesellschaftspolitisch aktiv zu werden, um die Befreiung des Menschen von internem und externem Neokolonialismus zu erreichen. (Ob westlicher oder östlicher Imperialismus: beiden ist gemein, dass sie aus machtpolitischen Interessen bereit sind, das Schicksal ganzer Völker auf dem Altar des Profits - das ist ihre eigentliche Ideologie - zu opfern).
2. Klassenkampf als Kampfbegriff (oder: wer hat hier welches Interesse?)
Klassenkampf, Gewalt, Bruch der menschlichen Gemeinschaft in mindest zwei entgegen gesetzte Pole widersprechen fundamental der christlichen Botschaft von Liebe, Solidarität und Einheit. Der Klassenkampf wird von vielen Christen geleugnet bzw. wenn sie doch davon hören, verstehen sie gewohnheitsgemäß folgendes: angestiftet von kommunistischer Propaganda werden die Massen aufgewiegelt, gegen die bestehende Ordnung zu kämpfen, auch mit Waffengewalt. Dies sei äußerst verwerflich, erstrecht, weil man die bestehende Ordnung mit westlicher Zivilisation und christlichem Abendland gleichsetzt.
Dies ist die übliche Sichtweise in den reichen Ländern, auch in den reichen Kirchen, besonders in der reichsten Kirche der Welt, der westdeutschen Kirche. Doch vom Standpunkt der Christen in den ärmsten Ländern sieht dies genau umgekehrt aus. Sie erleiden entsetzliches und tägliches Elend, weil ein permanenter und systematischer Krieg gegen sie geführt wird, weltweit und bereits seit Jahrhunderten, ausgehend von den „christlichen“ (und weißen) Ländern des Nordens. Sie sind die Opfer des weltweiten Klassenkampfes, gleichzeitig wissen sie deshalb Jesus auf ihrer Seite. Diese Sichtweise wird „natürlich“ von den vielen Christen hierzulande geleugnet, denn sie müssen ihn ja nicht erleiden, sondern sie profitieren davon (auch Nichtwissen entschuldigt nicht). Dabei ist gerade ihr Wohlstand ein Beleg dafür, dass es diesen Klassenkampf gibt.
Das herrschende, kapitalistische Weltwirtschaftssystem (dem auch der „Ostblock“ verfallen ist) produziert notwendigerweise und systemimmanent immer mehr Arme und immer weniger Reiche. Es ist zudem „auf Leben und Tod“ auf ständiges Wachstum angewiesen, das immer mehr die überlebensnotwendigen Ressourcen der Erde und damit die Zukunft der Menschheit gefährdet.
Der Klassenkampf wird von oben nach unten geführt, die Ungleichheit und Ausbeutung werden mit militärischer Gewalt aufrechterhalten, von den reichen Ländern eingesetzte und gestützte Marionettenregierungen in den meisten armen Ländern verschleudern den natürlichen Reichtum ganzer Erdteile und der „zivilisierte Westen“ unterstützt die grausamsten Diktatoren und bekämpft mit brutalsten Mitteln die Sehnsüchte der Völker nach Teilhabe und Gerechtigkeit. Dies alles geschieht unter dem Deckmantel - ausgerechnet - der Demokratie und der Zivilisation. Für Christen in den armem Ländern besonders bestürzend: dies alles wird von den reichen Kirchen in der Regel nicht nur legitimiert, sondern diese sind Teil des Tod bringenden Systems und profitieren auch noch davon.
Noch einmal: wer wie die Made im Speck lebt, redet nicht von Klassenkampf (man ist ja so edel, hilf- reich und gut) und wenn doch, dann voller Abscheu von den Barbaren, die mit Gewalt alles ändern wollen. Klassenkampf aber wird von denen erlitten, die an den Rand gedrängt werden und die auch in der Kirche (Hierarchie) keine Stimme haben. Weil sie keine Stimme haben, werden sie auch nicht gehört bzw. wenn doch, dann völlig missverstanden. Daher wird der Klassenkampf selbst von bürgerlichen Christen guten Willens nicht zur Kenntnis genommen.
Wer vom Klassenkampf spricht, stellt nur eine Tatsache fest, er propagiert ihn nicht. Er ist ja schon längst da, ausgeübt von den Mächtigen, die mit Gewalt an ihren Privilegien festhalten. Die Theologie der Befreiung propagiert nicht den Klassenkampf, sondern sie sucht Wege, ihn zu überwinden. Sie steht auf der Seite der Unterdrückten, der Opfer, nicht um die immer größer werdende Spaltung der Menschheit zu vergrößern, sondern um sie zu überwinden (zumindest Brücken zu bauen). Ziel ist ja eine Gesellschaft, in der es weder Unterdrücker noch Unterdrückte gibt (immer unter dem Vorbehalt, dass es in jedem Menschen und zu aller Zeit die Versuchung geben wird - der man auch leicht erliegt - mehr zu sein und zu haben als der „Nachbar“ und sich selbst zum absoluten Maßstab zu machen).
Wer dagegen den Klassenkampf leugnet oder sich aus ihm heraushalten will, schlägt sich in Wahrheit auf die Seite der Herrschenden und Profiteure. Aber wie steht es mit „Einheit“ und „Liebe“? Tatsache ist, dass die menschliche Familie (alle Menschen als Kinder des einen Vaters) aufs Tiefste gespalten ist. Wer hier von Einheit redet, ohne die Realität wahrzunehmen, ergreift Partei für die Mächtigen, hilft mit, die bestehenden Abgründe zu rechtfertigen oder gar noch zu vertiefen. Er bemäntelt unter religiösem Vorwand (Missbrauch der Religion) seine eigenen egoistischen Interessen und ein gottloses, rein materialistisches System, das per se Götzendienst ist.
Für die Kirche bedeutet dies: sie ist gespalten in Christen, die von den „Vorzügen“ dieses Systems profi- tieren und auf Kosten ihrer Mitbrüder und Mitschwestern leben und denen, die das alles - in Gottes Namen? - erleiden müssen. Dies könnte man als Manifestation der Ursünde bezeichnen. Der Abfall von dem Gott des Lebens, der ein Leben in Fülle für alle seine Kinder will und die Verehrung von fremden Göttern, führen zu Elend und zum Tod (Vertreibung aus dem „Paradies). Es ist ein System, das den Brudermord zum Prinzip erhebt. Die direkte Folge ist der Tod von 40 Millionen Kindern im Jahr. Die herrschende Aufteilung der Welt ist die geschichtliche Ausfaltung der Ursünde.
Nebenbei: Ökumene würde bedeuten, dass Christen gemeinsam dagegen aufstehen würden. Denn der eigentliche Skandal und Zeichen der Spaltung der Kirche ist, dass es Christen gibt, die auf Kosten anderer Christen leben. Und dies meist ohne Skrupel und in der schönen Illusion (Halluzination?) leben, sonntags beim Kommunionempfang durch den bloßen Empfang einer Hostie Jesus Christus zu empfangen, ohne wirklich das tägliche Brot (und das, was der Mensch zum Leben braucht) zu teilen. Christus ist(vor allem) aber dort real gegenwärtig, wo tatsächlich im Namen Jesu das tägliche Brot geteilt wird.
V. Kritik an der europäischen Theologie (hier Moltmann und Metz)
Es kann hier nicht um eine Auseinandersetzung mit der europäischen Theologie gehen. Ausgewählt sind einige Vertreter, die sich mit der TdB etwas intensiver beschäftigt haben, die aber entsprechend ihres eigenen Standortes gar nicht anders können, als die TdB als irgendeine zusätzliche „modische“ Erscheinung zu betrachten, als eine unter vielen anderen Theologien. Von der Mehrzahl der Theologen (ausgenommen Theologen wie Rahner SJ, Schillebeeckx OP u.a.) ganz zu schweigen...!
1. Gutiérrez an Metz:
Metz setzt sich zu wenig (wenn überhaupt) mit dem wirtschaftlichen, sozialen und politischen System des weltweiten Kapitalismus und der BRD als wichtiger Player innerhalb des Weltwirtschaftssystems auseinander. Mangelnde Situationsanalyse führt zu mangelnder Konkretheit. Metz selbst gibt zu, von Ökonomie, Soziologie und Politik wenig zu verstehen. Dies ist aber für die TdB eine Voraussetzung, um die gegenwärtige Zeitsituation (Kairos) theologisch angemessen analysieren zu können. Denn eine solche Analyse ist unbedingt notwendig, um wirksam und zeitgemäß das Evangelium verkünden zu können. Adressat des Evangeliums und von Jesus selbst sind die Menschen, die in einer bestimmten Situation leben, zur Zeit Jesu eben in einer Situation massiver politischer Unterdrückung, wirtschaftlicher Ausbeutung (seitens der Römer und der eigenen Oberschicht) und einer Religion, deren Führer an denen vorbei gingen, die unter die Räuber gefallen sind.
Zu heute: Wer nicht erkennt (erkennen will), wozu ein liberal-kapitalistisches System führt noch wie es funktioniert, bleibt logisch innerhalb dieses System gefangen (oder fühlt sich gar sehr wohl), da er es nicht durchschaut. Ein solches Gefangensein in einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit seinen Werten, Idolen, Glaubenssätzen und Ideologien (Illusionen und Opium für das Volk) verhindert aber eine adäquate Verkündigung der befreienden Botschaft von der Ankunft der Herrschaft Gottes. Es verhindert ein wirkliches Verstehen der christlichen Botschaft und missachtet den Glauben an die Menschwerdung Gottes inmitten seines geschundenen Volkes und an die - trotz allem, weil Gott es so will - Auferstehung und Überwindung dieser dem Menschen unwürdigen Verhältnissen.
Von all dem ist von Metz (und fast allen europäischen Theologen) aber nichts zu hören. Denn Metz lebt wie alle (west-) europäischen Theologen in einer Wohlstandsgesellschaft und kennt aus eigener Erfahrung weder Hunger, (im und nach den Weltkriegen schon, dies war aber nicht ausweglos und „nur“ temporär, wenn auch schlimm genug), keine schreiende Ungerechtigkeit und keine Unterdrückung. Daher ist es ihm (und allen anderen) kaum oder nur sehr schwer möglich, je in seiner Fülle zu verstehen, was es heißt arm, ausgebeutet und verfolgt zu sein (etwas zynisch ausgedrückt: die Nazi-Zeit wäre ein gutes Übungsfeld gewesen).
Umgekehrt und abhängig davon ist er deshalb nicht in der Lage, richtig erfassen zu können, was Befreiung bedeutet. Er kennt nicht die Sehnsüchte der Menschen nach integraler Befreiung, den Hunger nach dem täglichen Brot und nach Gerechtigkeit. Er kann den Wunsch nach elementarer Befreiung, wie ihn viele Menschen in der Welt (und auch zur Zeit Jesu) haben, nicht mit ihnen teilen. Logischerweise fehlt ihm auch die bittere und positive Erfahrung, die bestimmte Menschen in ihrem Aufstand gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Elend machen (müssen).
Als weiteres geht Metz von der Situation in Wohlstandgesellschaften und der herrschenden Länder aus, so dass ihm zwangsweise der Blick durch die Brille der Menschen in den beherrschten Ländern fehlt. Man könnte natürlich sich von diesen Menschen erzählen lassen, was angesichts dieser Situation christlicher Glaube, Hoffnung und Liebe bedeutet. Doch die europäische Theologie hatte und hat immer Recht…. Man kreist stattdessen lieber permanent um sich selbst, weil man sonst nichts hat, um das man sich drehen kann. All dies trägt dazu bei, dass der Begriff des Politischen, auf den Metz so großen Wert legt (eigentlich mit Recht) stets auf des Ebene des Abstrakten bleibt.
Es ist Theologie nach dem alten Muster, wenn auch mit einigen neuen Inhalten, die aber verpuffen, weil der Ausgangspunkt (Standort) sich nicht ändert; biblisch gesprochen: es gibt keine Umkehr. Dennoch bewertet Gutiérrez die politische Theologie von Metz als fruchtbaren Versuch einer neuen Theologie, die sich positiv von der traditionellen Theologie abhebt.
Meine persönliche Meinung dazu ist, dass die Befreiungstheologen sich noch viel zu sehr an den Vorgaben der europäischen Theologie abarbeiten. Sie müssten sich eigentlich nicht rechtfertigen, sondern mehr darauf bestehen, dass hier zum ersten Mal in der Kirchengeschichte (von den ersten „Vätern“ abgesehen) eine nicht europäische Theologie entstanden ist, die aus der Perspektive der Opfer die Bibel liest und deutet. Diese Art und Weise Theologie zu betreiben ist der urchristlichen (Gemeinde-) Theologie und Praxis viel näher als der der Weg der europäischen Theologie, in der griechisch-heidnische Vorstellungen und Begriffe wichtiger zu sein scheinen als die Worte Jesu und die zudem sich selbst durch ihre Geschichte der Eroberung und der Rechtfertigung autoritärer Systeme (auch der Kapitalismus gehört dazu) sich selbst disqualifiziert. Dennoch: gerade deswegen ist ein Dialog mit Europa bzw. der römischen und evangelischen Kirche notwendig, damit das Evangelium auch den Europäern zum Heil gereiche - Umkehr inbegriffen.)
2. Gutiérrez an Moltmann (Theologie der Hoffnung)
Auf Moltmann trifft das oben Genannte ebenfalls zu. Moltmann redet zudem noch weniger als Metz von Unterdrückung und Ausbeutung. Für Moltmann ist Hoffnung etwas Transzendentales, weil sie sich auf keine bestimmte geschichtliche Situation bezieht. Sich auf etwas Konkretes zu beziehen, wäre in den Augen dieser Theologen reine Subjektivität, nicht übertragbar etc., meinen sie doch, ewige Wahrheiten abgetrennt von einer bestehenden Wirklichkeit formulieren zu können, mehr noch: sie glauben sich im Besitz dieser einen Wahrheit. Ob dies die Menschen berührt oder nicht, ist letztlich egal, es ist auch egal, ob sie dies verstehen oder nicht. Das alles ändert nichts an der Wahrheit. Daher ist es auch egal, welches Schicksal die Menschen erleiden und warum sie dies erleiden.
Ohne näher darauf einzugehen sei festgehalten, dass dies in seiner Konsequenz eine Leugnung der Menschwerdung Gottes ist, eine Leugnung des Todes und der Auferstehung Jesu. Gott wird bei Moltmann zwar als Motor der Geschichte gesehen, ohne aber im Geringsten darauf einzugehen, was das konkret bedeuten könnte. Vor allem aber ist es in dieser Sichtweise nicht notwendig oder gar gefährlich, sich als Mensch in der Geschichte zu engagieren. Dies könnte als Misstrauen in die Vorsehung Gottes ausgelegt werden, als ob der Mensch alles selbst richten könnte.
Moltmann operiert mit „antizipatorischen Begriffen, die die Wirklichkeit nicht radikal hinterfragen“, so Gutiérrez. Doch ähnlich wie bei Metz sieht er bei Moltmann viele neue und hoffnungsvolle Ansätze. Ein persönliches Erlebnis meinerseits: Moltmann war eingeladen, vor Studenten über die Menschenrechte zu sprechen. Bereits nach 2 Sätzen kam er auf das Thema „Kuba“ zu sprechen. Dann versuchte er über eine Stunde hinweg zu erklären, dass in Kuba die Menschenrechte mit Füßen getreten würden, weil keine Religionsfreiheit, Pressefreiheit, keine Demokratie etc. etc. und er endete mit einem Bekenntnis zur westlichen Demokratie bei gleichzeitiger Verurteilung atheistischer Systeme wie z.B. in Kuba.
Vor wenigen Wochen wurde die einzige Demokratie in Südamerika unter Anleitung der USA gestürzt (Chile) und der Versuch eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, im Blut erstickt. In Vietnam und Kambodscha treibt der systematische Völkermord „im Namen der Demokratie“ seinem finalen Höhepunkt zu, blutrünstige Militärdiktatoren überall werden von USA unterstützt, Millionen Menschen verhungern jährlich, weil man ihnen die Lebensgrundlagen raubt, während in Kuba seit der Revolution 1959 kein Kind mehr an Hunger gestorben ist…. Doch der Herr Professor regt sich darüber auf, dass es in Kuba keine Versammlungsfreiheit gäbe.
Dies ist ein typisches Beispiel intellektueller Verkommenheit, von Moral und Verantwortung ganz zu schweigen. Solche Theologen kann man hier gut gebrauchen, solche Theologen machen sich bereitwillig zu „Hoftheologen des Pharao“, etwas liebevoller ausgedrückt: sie machen sich zum Affen, ohne zu merken, wem sie in Wirklichkeit dienen. Das sind eben die praktischen Folgen einer weltfremden Theologie und dem Verkünden einer „objektiven Wahrheit“.
3. Assmann an Metz
a) Die politische Theologie ließ sich nach Assmann zu sehr von der konservativen Kritik, die sie hervor rief, verwirren. Man ließ sich danach zu sehr in sekundäre und abstrakte Gelehrtendiskussionen ein, und blieb dabei unter sich. Die politische Theologie verlor so viel von ihrer ursprünglichen Aussagekraft und Eindeutigkeit. (Dasselbe könnte ich zur aktuellen Diskussion mit der TdB sagen. Allerdings hängt diese Wahrnehmung wohl damit zusammen, dass bei uns zuerst die Theologen Lateinamerikas wahrgenommen werden, während die Basis, aus der heraus diese Theologie entsteht, zu sehr im Dunkeln bleibt).
b) Assmann wirft den europäischen Theologen vor, aus Angst die Dinge nicht beim Namen zu nennen, z.B. die Mechanismen der Herrschaft genau zu benennen. Stattdessen wird endlos darum herum geredet. Intellektuelle Sektiererei und gelehrt klingende aber umso hohlere Phrasen sind die Folge. Man redet in allgemeiner und abstrakter Form, vielleicht um des lieben Friedens willen (oder sich selbst und seine gute Position nicht allzu sehr zu „gefährden“) oder um niemanden auf die Füße zu treten. Ein Grund dafür ist meines Erachtens, dass „unsere Theologen“ meinen, von ihrem hohen Lehrstuhl herunter die Welt deuten zu können („ex cathedra“). Vor allem aber stehen sie nicht in einem existentiellen Kampf um ihr eigens Leben und ihre eigene Würde, wie z.B. die ersten Christen und heute viele Christen in Lateinamerika. Sie Standorte sind völlig verschieden.
c) Trennung von Dogmatik und Ethik: Eine solche Trennung verhindert eine Beschäftigung mit der historischen Praxis: Man sucht „ruhige Meere“ oder sonstige beschauliche Orte, wie die Dogmatik, die angeblich nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat, und schiebt die Beschäftigung mit der Welt und ihren Problemen der Sozialethik bzw. Sozialmoral zu (z.B. hier in St. Georgen: unter 23 notwendigen Seminarscheinen befindet sich 1 Schein, bei dem um soziale Probleme und die Wirklichkeit der Menschen geht, die anderen 22 Scheine haben höchstens entfernt bzw. gar nichts damit zu tun.
Doch hier werden Seelsorger ausgebildet, die sich - laut Vatikanum II - zuerst mit den Menschen mit ihren Freuden und Ängsten beschäftigen bzw. ihnen dienen sollten. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Daher wendet sich das Zweite Vatikanische Konzil an alle Menschen in der Absicht, allen darzulegen, wie es Gegenwart und Wirken der Kirche in der Welt von heute versteht. …
Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“. Wie aber sollen die Seminaristen dies je lernen können?
Schlusswort
Die Liebe als Grundlage des Lebens und des Evangeliums und als geschichtlich befreiende Praxis, kann nicht auf eine einfache ethische Kategorie reduziert werden. Sie ist vielmehr die Basis jeder Theologie, jeder Praxis und sogar jeder Dogmatik. Liebe hat notwendigerweise eine soziale, eine politisch - öffentlich - gesellschaftliche Dimension. Sie drängt auf gesellschaftliche Veränderung, findet sich nicht ab mit ungerechten Verhältnissen, drängt auf Überwindung der Kluft zwischen Armen und Reichen.
Wie könnte ich meinen Nächsten, der unter die Räuber gefallen ist, lieben, ohne gleichzeitig mit aller Macht darauf zu drängen, dass so etwas nie mehr passieren darf, dass die „Wege nach Jerusalem“ sicherer gemacht oder ganz umgebaut werden? Liebe heißt daher zuerst Solidarität mit den Opfern, den Verfolgten und Ausgebeuteten und als Folge ein Kampf gegen von Menschen gemachte Strukturen, die auf Ausbeutung beruhen.
Unter bestimmten historischen Umständen kann Liebe in seiner bedingungslosen Hingabe dazu führen, dass man mit seiner eigenen Klasse und Herkunft brechen muss (Sicherheit, Wohlstand, Bequemlichkeit) um als Armer unter Armen und mit den Armen für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Nachfolge Jesu bedeutet, genau dies zu tun.
Priestersein bedeutet dann, diese Nachfolge in seiner radikalsten Form und Hingabe an die Menschen zu leben, die unter die Räuber gefallen sind. Das Besondere des Priestertums besteht nicht darin, durch eine exklusive Weihe Gott näher zu sein, das „Opfer des Zölibats“ auf sich zu nehmen und sich einem Bischof zu unterwerfen, sondern in der Nachfolge Jesu den Menschen Bruder und Schwester zu sein, der Nächste zu sein, denen man alles geraubt hat, um als Mensch und Kind Gottes in Würde leben zu können.
Anmerkung: Im SS 1972 hat sich in Frankfurt, St. Georgen, der erste „Studienkreis Theologie der Befreiung“ in Deutschland gebildet, noch vor Erscheinen von „Theologie der Befreiung“ von Gustavo Gutiérrez in deutsch.