Von einer Praxis der Herrschaft zu einer Praxis der Befreiung - von Willi Knecht, Frankfurt, St. Georgen im WS 73/74 (Seminar "Theologie der Befreiung")

 

Das Nein zum Anderen ist die einzig mögliche Sünde; es ist die `Sünde der Welt`, die Ursünde. (…) Geschichtlich und real gesehen nimmt die Sünde seit dem 15. Jh. die konkrete Gestalt des Neins des nordatlantischen Zentrums zum Indio, Afrikaner, Asiaten, zum Landarbeiter, zum Außenseiter an. Der Europäer erobert die ganze Welt und sieht dies als legitime Ausfaltung seines Ich, seiner Welt und seiner Kultur an. Er leugnet damit die anthropologische Andersheit (z.B. den Indio) und die absolute Andersheit (Gott). Er bestätigt dadurch sich selbst und seine abendländische Zivilisation als „Gott“. Er erklärt seine Welt zur Welt schlechthin und erhebt die Herrschaft des Menschen über den Menschen zur „natürlichen Ordnung“ (Aristoteles).

 

PS: Im SS 1972 hatte sich in St. Georgen der erste "Studienkreis Theologie der Befreiung" in Deutschland gebildet, noch vor Erscheinen der deutschen Ausgabe des Buches "Theologie der Befreiung" von Gustavo Gutiérrez. Er wurde von lateinamerikanischen Mitstudenten (Doktoranden, mit konkreten Erfahrungen aus LA) initiiert und getragen. Einzige deutsche Mitarbeiter waren Christian Herwartz (heute Obdachlosenpriester in Berlin) und ich. Pater Semmelroth und Pater Grillmeier waren kritische Begleiter. 

 

 
 

Inhaltsverzeichnis

 

Statt einer Einleitung - Vorbemerkung

 

I. Ausgangspunkt: Die Situation in Lateinamerika

1.) Tatsachen - Daten
2.) Analyse

 

II. Eine Praxis der Herrschaft

1.) Die Situation in Lateinamerika als sündhafte Situation
2.) Nein zum Anderen als Ursünde
3.) Die bestehende Situation als geschichtliche Ausfaltung der Erbsünde

 

III. Eine Praxis der Befreiung

1.) Ja zum Anderen als Anderen
2.) Subversive Praxis als befreiende Praxis

 

IV. Zielpunkte und Visionen

1) Eine „barbarische“ Theologie
2) Eine „barbarische“ Kirche

 

Statt einer Einleitung: z.B. in Kuba, vor 1959

 

Sonntag in einem Dorf in Kuba, besser gesagt, in einer Ansammlung von Hütten. In einer dieser Hütten - zwei Räume - haust eine Familie: eine Mutter mit ihren acht Kindern, zwei davon unehelich. Der Vater ist meist nicht daheim. Auch heute lungert er irgendwo herum. Er schämt sich, mit leeren Taschen nach Hause zu kommen. Seine wenigen Pesos reichen gerade noch sich eine Flasche „Göttertrank“ zu kaufen. Für eine Mahlzeit für zehn Personen reicht es nicht, außerdem ist es besser, sich zu betrinken - trinken, vergessen, nicht denken müssen, der Wirklichkeit entfliehen. Auch die älteste Tochter ist heute wieder nicht daheim. Sie ist schon seit längerem in der Hauptstadt - von ihren Eltern geschickt, um das Einzige zu verkaufen, was sie besitzt: ihren Körper. Anfangs schickte sie noch Geld, jetzt nicht mehr. Sie hat es zu etwas gebracht, ihre Familie hat sie vergessen. Wer sich verkauft, oder auch nur Glück hat, oder seine Mitkonkurrenten aus dem Weg räumt, der kann es auch in einem sehr armen Land zu etwas bringen. So tickt diese Welt und es herrscht das Gesetz des Dschungels. Das war immer so und wird immer so bleiben - Gottes Wille.

 

Die Mutter will in die Heilige Messe gehen, denn es ist Sonntag. Einen Jungen nimmt sie mit. Zwei andere Kinder bleiben krank zuhause, keine Aussicht auf Heilung, keine Medikamente, kein Arzt. Die zwei Älteren wollen nicht mitgehen, sie wollen heute ihre Ruhe haben. Sie haben die ganze Woche über auf der nahe liegenden Zuckerrohrplantage gearbeitet, eine unmenschlich harte Arbeit, für einen Hungerlohn. Doch sie hatten noch Glück, dass sie überhaupt diese Arbeit gefunden haben, wenigstens für die Zeit der Ernte. Die übrigen Kinder arbeiten auf dem gepachteten Stückchen Land. Der Ertrag ist erbärmlich, auf dem fruchtbarsten Teil des Landes Zuckerrohr angebaut, denn dies bringt dem Besitzer den höchsten Gewinn. Sie selbst haben keine Geräte außer der Machete, keine Düngemittel und mehr als die Hälfte der kleinen Ernte muss als Pacht an den Patron, der in der fernen Hauptstadt residiert, abgeliefert werden.

 

Die Mutter freut sich auf die Heilige Messe. Sie ist sehr gläubig, denn sie verehrt die Heilige Jungfrau und die Gottesmutter Maria. Sie hat sogar noch eine Kerze auftreiben können und in der Kirche zündet sie die Kerze jetzt an, zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria. „So wird sie uns sicher helfen. Vielleicht habe ich bisher nur zu wenige Kerzen geopfert. Und sie wird bei Väterchen Gott einige gute Worte einlegen, damit er und unsere großen Sünden vergeben möge“. In der Predigt hört sie: „Gott liebt dich. Danke Gott für seine Gnade, die er dir schenkt, für seine unendliche Liebe und dafür, dass er dich einst erlösen möge von allem Übel…. Sei ihm dankbar dafür, ihm und dem Patron, der dir Land gibt und Arbeit, damit du leben kannst. Und wenn du geduldig, gehorsam und dankbar bist, wirst du in den Himmel kommen und alle Sorgen verwandeln sich in ewige Freude. Amen!“ Ja, der Padrecito findet immer solch schöne Worte, seine Worte trösten die Mutter und wenigstens für einige Augenblicke vergisst sie, dass sie noch nicht weiß, was sie ihren Kindern zum Essen auf den Tisch bringen kann – beten, vergessen, von einer schönen Welt, vom Himmel träumen dürfen. Schade, dass ihre Kinder nicht bei ihr sind. Dann ist die Messe vorbei, die Kirchentür geht hinter ihr zu, die Wirklichkeit hat sie wieder.

 

Währenddessen geht der eine Junge noch zum Sonntagsunterricht, denn während der Woche muss er ja arbeiten. Daher gibt der Padrecito unmittelbar nach der Messe Kindern die Chance, etwas von der weiten Welt zu erfahren, denn er kümmert sich um die Kinder. In diesem Unterricht hört der Junge von fernen Ländern und von edlen Männern, die die christlich-abendländische Kultur zu den Wilden und Heiden brachten. Wenn er viel lernt, wenn er seine eigene Herkunft vergisst und den schönen Vorbildern des Padrecito nacheifert, dann kann er vielleicht bald in die Gelobte Stadt auswandern, mehr sein als seine Geschwister, so wie seine große Schwester. Er schließt die Augen und fängt an zu träumen. Abrupt beendet der Padre den Unterricht und schickt die Kinder weg. Er ist zum feierlichen Hochamt und zum anschließenden Festmahl auf der Hazienda eingeladen. Als der Junge vom Unterricht nach Hause kommt, muss er die Mutter trösten. Sie weint, denn das Essen hat nicht für alle gereicht. Und der Junge erzählt ihr von seinen Träumen ….

 

Vorbemerkung

 

Herrschaft hat tausend Gesichter, hässliche und verführerische, brutale und scheinbar friedliche Gesichter. Sie ist überall, mehr offen oder mehr versteckt – mitunter selbst hinter der Maske von Hilfsbereitschaft und Liebe. Sie wohnt in jedem Menschen. Ihr Ursprung: der Andere, der Mitmensch, wird nicht als der Mitmensch, der Andere angenommen. Er wird als Sache und Objekt benutzt, um die eigenen Wünsche und Sehnsüchte erfüllen zu können. Oder, was dasselbe ist: der Andere (Gott) wird nicht als der „Herr“ anerkannt, sondern der Mensch will sich selbst „Herr“ sein. Die logische Folge ist Chaos unter den Menschen, nämlich Herrschaft mit ihren tausend Gesichtern, überall und zu jeder Zeit. Denn nicht alle können „Herr“ sein, aber wer und nach welchen Kriterien? Und weil nicht alle „Herr“ sein können, verbleibt für alle, die nicht „Herr“ sein können, die Unterwerfung, d.h. sie werden unterdrückt und ausgebeutet. Aber auch Unterdrückte können sich wie Herrscher aufführen und umgekehrt. Herrschaft und Unterdrückung verhalten sich zueinander wie eineiige Zwillinge.
 

In dieser (und in keiner) Arbeit können nicht alle Gesichter von Herrschaft und Unterdrückung gezeigt und betrachtet werden. Nur eines kann kurz betrachtet werden: die gegenwärtige wirtschaftlich-politische Herrschaft der Wenigen über die Vielen als weltweite geschichtliche Verwirklichung der Verneinung des Anderen und der globalen Herrschaft des Götzendienstes.

 
 

Das Neue dabei: zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit spielt sich dieses Drama weltweit ab und betrifft alle Menschen: ein von Menschen geschaffenes und einheitliches System wirtschaftlich und politischer Kontrolle beherrscht weltweit alle Bereiche des menschlichen Lebens und führte und führt zur Versklavung weiter Teile der Menschheit. Es kann hier nicht geklärt werden, ob diese Art von Herrschaft Ausgangspunkt oder Produkt anderer Arten von Herrschaft ist, z.B. der Herrschaft des Mannes über die Frau, oder ob es überhaupt eine solche Rangfolge von Herrschaftsformen gibt. Es soll „nur“ die Form der Herrschaft gezeigt werden, die heute am offensten und brutalsten erfahrbar wird. Wenn gesagt wird und es wahr ist, dass jede Art von Herrschaft zurückzuführen ist auf das Nein zum Anderen (Mitmensch und Gott), so ist auch jeder Versuch, diesen Teufelskreis der Herrschaft und Unterdrückung zu durchbrechen, damit der Mitmensch wieder als Mitmensch, als Bruder und Schwester, erkannt werden kann, die christliche Aufgabe und Herausforderung schlechthin. Umso mehr, wenn man die christologische Komponente hinzunimmt (und als Christ geht das gar nicht anders), dass Gott Mensch geworden ist und sich besonders im Armen als der offenbart, der er ist.

 

Die Praxis der Herrschaft und der Befreiung soll am Beispiel der Beherrschung Lateinamerikas gezeigt werden. Dort sind es die Opfer dieser Herrschaft, die aufstehen und gegen ihre Unterdrückung kämpfen. Da es sich bei dieser Arbeit um eine theologische Arbeit handelt und ich persönlich an Jesus den Christus glaube, ist diese Arbeit auch parteiisch. Wenn (Christus-) gläubige Menschen vom Standpunkt der Unterdrückten aus die Mechanismen der Herrschaft analysieren, im Lichte der Bibel, des Wortes Gottes, deuten und daraus praktische Konsequenzen ziehen, dann entsteht eine Praxis und Theorie (Theologie) der Befreiung - die erste Theologie, die von den Opfern des weltweiten und von dem „christlichen“ Europa ausgehenden Systems der Herrschaft ausgeht. Die bisherige europäische Theologie ist dagegen eher eine „Theologie der Sieger“, der Täter, vom römischen Imperium der Cäsaren bis zum europäisch-nordamerikanischen Imperium des Kapitals, der Finanzmärkte und der Konzerne. Wer dagegen aufsteht, wird als „Ungläubiger“ ans Kreuz gehängt.

 

Bei der Praxis der Befreiung handelt es sich um einen Prozess in der Praxis, über den man nur „nach - berichten“, nicht aber theologisieren kann, wenn man selbst nicht in dieser Praxis steht, sei es in gar keiner oder in einer anderen Praxis. Inhalt dieser Arbeit kann daher nur ein Bericht über die Erfahrungen sein, die andere als ich gemacht haben. Denn ich selbst stehe (noch) nicht in einer solchen Praxis, sie wurde mir nur überliefert und bezeugt. Da es sich um einen Prozess der Befreiung handelt, kann es nicht von heute auf morgen zu einer Befreiung kommen, es gibt auch nicht die vollkommene Befreiung. So sehr diese Befreiungspraxis der ganzen Menschheit und Schöpfung seit ihrem Bestehen als Aufgabe gestellt ist, so wenig darf unberücksichtigt bleiben, dass dieser Prozess sowohl von jedem Einzelnen getragen bzw. erlitten werden muss, als auch jeder Einzelne in sich selbst diesen Prozess mit vollziehen muss, so dass am Ende und als Ziel nicht nur eine kollektive Befreiung der ganzen Schöpfung, sondern auch individuelle Befreiung steht, beides aber in einem unauflöslichen und ursächlichem Zusammenhang.

 

I. Ausgangspunkt: Die herrschende Situation in Lateinamerika

 

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: der Ausgangspunkt der Theologie der Befreiung ist das Evangelium, die gute und befreiende Botschaft für alle Menschen, besonders aber für die 2/3 der Menschheit, die das Opfer der Gewalt, das Opfer der Reichen und Mächtigen dieser Erde sind. Das Evangelium ist die Grundlage unseres Glaubens an Jesus den Christus. Jesus Christus und sein Leben, sein Leiden, Tod und Auferstehung, sind der Ausgangspunkt jeder christlichen Theologie. Das ist eigentlich selbstverständlich, muss aber dennoch gelegentlich betont werden. Ist aber das Evangelium zuerst eine frohe Botschaft zuerst für die Armen und Unterdrückten dieser Erde, und wen es stimmt, dass das Evangelium den Menschen auch für das diesseitige Leben etwas zu sagen hat, so muss jede Art von Theologie und Verkündigung von der Situation ausgehen, in der diese 2/3 der Menschheit leben. „Wenn die historische Situation der Abhängigkeit und Beherrschung von 2/3 der Menschheit mit ihren 30 Millionen Toten, die jährlich an Hunger und Unterernährung sterben, nicht zum Ausgangspunkt jedweder christlichen Theologie von heute wird, so wird die Theologie ihre fundamentalen Themen nicht in die Geschichte einbringen und konkretisieren können. Ihre Fragen werden keine wirklichen Fragen sein. Sie werden am wirklichen Menschen vorbei gehen“.[1] Alle mir bekannten Vertreter der Theologie der Befreiung stimmen der Aussagen von Assmann zu: „Es gibt fast eine Einstimmigkeit in den bisher veröffentlichten Texten: der Ausgangspunkt der Theologie der Befreiung ist die historische Situation der Abhängigkeit und Beherrschung, in der sich die Völker der Dritten Welt befinden“.[2]

 

Aber auch das eine Drittel der Menschheit, das weniger arm ist oder das auf Kosten der Armen weltweit immer reicher wird, muss von der herrschenden Situation ausgehen, die sie ja selbst nach ihren Interessen gestaltet haben. Wenn diese Menschen zudem noch Christen sein wollen, so können sie dies nur, wenn sie ihre Situation und ihren Standpunkt als unvereinbar mit der Botschaft Jesu erkennen und umkehren. Gerade sie bedürfen der Befreiung, denn sonst verfehlten sie ihr Menschsein und erst recht ihre Berufung, Kinder Gottes zu sein.

 

Die bisherige europäische Theologie (und es gab ja nie eine andere Theologie, die hellenistische Theologie in Alexandria und anderswo war ja auch europäisch) ging und geht nicht von den Armen aus, geschweige dass sie sich ihren Standpunkt zu Eigen machen kann. Sie kann das so lange nicht, wie Theologie und „Wahrheit“ von denen gemacht werden, die in dem reichen und herrschenden Teil der Welt wohnen, der die Mehrheit der Menschheit beherrscht und aussaugt. Mehr noch: sie wohnen nicht nur in diesem Teil der Welt, sondern sie sind tragendes und stützendes Teil dieses unmenschlichen Systems. Sie profitieren selbst davon und sind wie die europäische Kirche als Institution Garant und „Schutzpatron“ eines wirtschaftlichen und militärischen Systems, das spätestens seit Beginn der Neuzeit die ganze Erde erobert und dabei viele Völker vollkommen ausgerottet hat.[3]

 

Die Theologie der Befreiung dagegen ist der erste größere Versuch, in dem sowohl die Vertreter der armen und unterdrückten Völker selbst zu Wort kommen, als auch in dem die Lebenssituation und die geschichtliche Realität, in diese Menschen leben müssen, ausreichend berücksichtigt wird. Die Untersuchung und Analyse der bestehenden Situation in Lateinamerika, der Dritten Welt allgemein[4] und gleichzeitig in den reichen Ländern – da zusammengehörende Pole derselben Entwicklung – wird mit Hilfe der Humanwissenschaften durchgeführt,, ist aber bereits Bestandteil der Theologie. Das Elend in der Welt, zumindest so wie es ist, ist keine unveränderliche Naturgegebenheit und erstrecht kein Zufall, sonders das geschichtliche Ergebnis ganz bestimmter und so gewollter wirtschaftlich – politischer – sozialer Prozesse, so geplant und gemacht von Menschen mit einem ganz bestimmten Interesse.

 

Um keine Sisyphos – Arbeit zu leisten, was weiterhin den gewaltsamen Tod von Millionen Menschen bedeuten würde, müssen Menschen, die sich aus ihrem Elend befreien wollen, die wahren Gründe ihres Elends und die Funktionsweise der Unterdrückung kennen lernen. Ohne Analyse der bestehenden Verhältnisse geht das nicht. Weiterhin bloße „europäische Theologie“ treiben zu wollen, wäre blanker Zynismus gegenüber dem zum Himmel schreienden Elend der Menschen – und gegenüber Gott in den Menschen.

 
 

1. Fakten (Stand 1970) Im Nordosten Brasiliens:

 

90% der Bevölkerung sind von der Wurmkrankheit befallen; 2,3 Millionen Wohnungen fehlen; 500.000 Menschen werden jedes Jahr neu von der Beulenpest heimgesucht; von 1.000 Neugeborenen kommen 180 tot auf die Welt; 47% aller Sterbefälle betreffen Kinder unter 5 Jahren. Von Brasiliens Industrie sind in ausländischer Hand: 90% der Automobilindustrie, 78% der Konsumgüterindustrie, 70% des Maschinenbaus; 95% der Erdölderivate, usw. Jährlich fließen mehrere 100 Millionen DM steuerfrei von Brasilien in deutsche Konzernkassen; die Kindersterblichkeit beträgt im Verhältnis zur Rindersterblichkeit 20:1.

 

Im Nordosten Brasiliens: Mittlerer Nahrungsmittelverbrauch pro Person (100% als Normalwert): Kalorien 56%, Kalzium 55%, Proteine 59%, Vitamin A 4%, die Folge: Verkrüppelung und Schwachsinn, mittlerer IQ: 72 - 78 (IQ 72 gilt als Grenze zur absoluten Geistesschwachheit, Debilität). In Brasilien: 80% der Bevölkerung besitzen 3% des Bodens, 1973 betrug die Arbeitslosigkeit 23% und die Zahl der Analphabeten 21 Millionen (1970: 17,9 Millionen); Die reichsten 1% der Bevölkerung verdoppelten in den letzten 10 Jahren ihr jährliches Einkommen; von 1960 - 1970 stieg der Anteil am Nationaleinkommen des 1% der Bevölkerung von 11,7% auf 17, 7%, während sich im gleichen Zeitraum der Anteil der einen Hälfte der Bevölkerung am Nationaleinkommen von 17,6% auf 13,7% verringerte. Von 1960 - 1970 sank der Reallohn für alle Lohnabhängige um 28%.

 

Brasilien hatte in den letzten 10 Jahren die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten und das prozentual höchste Ansteigen des Bruttosozialproduktes weltweit und gilt als Musterland für alle anderen Entwicklungsländer. Vor allem seit dem Militärputsch von 1964 (eine demokratisch gewählte Regierung, die eine gerechtere Verteilung anstrebte, wurde mit Hilfe der USA gestürzt, wie schon zuvor in anderen Ländern) und der Errichtung einer Folterherrschaft hat sich dieser „Aufschwung“ verstärkt und die Investitionen deutscher Konzerne haben sich von 1965 - 1970 vervierfacht und deren Gewinne haben sich versechsfacht.

 

1967 lebten 36% aller Lateinamerikaner in Slums, 1980 werden es 43% sein; 78 Millionen Menschen leben in von Malaria verseuchten Gebieten; 50% aller Menschen über 15 Jahren sind Analphabeten; 75% des landwirtschaftlich nutzbaren Landes und 52% des Gesamtvermögens Lateinamerikas gehören maximal 2% der Bevölkerung; 1961 machten US-Konzerne in Lateinamerika einen Reingewinn von 1,735 Milliarden US-Dollar (knapp 7 Milliarden DM); im selben Jahr verlor Lateinamerika 2,66 Milliarden Dollar durch Verschlechterung der Weltmarktpreise und 1,4 Milliarden Dollar durch Kapitalflucht: zwischen 1951-1961 erhielten die USA für jeden Dollar geleisteter „Entwicklungshilfe“ 4 Dollar zurück. Seit 1965 muss Lateinamerika mehr Zinsen, nämlich 2 Milliarden Dollar jährlich, ans Ausland zurückbezahlen, als es an neuen Krediten erhält. …. [5]

 

Diese Zahlen ließen sich beliebig fortsetzen, doch Zahlen verdecken allzu leicht, was dahinter steckt. Zahlen lassen noch nicht einmal erahnen, welches Elend sich hinter ihnen verbirgt. Dennoch sind sie als erster Schritt wichtig, denn die Mehrheit der Menschen hierzulande schaut konsequent weg und für die Theologie spielen sie keine Rolle, die beschäftigt sich bekanntlich mit „höheren Dingen“. Wichtig ist aber vor allem zu erkennen, dass es einen direkten Zusammenhang unter allen genannten Zahlen gibt. Alle Zahlen stehen in einer unmittelbaren und kausalen Beziehung zueinander. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der hohen Kindersterblichkeit, dem Bestehen einer sehr dünnen und sehr reichen Oberschicht und der Aufrechterhaltung dieser Ordnung mit Gewalt; es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem weltweiten Hunger und den Gewinnen, die die großen Konzerne aus den arm gemachten Ländern herauspumpen; es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den Menschen, die an Beulenpest erkranken oder in den Slums mit verseuchtem Wasser leben und der Tatsache, dass ihr Land total von fernen Metropolen abhängig ist und ihre eigene Regierung nur deren Interessen vertritt. Sieht man diesen Zusammenhang nicht, neigt man leicht dazu, das Elend der Mehrheit der Menschen als Naturkatastrophe oder noch schlimmer, als deren eigene Schuld oder als Gottes Wille zu interpretieren. Natürlich ist dann eine solche Weltsicht der Grund dafür, dass man guten Gewissens – auch als frommer Christ - sich weiter um seine eigenen Geschäfte kümmern kann.

 

Daher sieht es die Theologie der Befreiung als ihre fundamentale Aufgabe an, diesen Zusammenhang aufzuzeigen, diesen Zustand als eine „Sünde, die zum Himmel schreit“ zu deuten (Dokumente der II. Lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín, 1968) und eine gerechtere Gesellschaft und die Würde aller Menschen zu verkünden – im Namen Gottes! Die Dependenztheorie, die Sozialwissenschaften und weltliche Wissenschaften im Allgemeinen sind dabei willkommene Hilfsmittel.

 

2. Analyse

 

 Bis in die Mitte der 60er Jahre glaubte man, die Probleme Lateinamerikas mit den Mitteln einer Entwicklungsstrategie meistern zu können, anders formuliert: man bracht nur genügend Geld in die Dritte Welt hinein zu pumpen, um den Patienten zu heilen. Diese Entwicklungsideologie, ein anderer Name für die Schaffung neuer Abhängigkeiten und für die bewusste Verschleierung der wahren Ursachen, hat sich aber als total unfähig erwiesen, die echten Probleme und die Ursachen des Elends in Lateinamerika zu sehen, geschweige denn zu beseitigen. Eine Entwicklung innerhalb des derzeit bestehenden Weltsystems ist nicht möglich, sondern führt zu immer größerer Abhängigkeit und Armut. „Seit einiger Zeit setzt sich in Lateinamerika ein anderer Gesichtspunkt durch. Man sieht immer klarer, dass die Situation der Unterentwicklung das Ergebnis eines Prozesses ist und deshalb in einer geschichtlichen Perspektive, d.h. im Verhältnis zu Entwicklung und Expansion der großen kapitalistischen Länder studiert werden muss. Die Unterentwicklung der armen Völker als globaler sozialer Tatbestand zeigt dann erst sein wahres Gesicht. Er ist ein geschichtliches Subprodukt der Entwicklung anderer Länder. Denn in der Tat führt die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft zur Errichtung eines Zentrums und einer Peripherie und bringt zur gleichen Zeit Fortschritt und Reichtum für die Minderheit und soziale Unausgeglichenheit, politische Spannungen und Armut für die Mehrheit. In einem solchen Kontext wurde Lateinamerika geboren und nimmt seinen Lauf. … Die Situation der Abhängigkeit und Unterdrückung ist also der Ausgangspunkt für ein sachgemäßes Verstehen der Unterentwicklung in Lateinamerika“.[6]

Würde man daher christliche Praxis und Theologie betreiben wollen, ohne diese Tatsache der Abhängigkeit und Unterdrückung in Lateinamerika und weltweit zu berücksichtigen, liefe man Gefahr, eine heidnische Praxis und eine heidnische Theologie zu betreiben. Denn zum Wesen des Christentums gehört der Glaube, dass Gott inmitten der unterdrückten Mehrheit Mensch geworden ist und sich zuerst mit denen solidarisiert, die in der Folge von Menschen errichteten sündhaften Strukturen unter die Räder kommen. Es kann hier nicht im Ganzen dargestellt werden, wie diese Abhängigkeit im Einzelnen funktioniert, auch nicht, wie es zu den Ergebnissen kommt, die die Dependenztheorie gefunden hat. Deshalb seien hier nur einige Grundaussagen dieser Theorie genannt, die unumstritten bei allen Vertretern der Dependenztheorie sind – seien sie liberal, nationalistisch oder marxistisch eingestellt.[7]

 

a) Die wirtschaftliche Situation der Entwicklungsländer kann nur verstanden werden, wenn der Faktor der äußeren Abhängigkeit berücksichtigt wird. Denn die Sozialstrukturen in Lateinamerika sind wesentlich geprägt durch die Dominanz ausländischer Mächte. In Lateinamerika begann die Abhängigkeit, als der erste Spanier amerikanischen Boden betrat. In der Folgezeit wurde Lateinamerika in das bestehende Weltsystem zwangsintegriert und musste von nun an ausschließlich den wirtschaftlichen und politischen Interessenseiner „Herren“ dienen. (Rolle der USA anders….). Die Unabhängigkeit von Spanien und Portugal brachte für Lateinamerika nur die Abhängigkeit von noch stärkeren Mächten. Lateinamerika wurde zum Hinterhof der USA (bzw. deren Herrschaft der Weißen). Die Geschichte Lateinamerikas ist lediglich das Negativ der Geschichte Europas und in der Folge der USA (als auf Amerika ausgedehnte Herrschaft der Europäer bei gleichzeitiger Vernichtung der Urbevölkerung im Norden Amerikas).

 

b) Die Unterentwicklung ist kein der Entwicklung zeitlich vorausgehender Stadium, sondern beide sind gleichzeitige, funktional aufeinander bezogene Seiten desselben historischen Prozesses der Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems. „Wirtschaftliche Entwicklung und Unterentwicklung sind zwei Seiten einer Medaille. Beide sind notwendiges Ergebnis und gleichzeitig Manifestation der inneren Widersprüche im kapitalistischen System“.[8] Der Kapitalismus wird als globales, die Welt beherrschendes System gesehen, mit zwei antagonistischen Polen, dem Zentrum und seiner Peripherie. Beide stehen in einem dialektisch abhängigen Verhältnis zueinander. Dabei hat die Peripherie die Aufgabe, das Zentrum zu nähren, wobei sie selbst immer ärmer wird, das Zentrum aber immer reicher. Das Zentrum bestimmt, was in der Peripherie zu geschehen hat. Alles, was in den ausgebeuteten Ländern geschieht, wird bestimmt und ausgerichtet auf das, was Europa und den USA nutzt.

 

Das, was in Lateinamerika geschieht „wird sowohl den Interessen der dominierenden Zentren als auch den Erfordernissen der Systemerhaltung untergeordnet“.[9] Die Armut in Lateinamerika stellt sich so als das Ergebnis von Ausbeutung und Herrschaft auf Weltmaßstab dar. Es handelt sich um einen weltweiten Klassengegensatz (der zudem noch rassistisch bestimmt ist). „Deshalb würde die Theorie der Abhängigkeit ihren Weg verfehlen und zum Irrtum führen, wenn man ihre Analyse nicht im Kontext des weltweiten Klassenkampfes ansiedelt“.[10]

 

c) Die Unterentwicklung ist zwar extern begründet, ihre Auswirkungen sind aber interner Art und hat verheerende Folgen für die Mehrheit der Menschen in den abhängig gehaltenen Ländern. Dass das Elend in Lateinamerika die direkte Folge des allein am Kapital und dessen Vermehrung bestehenden Herrschaftssystems ist, wird auch von den Bischöfen des Nordosten Brasiliens so gesehen. Sie schreiben in einem gemeinsamen Hirtenwort: „Die in Brasiliens herrschenden Sozial- und Wirtschaftsstrukturen sind auf Unterdrückung und Ungerechtigkeit errichtet, die aus einer Situation des von den großen internationalen Marktzentren abhängigen Kapitalismus hervorgehen. Innerhalb unseres Landes bemühen sich kleine Minderheiten, Komplizen des internationalen Kapitalismus, mit allen möglichen Mitteln ihm zu dienen, um eine für sie günstige Position zu bewahren. So entstand ein unmenschlicher Zustand, der sicherlich nicht christlich ist“.[11] Und die peruanischen Bischöfe schreiben: „Wir teilen mit den Nationen der Dritten Welt das Schicksal, Opfer von Systemen zu sein, die unsere wirtschaftlichen Reichtümer ausbeuten, unsere politischen Entscheidungen kontrollieren und uns die kulturelle Vorherrschaft ihrer Werte und ihre Konsumzivilisation aufdrängen. Diese von den lateinamerikanischen Bischöfen in Medellín angeprangerte Situation bleibt bestehen und festigt sich aufgrund der internen Struktur unserer Länder, einer Struktur der wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ungleichheit und der politischen Perversion, die nicht dem Wohle aller, sondern einiger weniger dient“.[12]

 

Was sich auf globaler Ebene an Ungerechtigkeit und Unterdrückung abspielt, spiegelt sich und wird besonders deutlich innerhalb der einzelnen Länder Lateinamerikas. Denn innerhalb der einzelnen Länder gibt es die gleiche Aufteilung in Zentrum und Peripherie, in Unterdrücker und Unterdrückte, mit der gleichen Rollenverteilung wie oben beschrieben. Die herrschende Oberschicht in den armen Ländern paktiert mit den Interessen des internationalen Kapitals auf Kosten der Armen, der Mehrheit des Volkes. Als Gegenleistung unterstützt das internationale Kapital die Macht der Oberschicht und des Status quo zu deren und im eigenen Interesse. Um die Herrschaft der Marionettenregierungen abzusichern und z.B. um wirklich demokratische Entwicklungen zu verhindern, schrecken die reichen Länder unter der Führung der USA auch nicht vor militärischen Interventionen zurück - ausgerechnet im Namen der Freiheit und der Demokratie und beseelt von der Überlegenheit der christlich-abendländischen Zivilisation. Die Armen, die überwiegende Mehrheit des Volkes, leiden so unter einer doppelten Fron. Auch die Klassenherrschaft zeigt sich auf doppelte Weise. Nämlich global im Gegensatz der reichen zu den armen Ländern und innerhalb der armen (und zunehmend auch selbst der reichen) Länder in der Spaltung zwischen Oberschicht und Volk.

 

d) Katalog wirtschaftlicher Abhängigkeit im Rahmen und als Folge eines kapitalistischen Systems: Angewiesensein auf ausländische Geldgeber (Kredite für Großprojekte zum Nutzen der einheimischen Oberschicht) und der Transfer der Profite in die Geberländer; Auslandsverschuldung, einseitiges technische Know-how sowie Lizenz- und Patentgebühren; Diktat der Weltmarktpreise, Zollschranken etc.; das ausländische Kapital beherrscht alle Grundbereiche der einheimischen Wirtschaft, der Industrie und des Finanzwesens, den gesamten Handel und die Dienstleistungen. Was produziert wird bestimmt das Ausland, deshalb Produktion und Export auf die Bedürfnisse der reichen Länder und der eigenen Oberschicht abgestimmt, aber nicht auf die notwendigsten Bedürfnisse und Notwenigkeiten der eigenen Bevölkerung (z.B. Grundnahrungsmittel). Die reichen Länder kontrollieren die Währung, die Presse, die öffentliche Meinung, das Militär und die Politik der abhängigen Länder. Dabei ist eine allzu sichtbare Kontrolle meist nicht notwendig (z.B. allzu offene Militärpräsenz). Die Kontrolle geschieht vielmehr mit Hilfe des verlängerten Arms des internationalen Kapitals, der einheimischen Oberschicht. Diese muss buchstäblich mit aller Gewalt an der Macht gehalten werden, denn nur so ist die ungehemmte Ausbeutung ganzer Völker weiterhin möglich.

An dieser Stelle nur eineinziges Beispiel aus der Landwirtschaft: Kuba, eines der fruchtbarsten Länder der Welt, musste bis 1959 über Jahrzehnte hinweg Bohnen und Reis einführen, die Grundnahrungsmittel schlechthin für die Kubaner. Auf den fruchtbarsten Böden wurde stattdessen vor allem Rohrzucker angebaut. Dadurch kamen vornehmlich die USA zu billigem Zucker und Rum und die weißen Großgrundbesitzer zu viel Geld. Gleichzeitig galt Kuba sowohl als billiges Ferienparadies und als größtes Bordell der USA als auch als eines der ärmsten Länder der Welt (permanente Unterernährung der Mehrheit, Analphabetismus, keine medizinische Versorgung etc.). Lateinamerika wäre nach Berechnungen der FAO (Unterabteilung der UNO für Ernährung) in der Lage, mehr als eine Milliarde Menschen ausreichend und ausgewogen zu ernähren, wenn die Landwirtschaft auf die Bedürfnisse des Volkes hin ausgerichtet wäre (1972).

 

Das Elend in Lateinamerika, das „zum Himmel schreit“ (Medellín), hat also seinen Ausgangspunkt in der Herrschaft der reichen Länder über die armen Länder, genauer: in einem kapitalistischen System, das systemimmanent logisch als höchsten, gar absoluten Wert die Vermehrung des Kapitals hat und das gemäß seiner Natur auf globale Herrschaft ausgerichtet ist. Seine kulturelle (auch anthropologische) Grundlage ist die Gier nach immer Mehr und es definiert Menschsein und Menschwerdung als ein immer mehr Haben. Die „Nichthabenden“ können so nicht als Menschen wahrgenommen werden, die die gleichen Rechte und die gleiche Würde haben. Der Kapitalismus beruht systembedingt darauf, die Völkergemeinschaft zu spalten, den Menschen sich selbst (künstliche Bedürfnisse zu schaffen) und dem Nächsten zu entfremden und systematischen Raubbau an der Natur zu betreiben (permanentes Wachstum ist absolut notwendig bei gleichzeitig begrenzten und rapide abnehmenden Ressourcen, siehe Meadows: Grenzen des Wachstums, 1972).

 

Dieses Elend hat in den letzten Jahren noch zugenommen, sowohl weltweit als auch z.B. in dem „Wirtschaftswunderland“ Brasilien, das unter der aktuell herrschenden Militärdiktatur laut Berichten des IWF so floriert wie noch nie zuvor. Die Schere zwischen reichen und armen Ländern und zwischen Oberschicht und Volk in den armen Ländern ist größer geworden. Und das Elend wird noch größer werden, solange das kapitalistische System sich ungebremst ausbreiten kann. Ob und wie lange es dies noch kann, hängt nicht nur von den Menschen in der Dritten Welt ab, sondern im besonderen Maße auch von den Menschen (und Christen!), die in den reichen Ländern wohnen. Zuletzt noch ein Zitat aus dem schon erwähnten Hirtenbrief der brasilianischen Bischöfe und Ordensoberen: „Diese Wirklichkeit des Elends ist weit davon entfernt, eine unausweichliche Wirkung einer unzureichenden Natur zu sein, sondern sie ist vor allem die Folge eines Prozesses, der durch Menschen, die mit dem internationalen Kapitalismus verstrickt sind, fixiert wurde. Das macht den Aufbau einer ungerechten Gesellschaft möglich und erhält ihr das erdrückende Gewicht, ihre Privilegien zu verteidigen und zu vermehren. Die aus dieser Situation entstandene Ungerechtigkeit hat ihre Grundlage in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die unausweichlich zu einer Klassengesellschaft führen, gekennzeichnet durch Diskriminierung und Ungerechtigkeit“.[13]

 

II. Praxis der Herrschaft

 

1. Die Situation in Lateinamerika als eine „Sünde, die zum Himmel schreit“

 

Geschichte wird von Menschen gemacht. Sie sind zwar nicht die „Herren der Geschichte“ , oft auch nicht einmal ihrer selbst und dennoch können sie frei entscheiden. Ohne diese Freiheit gäbe es keine Verantwortung und keine Schuld. Verantwortlich für das Elend in Lateinamerika und für den Hungertod von etwa 30 Millionen Menschen im Jahr sind diejenigen Menschen, die auf Kosten der Ärmsten immer mehr haben wollen und die sich selbst und ihre Bedürfnisse zum absoluten Maßstab machen. Sie werden gegenüber ihren Mitmenschen und Gott schuldig. Ein solch sündhaftes Verhalten schafft sündhafte Strukturen, denen Unschuldige zum Opfer fallen. Das Elend in Lateinamerika (und weltweit) ist die Folge eines sündhaften Verhaltens von Menschen gegenüber ihren Mitmenschen. Was ist Sünde? „Sünde ist eine soziale und geschichtliche Tatsache. Sie besagt entzweite Brüderlichkeit, enttäuschte Liebe, zerbrochene Freundschaft mit Gott und den Menschen und somit auch innere Spaltung der menschlichen Person“.[14] Schonenberg definiert Sünde so: „Sünde ist eine Weigerung gegenüber der Berufung, gegenüber unser aller Zukunft in der Geschichte, in die Gottes Heil eingetreten ist und in der er sich immer mehr verwirklichen will. Man hat die Sünde als Übertretung eines Gesetzes verstanden; besser definiert man sie als Weigerung, sich in der Geschichte des Heils zu engagieren“.[15] Auch die lateinamerikanischen Bischöfe sprechen von einem Zustand der Sünde, wenn sie sich auf die aktuelle Situation in Lateinamerika beziehen: „Wenn wir von einer Situation der Ungerechtigkeit sprechen, beziehen wir uns auf die Realitäten, die einen Zustand der Sünde ausdrücken“.[16] Sünde also als Bruch unter den Menschen und mit Gott, als Weigerung, sich in der Geschichte des Heils zu engagieren, als Situation der Ungerechtigkeit, in der einige wenige Menschen auf Kosten anderer Menschen leben, indem sie deren Lebensgrundlagen rauben. Die Geschichte in unseren Tagen erweist sich als Geschichte des Unheils, basierend auf fundamentaler Ungerechtigkeit und Ablehnung des Anderen.

 

Wie im vorhergehenden Kapitel beschrieben, bringt das herrschende Weltwirtschaftssystem auf der einen Seite materiellen Wohlstand für Wenige und auf der anderen Seite Elend für Viele hervor. Die Menschheit wird so mindestens in zwei Klassen geteilt und die Mehrheit der Menschheit wird beherrscht und muss diese Herrschaft scheinbar ohnmächtig erleiden. Das bedeutet eine systematische und gezielte Spaltung der Menschheit, einen Bruch der der von Gott gewollten brüderlichen Gemeinschaft unter den Menschen und damit ein Abfall vom Heilsplan Gottes. Dieser Bruch der Menschen untereinander und mit Gott wird von den Herrschenden, die ja selbst wie Gott sein wollen, gewaltsam aufrechterhalten, von den Reichen und Mächtigen, den „Fürsten dieser Welt“. Diese sind damit verantwortlich für die strukturell sündhaften Zustände und die Armen sind die Opfer dieser Sünde. In den armen Ländern wirkt sich diese Sünde zwar am brutalsten aus, aber eigentlich leben die reichen Länder in einem noch größeren Zustand der Sünde und der Schuld, denn sie sind die Verursacher und sie tun es aus freiem Willen und in voller Absicht (subjektiv ist dies sicher nicht allen bewusst). Diese reichen Länder sind nun nicht nur ein geographischer Begriff, sondern in ihnen wohnen Menschen, die sich christlich nennen.

 

Diese Menschen, ob Christen oder nicht, unterstützen nun mit überwältigender Mehrheit (offensichtlich legitimiert durch alle staatstragenden Parteien) diese Aufteilung der Welt. Denn sie sind Teil dieses System, sie unterstützen es, sei es aktiv oder passiv, wissentlich oder unwissentlich. Und christliche Kirchen in diesem System profitieren anteilmäßig von dem stetigen Wachstum, der auf der stetig wachsenden Expansion und der Ausbeutung von Natur und Mensch beruht. Sie rechtfertigen damit dieses System und verurteilen alle, die dagegen aufstehen als „gottlos“. Diese Mehrheiten in Gesellschaft und Kirche wollen nichts von ihrem Wohlstand abgeben (Almosen bestätigen bestenfalls nur den Status quo), geschweige denn einsehen, dass ihr Wohlstand auf der Unterdrückung der Ärmsten dieser Welt beruht. Eigentlich sind sie es, die Reichen und die Satten, die der Befreiung und Erlösung am meisten bedürfen, da sie sich von Gott und ihren Mitmenschen am weitesten entfernt haben.

 

Solange die Aufteilung der Menschheit in zwei sich gegenüberstehende Teile besteht, getrennt und gespalten durch tiefe Abgründe, kann es auch keinen Frieden geben. Da die Unterdrückten sich (noch) nicht gegen die herrschende Gewalt wehren können, scheint Frieden zwischen den Unterdrückern und den Unterdrückten zu herrschen. Das ist aber nichts anderes als der Frieden eines Friedhofes. Denn dieser „Frieden“ fordert gar zu viele Tote und Verstümmelte. „Der Friede mit Gott ist das tiefste Fundament des inneren Friedens und des sozialen Friedens. Darum wird überall dort, wo dieser soziale Friede nicht existiert, überall dort, wo man ungerechte soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten findet, die Friedensgabe des Herrn, mehr noch, der Herr selbst zurückgewiesen“.[17] Nicht nur die menschliche Familie ist gespalten, auch innerhalb der einzelnen Völker gibt es einen unüberbrückbaren Abgrund, was wiederum besonders deutlich in Lateinamerika sichtbar wird (laut UN-Untersuchungen ist die soziale Kluft in Lateinamerika weltweit am größten).

 

Hier spiegelt sich lokal wider, was global geschieht, stehen doch beide Ebenen in einem ursächlichen Zusammenhang - nicht notwendigerweise, aber innerhalb der bestehenden Wirtschaftsstrukturen. Weil natürlich zuerst die lokalen Unheilstrukturen sichtbar, erlitten und fassbar werden, wenden sich die Bischöfe in Medellín zuerst gegen diese und bezeichnen sie als Sünde. Diese Sünde wird am greifbarsten in den ärmsten Ländern, da sie es ja sind, die zum Opfer geworden sind. „Sünde wird greifbar in unterdrückerischen Strukturen, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, in der Beherrschung und Versklavung von Völkern, Rassen und sozialen Klassen. Sünde erscheint so vielmehr als fundamentale Entfremdung und Wurzel einer Situation, die durch Ungerechtigkeit und Ausbeutung gekennzeichnet ist“.[18]

 

Die Spaltung der Menschheit als Ganzes und die Spaltung innerhalb der einzelnen Völker in Arme und Reiche, bringt auch gespaltene Menschen hervor (und umgekehrt: gespaltene Menschen, im inneren Widerstand gegen ihre Berufung als Kind Gottes, verursachen Spaltung und zerstören Gemeinschaft). Das Wird besonders deutlich in den reichen Ländern (kann aber hier nur angedeutet werden). Welche Chancen hat z.B. ein Kind, das in eine Gesellschaft hineingeboren wird, in der Profit, Gier nach Macht und Besitz die höchsten Werte sind, ein Mensch zu werden, der andere Menschen als Mitmenschen erkennt und behandelt? Und welche Chancen hat ein Erwachsener, der versucht, aus diesem System auszubrechen? Wird er nicht als Aussätziger oder bestenfalls als armer Irrer angesehen? Kann man, eingeschlossen in eine derart eindimensionale und materialistische Gesellschaft, deren höchste Werte diametral dem Evangelium vom anbrechenden Reich Gottes entgegen stehen , überhaupt das Wort Gottes und des Anderen hören oder gar erfahren? Wie die Geschichte lehrt, wird normalerweise ein Mensch, der in einer solchen Gesellschaft lebt und „standesgemäß“ erzogen wird, deren Werte mehr oder weniger übernehmen – von der grundsätzlichen Möglichkeit einer radikalen Umkehr wie z.B. bei Franziskus abgesehen. Nicht der biblische Gott wird ihr Herr sein, sondern ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte, die Macht und der Besitz. Denn diese „Götter“ verheißen dem Menschen alles, wonach ihm begehrt. Der Mitmensch wird zuerst als Konkurrent erfahren oder als potentielles Opfer betrachtet. Und nun beginnt das Spiel von vorne und endet dort, wo diese Arbeit begann: beim Elend von 2/3 der Menschheit.

 

„Über die Situation des lateinamerikanischen Menschen gibt es viele Studien. In allen wird das Elend beschrieben, das große Menschengruppen in die Randzonen des Gemeinschaftslebens drängt. Dieses Elend als Massenerscheinung ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit“.[19] Ungerecht sein heißt Gott verneinen und ist daher ist praktizierter Atheismus. „Die Bischöfe sagen unter anderem, dass die Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit unter den Menschen das Kernstück der biblischen Botschaft ist. Gerechtigkeit üben heißt Gott erkennen und somit ihn lieben“.[20] Elend und Armut drohen den Menschen zu entmenschlichen. Leben in biblischer Bedeutung ist mehr als Überleben. Strukturelle Ungerechtigkeiten wie mangelnde Bildung, mangelnde medizinische Versorgung, keine ausreichende Ernährung u.v.m. berauben den Menschen der Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind und zu denen er berufen ist. Ein solcher Mensch wird seiner Würde beraubt und das ihm verheißene „Leben in Fülle“ wird ihm verwehrt. Armut ist eine Beleidigung Gottes. „Mit einem Wort gesagt: das Bestehen von Armut spiegelt einen Bruch in der Solidarität der Menschen untereinander und in ihrer Gemeinschaft mit Gott. Die strukturelle Existenz von Armut ist Ausdruck von Sünde, d.h. Verneinung von Liebe. Deshalb ist sie unvereinbar mit dem Kommen der Herrschaft Gottes, die ein Reich der Liebe und der Gerechtigkeit inauguriert“.[21]

 

2. Das Nein zum Anderen als Ursünde

 

Weil der Mensch, auch der schon erlöste und befreite Mensch, immer schon (noch) ein Sünder ist, eben weil er Mensch ist und nicht Gott, kann er auch nicht aus sich heraus eine völlig befreite und erlöste Welt schaffen. Seit es Menschen gibt und solange es Menschen geben wird, leben sie in der Versuchung, wie Gott sein zu wollen, über andere Menschen zu herrschen, mehr sein und mehr haben zu wollen und ihr eigenes Leben ohne Rücksicht auf andere genießen zu wollen. Theologen können das meist leicht und theoretisch und biblisch erklären und schreiben dicke Bücher darüber. Aber dies geschieht meist sehr abstrakt (als ob sich je ein Mensch ernsthaft überlegen würde: will ich sein wie oder nicht?) und geschichtslos. Erstrecht wird z.B. Missbrauch durch ökonomische Macht nicht aufgedeckt oder die Schuldigen oder Verursacher von Hunger nicht namentlich genannt. Zudem wird die Sünde meist immer noch als etwas rein Innerliches und Privates angesehen - als eine Angelegenheit zwischen „meinem Gott“ und mir. Das ist aber nicht gemeint, wenn in dieser Arbeit wie in der Bibel von „der Sünde der Welt“ gesprochen wird. Vielmehr gilt es zu zeigen, warum sich ausgerechnet im christlichen Europa ein derartiges Herrschaftsgebaren entwickeln konnte, eine „Kultur und Praxis des Todes“ die geprägt ist von der Gier nach mehr haben wollen und Macht über den Nächsten. Es gilt den Zusammenhang aufzuzeigen zwischen der heute bestehenden Situation in der Welt (Spaltung etc.) und der Ursünde, die sich dank der Herrschaft der Europäer, ihrer Kultur und Mentalität, weltweit etabliert hat.

 

„Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht“. „Denken und Sein sind dasselbe“. Um diese zwei Sätze des Parmenides kreist die gesamte griechische klassische Philosophie, insbesondere die Dialektik des Aristoteles. Für den gebildeten Griechen war seine Welt, seine Polis, das Sein schlechthin. Seine Kultur und seine Polis waren der Maßstab, mit dem er die ganze Welt maß. Und entsprechend diesem Maß unterteilte er die Welt und die Menschen. Was außerhalb dieser seiner Welt lebte, war das Nichts (der Nicht-Mensch). Das waren die Barbaren, die Sklaven und alles, was jenseits des griechischen Denkhorizontes lag. Auf diese Weise vergöttlichte der Grieche seine Welt und tötete damit die Anderen als Andere, bzw. er nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Eine solche Ontologie ist per se unterdrückerisch und imperialistisch – von einem Menschen der Peripherie, vom Standpunkt eines Barbaren her betrachtet. Diese Welt „außerhalb“ kann daher entweder nur völlig ignoriert (nicht existent), oder vernichtet oder völlig vereinnahmt werden.[22]

 

Von dieser Philosophie ist das gesamte abendländische Denken bis heute beeinflusst. Descartes sagte: „Ich denke, also bin ich“. Das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt seines Denkens und bis heute auch der europäischen Philosophie. Selbst J. P. Sartre, der für sich in Anspruch nimmt, die bisherige abendländische Philosophie überwunden zu haben, bleibt in dieser Subjektivität, des Kreisens um sich selbst, gefangen (wenn auch mit guten Ansätzen, diese zu überwinden). Für Fichte ist das Ich das Absolute und durch sich selbst Gesetzte. Die Grundlage seiner Philosophie ist das „Ich bin Ich“, das Ich als Totalität. Das Ich wird nicht von wo andersher, z.B. von einem anderen Menschen her konstituiert, sondern von der eigenen „Ichheit“ - im Gegensatz und in Abgrenzung zum Anderen. Fichte ist zwar ein besonders exponierter Denker dieser Art von Subjektivität, aber im Grunde bleibt auch die klassische deutsche Philosophie in diesem Ansatz gefangen. Dieser Ansatz wird z.B. von Hegel wiederholt und weitergeführt. Für ihn ist das Ganze das Eine. Die hegelianische Dialektik geht vom Ich aus und setzt sich dabei zwar einem Objekt gegenüber, aber dieses Gegenüber ist vom eigenen Ich her gedacht und konstruiert. Dieser scheinbar dynamische Prozess, der eigentlich ja über den eigenen Standpunkt hinausführen könnte und müsste, geschieht innerhalb einer Totalität und eines geschlossenen Denkhorizontes, den man nur als absolute Subjektivität bezeichnen kann.

Bei Hegel und Gefolge wird diese Totalität mit dem eigenen ontologischen Horizont identifiziert, d.h. mit dem europäischen Denken, der europäischen Kultur und der europäischen (Eroberungs-) Geschichte, die so verhängnisvoll für die übrige Welt waren und noch sind. So sprechen Hegel, Fichte, Goethe u.v.m. und selbst Marx von den Menschen in Afrika und den Indianern in Amerika wie selbstverständlich von den Wilden, die bestenfalls die unterste Stufe des Menschseins erreicht haben - wenn überhaupt. (Ein nützlicher Hinweis auf die Kraft der menschliche Vernunft und dem Wissen und dem Anspruch der selbst ernannten Intellektuellen, die auch heute angesichts des Zustandes der Welt jämmerlich versagen). Der Andere wird nicht als der Andere gesehen, er wird nicht als (gleichwertiger) Mensch geachtet und respektiert. Er wird getötet, in seiner Identität ausgelöscht. „Das Schwerwiegendste ist, dass die besagte Ontologie die europäische und auf Eroberung ausgerichtete Subjektivität vergöttlicht.

 

 Seit der imperialistischen Ausdehnung im 15. Jh. macht sich diese daran, die Welt zu erobern. ´Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht´. Das Sein ist die europäische Vernunft, das Nichtsein sind die anderen Menschen. Lateinamerika und die gesamte Peripherie werden deshalb als das Nichtsein definiert, als das Irrationale, das Barbarische, das Nichtexistente. Die Ontologie der Identität der Vernunft und Göttlichkeit mit dem sein endet darin, die imperialistischen Kriege eines Europas zu begründen, das die anderen Völker, errichtet als Kolonien und Abhängige, in allen ihren Lebensgewohnheiten beherrscht. Die naive hegelianische Ontologie endet so darin, die gelehrte Begründung des Völkermords an den Indianern, Afrikanern und Asiaten zu sein. Die Subjektivität des ´ego cogito ´verwandelt sich so in den Willen zur Macht“, zum Willen, den Anderen zu vernichten.“[23]

 

Auch Karl Marx konnte dieses genuin europäische Denken nicht überwinden. Die dialektische Philosophie Hegels hat bei Marx weiter seine Gültigkeit. Die Dialektik besteht auch bei Marx in der dialektischen Ausfaltung des bestehenden, europäischen und kapitalistischen Seins. Nur ist nun für Marx das Sein die Arbeit. „Die Kategorie der Totalität als solche wird nicht überwunden. Die Möglichkeit eines Systems, das von außerhalb des bestehenden Systems entsteht, vom außerhalb des Kapitalismus her, ist unmöglich“.[24] Marx bleibt innerhalb seiner bürgerlichen Welt gefangen und kann daher nicht zum Anderen finden, der außerhalb lebt. Der Andere wird nur als Gegenpol meiner selbst gedacht, z.B. als Unterdrücker. Die neu zu entstehende Gesellschaft wird konsequenterweise als neue Totalität gedacht. Die Methode der Dialektik erweist sich ihrer Natur nach als ungeeignet um den Anderen zu hören und zu ihm zu gelangen.

 

Von Parmenides führt ein direkter Weg über Descartes, Hegel, Marx und Heidegger bis in die Gegenwart. „Das Bedenkliche ist, dass der Andere, der andere Mensch als der Andere (der Indio, der Afrikaner, der Asiat, die Frau usw.) zu einer Idee, zu einem Objekt, zu dem Sinn wird, der von einem ´konstituierendem Ur-Ich´ konstituiert wird: der Andere wird zu einem bloßen ´cogitatum´ ent–identifiziert, verdinglicht und entfremdet“. [25] Die Europäer, in ihrem So-Sein gerechtfertigt durch die europäische Philosophie (und ihrem Gefolge ihre Religion und Moral - oder zuerst Religion?) erhoben ihre Art zu leben, zu denken und zu glauben zum absoluten Maßstab und vergöttlichten somit sich selbst und die Ganzheit in der sie lebten. Gott als der ganz Andere, der Analektische, wurde damit getötet, ebenso alle, die nicht zu diesem System gehörten oder es nicht anerkannten. Nach biblischen Glauben wird dort, wo Gott getötet wird, auch der Mensch getötet (und umgekehrt). Menschen, die den Christus, kreuzigen, kreuzigen die gesamte Menschheit. Und überall dort, wo Menschen um der Habgier willen um ihr Leben gebracht werden, da wird Christus gekreuzigt. „Der moderne Mensch, indem er den Anderen verneint, den absolut Anderen, nämlich Gott, die absolute Andersheit, bleibt mit seinem ´Ego ´allein. Und in dem in seinem ´Ego ´ allein bleibt, ist das Schlimmste nicht, dass er auch ohne Gott bleibt, sondern dass er sich selbst als Totalität konstituiert“.[26] Diese Nein zu Gott und dem Mitmenschen kann man als die Ursünde schlechthin bezeichnen.

 

In der Bibel wird das gerade gesagte verdeutlicht, u.a. in dem Beispiel von Kain und Abel. Kain tötet den Anderen, seinen Bruder, und macht sich dadurch zum alleinigen Maßstab, zur Totalität. Wenn die Andersheit ausgelöscht oder verleugnet wird, ist das, was bleibt, das Eine und das Ganze. Und dieses Eine und Ganze verabsolutiert sich, notwendigerweise. Es vergöttlicht sich, weil es sich selbst zum Ausgangspunkt und Ursprung von allem macht und sich damit an die Stelle Gottes setzt, wie Gott sein will. Das ist zugleich die Urversuchung der Menschheit und aller Menschen. Denn sie sind frei, ob sie Gott als den Ursprung allen Lebens anerkennen oder sich selbst für den Ursprung halten wollen. Die Schlange sagt zu Adam: „Ihr werdet sein wie die Götter“. Kann es eine größere Versuchung geben? Doch die Geschichte der Menschheit zeigt, gerade auch die Geschichte Israels, wohin es führt, wenn der Mensch dieser Versuchung erliegt. Wer den Gott des Lebens tötet und sich an seine Stelle setzt, der zerstört die menschliche Familie, die Gemeinschaft unter den Menschen und die Schöpfung Gottes als Ganzes. Wenn der Andere ausgelöscht wird, wird das eigene Ich notwendigerweise sakralisiert und zum Götzen. Und indem man nun diesen Götzen anbetet, betet man sich selbst an oder das Werk der eigenen Hände. Wenn die Bibel von Götzendienst spricht und diesen verurteilt, so meint diesen Götzendienst. „Derjenige, der den Anderen tötet, muss sich selbst als göttlich anbeten. In diesem Fall ist der Götzendienst, dessen Fetischisierung mit der Ungerechtigkeit des Brudermords oder dem Tod des Anderen begann, als Atheismus gegenüber dem Schöpfergott zu betrachten“.[27]

 

Die Sünde wider den Anderen besteht so in der Verneinung des Anderen und in der Bestätigung der eigenen Totalität als göttlich und im Götzendienst. Dies wirkt sich konkret im ungerechten Verhalten gegenüber dem Nächsten aus, der Hauptsünde im NT. Höre ich nicht auf den Nächsten, den Bruder und die Schwester, und mache ich mir seine Bedürfnisse nicht zu meinen eigenen, so verneine ich ihn als Bruder und Schwester und bestätige mich als den Einzigen. Das wird besonders deutlich in der Erzählung vom Barmherzigen Samariter. Der Nächste, der Andere, ist grundsätzlich derjenige, der unter die Räuber gefallen ist und der hilflos im Straßengraben liegt, verletzt und beraubt. An ihm vorbeigehen, ihn nicht hören und nicht sehen, ihn nicht als Mitmensch zu erkennen, heißt, ihn zu verneinen, heißt Gott verneinen. Ein Priester und ein Levit gehen vorbei.

 

Die Propheten des AT klagen den Götzendienst und den Ungehorsam gegenüber Gott als Hauptsünde und als die Ursache für das Elend und die Ungerechtigkeiten in Israel an. Denn dieser Ungehorsam bzw. Götzendienst und Abfall von Gott, wirken sich aus in der Ablehnung des Menschen und schafft konsequenterweise Ungerechtigkeit und Elend. Die Propheten klagen aber nicht nur den Einzelnen an, sondern sie klagen die Totalisierung der bestehenden und von Menschen verursachten Unordnung an sowie die Vergöttlichung der bestehenden politischen Machtverhältnisse. Denn sie bedeuten letztlich die Institutionalisierung und Etablierung der Hauptsünde wider Gott und den Mitmenschen.

 

Die Propheten sprechen im Namen Gottes. Nur von der Andersheit her, von außerhalb des Systems her, kann man den Anderen hören, kann man gegen die etablierte Ungerechtigkeit ankämpfen. Das ist auch der Grund, warum die jüdische Amtskirche, Priester und Levit, nicht den Anderen sahen und an ihm vorbei gingen. Sie lebten ja in ihrer eigenen Ordnung, ihrem eigenen Kult und ihren eigenen Gesetzen; sie hatten ihre eigenen angestellten Hofpropheten und hielten sich für die Stellvertreter Gottes bzw. für sein Werkzeug - Stellvertreter eines Gottes, den sie sich selbst und in ihrem eigenen Interesse so ausgedacht haben. Sie sind so Stellvertreter ihrer selbst, ihrer eigenen Selbstherrlichkeit. Die wahren Propheten aber, wie sie uns die Bibel zeigt, werden von diesen Hohepriestern verfolgt und der endgültige Prophet, Jesus, erstrecht. Die Totalität, das selbstherrliche System, das für sich totale Unterwerfung fordert, nimmt die Kritik der biblischen Propheten nicht an, sie könnte das gar nicht, ohne sich selbst in Frage zu stellen. „Hat sich das System erst einmal vergöttlicht, ist es möglich, die wahren Propheten zu töten und im Namen des göttlichen Rechts den Schwachen zu unterdrücken“.[28] In der Folge werden im Namen des göttlichen Rechts ganze Völker ausgerottet.

 

3. Die bestehende Situation als geschichtliche Ausfaltung dieser Ursünde

 

„Das Nein zum Anderen ist die einzig mögliche Sünde; es ist die `Sünde der Welt`, die Ursünde. Geschichtlich und real gesehen nimmt die Sünde seit dem 15. Jh. die konkrete Gestalt des Neins des nordatlantischen Zentrums zum Indio, Afrikaner, Asiaten, zum Landarbeiter, zum Außenseiter an“.[29] Der Europäer erobert die ganze Welt und sieht dies als legitime Ausfaltung seines Ich, seiner Welt und seiner Kultur an (siehe europäische Philosophie). Er leugnet damit die anthropologische Andersheit (z.B. den Indio) und die absolute Andersheit (Gott). Er bestätigt dadurch sich selbst und seine abendländische Zivilisation als „Gott“. Er erklärt seine Welt zur Welt schlechthin und erhebt die Herrschaft des Menschen über den Menschen zur „natürlichen Ordnung“ (Aristoteles). Das führt zu einer Spaltung der Welt in Herrscher und Beherrschte – in solche, die die Zivilisation und die Kultur besitzen und solche, denen man dies erst alles beibringen muss (bestenfalls). Die Anderen, andere Kulturen, andere Rassen, die „Barbaren“, schlägt man entweder tot oder man versucht sie mit Gewalt in die eigene, nämlich die europäisch christliche Welt zu integrieren. Im Namen Gottes, der in Wirklichkeit der von den „Fürsten dieser Welt“ geschaffene Gott war, in dem sie sich selbst anbeten konnten, zogen sie aus, die “Wilden“ zu zivilisieren und zu missionieren. Und weil dies im Namen Gottes geschah, im Namen der einzigen, der christlichen Zivilisation, fühlten sie sich nicht schuldig, sondern im wahrsten Sinne des Wortes als „Heilsbringer“. Falls sich der Heide nicht missionieren lassen wollte, durfte man ihm den Krieg erklären und zur Hölle schicken.

 

Die Totalisierung des neuzeitlichen Systems und der europäisch-griechischen Religion durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Herrschaft beginnt im 15. Jh. und hat sich bis heute endgültig etabliert und stabilisiert. Nach den Eroberern und Missionaren kamen die Händler, Geschäftsleute und Bankiers, die sich mit Erfolg bemühten, die Kolonien Europas in gewinnträchtige Quellen für den Reichtum des Zentrums zu verwandeln. Der Reichtum Europas beruhte (und beruht) auf der systematischen Ausbeutung und Verelendung seiner Kolonien. Dieser Zustand wird bis heute gewaltsam aufrechterhalten. Das Zentrum (Europa und seine erwachsenen Söhne USA und UDSSR) pflegt heute noch dieselbe Ideologie und dieselbe Praxis, wenn auch in „verfeinerter Form“, wie oben beschrieben. Dieses Gebaren wird von der herrschenden Religion, Kultur und Philosophie abgesegnet oder bekommt zumindest die Absolution. Der amerikanische Präsident Johnson sagte 1966 zu Soldaten auf dem Weg nach Vietnam: „Vergesst nicht, dass wir 200 Millionen sind in einer Welt von drei Milliarden. Die wollen haben, was wir haben, aber wir denken nicht daran, es ihnen zu geben“.[30]

 

Die reichen Länder hören und respektieren nicht die armen Länder und deren Andersheit (andere Kulturen, andere Werte, die Armen und Unterdrückten). Sie fahren fort, sie zu verneinen und handeln nur gemäß ihren eigenen Interessen. Es gelingt ihnen sogar, dieses Handeln als Wohltat oder gar Ausdruck christlicher Nächstenliebe zu verkaufen. Es ist ihnen tatsächlich fast ganz gelungen, diese ihre Ideologie weltweit zu verbreiten. Besonders die USA fühlen sich immer mehr berufen (denn sie haben noch mehr Kraft und Vitalität als der alte Kontinent), ihren Lebensstil weltweit als Maßstab zu etablieren, den „american way of life“. Ausgebeutete Menschen scheinen nichts anderes zu wünschen, als die gleichen Güter konsumieren zu können wie ihre Unterdrücker (oder Befreier?). Sie küssen ihren Unterdrückern aus Dankbarkeit die Hände, sie geben ihre eigene primitive Kultur auf um zu werden wie die Herren. Gott scheint auf der Seite dieser Herren zu stehen. Denn wie sonst könnten sie so erfolgreich, reich und allmächtig sein? Ausgebeutete Menschen geben sich selbst die Schuld an ihrem traurigen Schicksal, sie glauben an die von den Weißen erfundenen Mythen, ihr elendes Leben sei von Gott so gewollt und sie hätten nichts Besseres verdient. Die Armen, verführt von den angeblichen Segnungen der globalen Konsumgesellschaft ziehen in die Städte und werden dort noch ärmer und entwurzelter. Sie übernehmen die Religion ihrer Herrscher, wonach der Starke, der Clevere und Rücksichtslose alles erreichen kann. Dies scheint glaubwürdig, weil doch alles im Namen der Zivilisation, der Freiheit und des Fortschritts geschieht. Mitmenschen werden immer mehr als Konkurrenten z.B. im Kampf um einen Arbeitsplatz angesehen, im Kampf um einen Platz an der Sonne.

 

Die Vielen wollen wie die Wenigen werden. Unterentwickelte Länder wollen entwickelt werden und wie Europa sein. Die Totalisierung des neuzeitlichen Systems ist nahezu abgeschlossen. Es mag zwar noch einige „Wilde im Busch“ geben, die noch nicht wissen, wie Coca-Cola schmeckt, aber selbst deren Wildheit wird inzwischen erfolgreich vermarktet.[31] Heute sind keine Kolonialkriege oder direkte militärische Aggressionen, wie dies bis vor kurzem noch der Fall war, notwendig, um das System aufrechterhalten zu können. Denn die weltweit herrschende und von Europa ausgehende Wirtschaftsform reguliert - quasi automatisch - die Herrschaft des Zentrums über die Peripherie mit einer dem System immanenten Logik.

 

„In der politischen Position (Bruder - Bruder) herrscht heute die Herrschaft des Zentrums über die Peripherie; dieses Herrschaftsverhältnis reproduziert sich innerhalb der einzelnen Völker in der Hauptstadt, die das Landesinnere und die Provinzen ausbeutet, in der Oligarchenklasse, welche über die Arbeiter herrscht, in den Bürokratien, welche die Masse des Volkes gängeln, usw.“.[32] „Eine oligarchische Elite, die in den abhängigen Nationen das unterdrückte Volk beherrscht, erfüllt so schließlich die Parolen der Universalität der Kultur des Zentrums“.[33] Die Mehrheit der Bevölkerung, ausgebeutet und verführt von den „Fürsten dieser Welt“, leidet so unter einer doppelten Herrschaft. Unvorstellbares Elend für 2-3 Milliarden Menschen ist das Ergebnis.

 

Die Praxis der Herrschaft ist die Praxis des Nein zu Abel und sie beginnt da, wo der Andere verneint und das Ich verherrlicht wird. Und sie endet in der Herrschaft der Starken über die Schwachen. Die Praxis der Herrschaft, die Ursünde der Menschheit, herrscht heute weltweit – nicht zuletzt dank der christlich-abendländischen Zivilisation. Und es wird immer schwerer, sowohl für einzelne Länder als auch besonders für den Einzelnen, sich aus dieser Praxis der Herrschaft zu befreien.

 

III. Eine Praxis der Befreiung

 

Die Praxis der Befreiung beginnt da, wo der Anruf des Anderen (Gott) als Wort des Anderen an mich gehört und ihm gefolgt wird in eine andere, neue Welt, in die Welt des Anderen, die jenseits meiner selbst und meiner Welt liegt.

 

1. Das Ja zum Anderen als Anderen („Antisünde“)

 

Die europäische Philosophie führt nicht zum Anderen. Für sie ist der Andere entweder das Nicht-Sein, oder sie schließt den Anderen als Objekt oder Ding in ihre Welt mit ein und zerstört damit seine Identität. Die Herrschaft der Weißen über die Welt auf politisch-wirtschaftlicher und kultureller Ebene ist Ausfluss und konkreter Ausdruck dieser Herrschaftsphilosophie und umgekehrt (eine bestimmte Praxis führt zu einer entsprechenden Begründung und Rechtfertigung dieser Praxis). Um das Wort des Anderen zu hören, sind eine andere Philosophie, Theologie und politische Theorie notwendig. Diese muss von dem provozierenden Wort des Anderen ausgehen. Dieses Wort ist der Ruf der unterdrückten Völker nach Gerechtigkeit und Freiheit.

 

Den ersten Schritt zur Überwindung der Herrschaftsontologie machten Zubiri und Levinas. Die wichtigsten Aussagen (nach Dussel) sind: Der Andere ist nicht Teil meiner Welt, auch dient er nicht als Kontrast, um mich selbst erst als Ich zu erkennen. Der Andere und Ich stehen nicht innerhalb derselben Welt, nämlich der meinen. Sondern der Andere ist der absolut Andere. „Die Gemeinschaft, wo ich sage Du oder Wir ist nicht der Plural von Ich. Ich oder Du sind somit nicht Individuen eines gemeinsamen Konzepts. Die Sprache, das Wort, die Rede entspringt vom Anderen, von seiner Andersheit her, die niemals eingeschlossen ist in eine Totalität, die ich besitzen kann. Sein Wort drückt von einem Jenseits seines Antlitzes her sein eigenes Sein aus“.[34] Über den Anderen habe ich keine Macht, er ist der Freie, er ist Andersheit (“exteriorité“); d.h. außerhalb meiner Welt und meines Begreifens. Von dort aus richtet er sein Wort an mich. Er spricht aus sich. Wenn aber der Andere in meine Welt mit eingeschlossen ist, d.h. wenn ich ihn von daher begreife und verstehen will, dann kann ich ihm nie gerecht werden, nur mir selbst. Ich „vergewaltige“ ihn, tue ihm Gewalt an, weil ich dem Anderen nur dann sein Existenzrecht zubillige, wenn er einen Sinn und einen Ort in meiner Welt hat.

So wie der Andere, so ist auch das Sein etwas, das mir zunächst verdeckt ist und das sich mir nur als Anderssein durch das Wort offenbart. Der Mensch kann nie einen unmittelbaren Zugang zum Sein (und zur Realität) haben, sondern nur (wenn überhaupt) einen „vermittelten“ Zugang durch andere. „Eine Andersheit erhebt sich hinter dem Horizont meiner Welt. Der Andere als das Geheimnis ist das Wohin, das Jenseits meiner Welt“.[35] Der Andere (Mensch) ist die Epiphanie des göttlichen Anderen. Die Andersheit, der Andere, ist somit ein Geheimnis für mich, das ich von mir aus nicht erhellen kann, sondern das sich enthüllt, indem es das Wort an mich richtet.

 

Dieser erste Schritt von Levinas, so notwendig er auch ist, genügt aber noch nicht. Denn der Andere bleibt bei Levinas (noch) fleischlos und geschichtslos. Er ist noch reine Theorie und führt so nicht zu einer befreienden Praxis. In unserer Welt heute ist der Andere der Indianer, Afrikaner oder Asiat, der Unterdrückte und Beherrschte, der nach Gerechtigkeit und Befreiung ruft. Doch der Andere ist nicht nur ein einzelner Mensch, sondern mehr: er ist auch ein ganzes Volk, eine unterdrückte Minderheit oder Mehrheit, eine diskriminierte Rasse etc. Schließlich: der Andere ist zugleich immer Epiphanie des absolut Anderen.[36] Gott offenbart sich im Ruf nach Befreiung und im Antlitz des Schwachen und im Antlitz der gekreuzigten Menschen unserer Zeit. Diese haben das erste Wort und das höchste Wort, ihr Ruf und ihr Zeugnis allein ist maßgebend – und nicht die Regeln eines sich selbst verherrlichenden und unfehlbaren (d.h. eines sich absolut setzenden) Apparates. Das Wort des unterdrückten und nach Gerechtigkeit schreienden Volkes ist das Thema jeder sich als christlich und human verstehenden Philosophie und Theologie. Eine solche Theologie ist notwendigerweise atheistisch (ungläubig dem herrschenden System) und wird deshalb, weil „ketzerisch“ und gefährlich, bekämpft. Erstrecht werden Menschen, die wie Jesus in dem Hungernden die Offenbarung des lebendigen Gottes sehen, von den Mächtigen dieser Welt verfolgt und gekreuzigt.

 

Die Methode einer solchen Philosophie und Theologie ist die analektische Methode. „Die analektische Methode geht vom Anderen als Freien aus, als einem, der jenseits des Systems der Totalität steht. Sie geht daher von seinem Wort aus und von der Offenbarung, um ihm zu dienen. Die dialektische Methode hingegen ist die auf Herrschaft ausgerichtete Expansion der Totalität von sich selbst aus“.[37] Diese analektische Methode kann und darf aber nie nur theoretisch sein, sondern sie geht z.B. von dem Hungernden aus und damit verbunden ist „automatisch“ die Option, mit dem Hungernden sein Brot zu teilen. „Die Annahme des Anderen als Anderen bedeutet schon eine ethische Option, eine getroffene Wahl und ein moralisches Engagement. Es ist notwendig, sich zuerst als Totalität zu verneinen. Die analektische Methode schließt deshalb eine vorhergehende, praktische und historische Option mit ein“.[38] Es genügt deshalb nicht, das Wort des Anderen nur zu hören und es zu hören wissen, sondern es ist notwendig, ihm zu vertrauen und zu folgen. Ich kann das Wort des Anderen nicht in dem Sinne interpretieren, dass ich h von meinen eigenen und gewohnten Denkkategorien ausgehe und von daher das Wort verstehe und interpretiere. Das Wort des Andern kann ich nicht dem meinen ähnlich machen und nicht in meine Welt integrieren. Das Stichwort an dieser Stelle heißt Vertrauen. Denn das Wort des Anderen kann man erst verstehen, wenn man sich ihm öffnet, wenn man Vertrauen zu ihm hat und an sein Wort glaubt, allein weil er es gesagt hat. Das Wort, das von einem Jenseits meiner Welt kommt, gibt mir die Möglichkeit, aus meiner geschlossenen Welt herauszufinden. „Allein durch das Vertrauen in den Anderen und fest gestützt auf sein Wort, kann die Totalität aufgebrochen werden. Wenn man den Weg der Befreiung mit dem Anderen geht, erreicht man die eigene Befreiung“.[39]

Nur durch und mit den Anderen werde ich befreit. In den Armen und Unterdrückten rettet Gott die Menschheit. Die eigene Befreiung ist nur als freie Zugabe zu verstehen, als Gabe und Geschenk, weil der Andere nun frei ist, um mich zu befreien. Nicht ich befreie mich, sondern ich werde frei, wenn ich mich mit dem Anderen auf den Weg dessen Befreiung mache (z.B. wenn ich mit dem Hungrigen mein Brot teile). Dieser Weg der Befreiung erfordert ein existenzielles Engagement. Es bedeutet, ein Wagnis auf sich zu nehmen und aus der scheinbaren Sicherheit auszuziehen. Ich muss mein eigenes Leben mit einbringen („aufs Spiel setzen“) - allein im Vertrauen auf das Wort des Anderen.

 

Bekennende Christen haben (hätten) hier einen Standortvorteil, denn sie haben diesen Ruf des Anderen ja schon gehört (bzw. wissen theoretisch von ihm), sonst wären sie ja keine Christen bzw. sie würden ihre eigene Taufe und Berufung verleugnen. Sie glauben an die Botschaft Jesu, an seine Worte und seine Praxis, sie kennen auch sein Schicksal. Doch was tun sie selbst? Dussel antwortet: „Europa akzeptiert diese einfache Position nicht, will sie nicht akzeptieren. Sie bedeutet das Ende seiner angestrebten Universalität. Europa ist zu stark geprägt von seiner Universalität und von der Überlegenheit seiner Kultur. Europa und seine Prolongationen (USA, UDSSR) wissen nicht die Stimme des Anderen (Lateinamerika, Araber, Schwarzafrika, Indien…) zu hören“.[40]

 

Speziell für Christen scheint es fast unmöglich aus ihrem „Goldenen Käfig“ der materiellen Sicherheit und spirituellen und individuellen Selbstgefälligkeit auszubrechen. Sie kommen ja schon scheinbar bekehrt zur Welt, denn die abendländisch-griechische Art zu glauben und zu leben wird ihnen schon mit der Muttermilch eingegeben. Und sie werden in dieser scheinbaren Gewissheit von ihren real existierenden Kirchen, die in ihrem Sosein ein existentielles Interesse daran haben, dass sich nichts ändert, bestärkt und gerechtfertigt. Ihre Angst, alles zu verlieren, ist größer als das Vertrauen in das Wort und den Ruf Gottes.

 

In der Bibel (Ex 3,8) wird das eben umständlich Gesagte in der Geschichte mit Moses klar und einfach ausgedrückt, ebenso im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37). Gott offenbart sich Moses und ruft ihn beim Namen. Er offenbart sich ihm in der Wüste. Denn innerhalb der geschlossen Gesellschaft, in der ich lebe, kann ich die Stimme des Anderen nicht hören. Es ist vielmehr notwendig, in die Wüste hinauszuziehen – wie auch das Volk Gottes (Israel) erst durch die Wüste ziehen musste um zu erfahren, was Gott mit ihm vorhat. Die Stimme des Anderen rief Moses bei seinem Namen, also konkret und geschichtlich. Moses fragte: „Wer bist du?“. Der Andere (Gott) gab ihm die Antwort und offenbarte sich ihm als der Andere. „Ich, den du nicht sehen kannst, ich habe gesehen und jetzt kannst auch du sehen, dass mein Volk in Ägypten versklavt ist. Und deswegen befehle ich dir, dem Propheten, dass du es befreist“. Und Moses folgte dem Ruf und führte sein Volk aus der Sklaverei.

 

Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37) dagegen hören die Vertreter der etablierten „Kirche“ nicht den Ruf Gottes. Sie gehen an dem Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, vorbei. Als Priester und Levit sind sie im herrschenden System eingeschlossen, sie sind dessen Büttel. Sie haben darin ihren festen Platz und eine bestimmte Funktion. Von ihrem Weg abzuweichen, könnte alles aus dem Lot bringen. Ihre Hauptaufgabe ist der Kult im Tempel, Weihrauch und Opfer. Nicht so der Samariter. Er ist ein Außenseiter, ein „Nichtfrommer“, ein Verachteter. Er ist der Andere zu der bestehenden jüdischen Gesellschaft und Religion. Auch der Mensch im Straßengraben war ein Mensch jenseits der Totalität, er lag außerhalb des Weges, den alle gingen. Der Samariter hörte und erkannte ihn als solchen, nämlich als den Anderen, von Räubern ausgeplündert, vom herrschenden System unbeachtet liegen gelassen. Der Samariter öffnete sich ihm, ohne lange vorher nachzudenken, sondern getrieben von einem mit-leidendem Gefühl. Dies fiel ihm wohl auch leichter, weil selbst ein Verachteter, als einem Vertreter des herrschenden theokratischen Systems. Der sich dem Anderen öffnet und ein offenes und hörendes Herz hat, ist mit dem Anderen und bezeugt ihn. Und dadurch wird er selbst Mensch und bezeugt und verkündet dadurch die Menschwerdung Gottes im Menschen. „Das prophetische Licht des Glaubens lässt uns hinter der Maske des Unterdrückten und Entfremdeten das Antlitz des Anderen, im Sklaven Ägyptens den freien Menschen und im Verletzten und Beraubten am Wegesrand die Exteriorität der menschlichen Person entdecken“.[41] Die Bekehrung zum Anderen ist der Beginn eines Befreiungsprozesses, für sich selbst und die ganze Menschheit. Das Ja zum Anderen, zu Gott und dem leidenden Mitmenschen, ist das Nein zur Sünde, zu Brudermord und Götzendienst.

 

2. Subversive Praxis als befreiende Praxis

 

„Um das Ja zum Anderen zu bekräftigen, muss man zuvor das System enttotalisieren, aufbrechen: man muss ungläubig werden“.[42] Die Entzauberung und Enttarnung des herrschenden Götzendienstes macht den Weg für eine befreiende Praxis frei. Es kann auch umgekehrt gehen: eine tiefe und existentielle Gotteserfahrung, die mir unvermutet geschenkt wird, lässt mich den herrschenden Götzendienst als solchen erkennen. (Die christliche Tradition geht mit Recht davon aus, dass grundsätzlich jeder Mensch, eben weil er Geschöpf Gottes und Ebenbild Gottes ist, den Ruf Gottes hören kann; diese Gabe gehört zum Wesen des Menschen - ob aber diese Gabe mehr oder weniger verkümmert, verschüttet wird oder nicht, hängt von unzähligen Faktoren des menschlichen und gesellschaftlichen Daseins ab, die hier nicht zur Debatte stehen). Sich selbst zum Gott machen oder fremde Götter und Götzen anbeten, das ist die Hauptsünde Israels, des Volkes Gottes. Ungerechtigkeit, Hass und Gewalt unter den Menschen sind die Folge. Israel hört nicht (mehr) auf den Gott, der es aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Die Kinder Gottes schaffen sich neue Götter und beten Baal und das Goldene Kalb an und brechen dadurch den Bund mit Gott. Sie holen Gott in ihre eigene Welt, machen ihn verfügbar, verfolgen mit ihm ihre eigenen Zwecke und machen diese ihre eigen Welt zu Gott, zur allein seligmachenden und alles beherrschenden Wirklichkeit. Damit töten sie den Gott, der sie befreit. Sie töten ihre eigene Befreiung und werden erneut zu Sklaven. In dieser ihrer neuen Wirklichkeit haben die Schwachen und Armen keinen Platz mehr, sie stören und müssen beiseite geschafft werden (auch damit die reich Gewordenen nicht ständig an ihr Vergehen erinnert werden).

 

Die Propheten, die Verkünder des Wort Gottes, der Gerechtigkeit für die Armen und Unterdrückten, klagen den König und die ihn stützende Gesellschaft des Götzendienstes und der Ungerechtigkeit an. Die Propheten machen sich zur Stimme des Anderen und sagen damit Nein zur Verneinung der Andersheit. Sie rufen auf zum Kampf gegen die herrschende Ungerechtigkeit und stellen sich gegen das politisch-ökonomisch-religiöse System. „Der Prophet wird zum Atheisten dem Götzendienst und zum politisch Subversiven der bestehenden ungerechten Ordnung gegenüber“.[43] „Der Atheismus dem Götzendienst gegenüber ist das erste Moment der Propheten. Das zweite ist die Proklamation eines Gottes, der sich durch die Armen, die Witwe und den Waisen offenbart; sowie durch den, der außerhalb des Systems und der Totalität stehend, aufmerksam hört und ein offenes Herz hat für die Gerechtigkeit und den Anderen“.[44]

 

Das Volk Gottes hört nicht auf seine Propheten und hört nicht auf Jesus, den Propheten, das Fleisch gewordene Wort des Anderen Gottes, das sich in die Geschichte der Menschen einschließt und sich mit ihnen solidarisiert. Dieser Mensch gewordene Gott wird folgerichtig getötet, er, die Alternative zu diesem System. Denn er wird als Atheist gebrandmarkt und ausgestoßen, weil er die bestehende Totalität, konkret: die herrschende Schicht und den Götzendienst, der alle versklavt, enttarnt und entlarvt. Die Praxis Jesu des Messias ist daher notwendigerweise eine subversive Praxis. Sie stellt alle menschlichen Ordnungen und Verabsolutierungen in Frage. Mehr noch: Jesus untergräbt die Autorität der selbsternannten religiösen Führer, er verkündet das Ende ihrer Herrschaft und verkündet stattdessen den Beginn eines Neuen Himmels und einer neuen Erde, den Beginn der Herrschaft Gottes, in der Liebe und Gerechtigkeit der oberste Maßstab sind. Eine radikale Umkehr, Auszug aus der wohlbehüteten Sicherheit (einschließlich der „eingeborenen“ Heilsgewissheit) und den gewohnten Ordnungen und materiellen Absicherungen und stattdessen Hingabe an die Armen und Schwachen, an den Anderen, das ist die Bedingung für das Kommen einer neuen Gerechtigkeit und von all dem, wozu der Mensch von Gott seinem Schöpfer und Vater berufen ist. Die Botschaft Jesu ist eine Kampfansage an alle weltlichen Mächte (denn es gibt keine von Gott gewollten „Weltmächte“), an alle scheinbar „göttliche“ Ordnungen und Systeme und an alle Unterdrücker und Ausbeuter. Die Botschaft Jesu ist eine Botschaft der Befreiung von all dem, was den Menschen am wahren Menschsein (im Sinne der Berufung durch Gott) hindert, was ihn daran hindert, als Kind Gottes in Würde zu leben. Dies ist eine Frohe Botschaft für alle Menschen außerhalb des Systems, den Anderen, die vor den „Toren der Stadt“ ausharren und die Hunger haben nach Gerechtigkeit und dem täglichen Brot. Und sie werden gesättigt werden, denn Gott selbst ist Mensch geworden mitten unter ihnen.

 

„Um die Totalität der Sünde enttotalisieren zu können ist es notwendig, dass subversiv die Andersheit einbricht. Das Ana-Lektische (das, was jenseits des Systems ist), der absolut Andere, das Wort enttotalisiert sich und inkarniert sich“.[45] Dies ist mit Jesus geschehen und es geschieht weiter. Deshalb ist Befreiung heute und stets möglich. Die Menschwerdung Gottes in Jesus geht weiter in denen, die systembedingt unter die Räuber fallen, in den „Asozialen“, den „Wilden“ und Barbaren“ dieser Welt. Sie sind das Wort Gottes an uns. Man kann nicht Ja zum Anderen sagen und nicht einmal sein Wort hören, wenn man es sich allzu bequem in dieser ungerechten Ordnung macht und es sich in ihr gut sein lässt.

 

Der Beginn jeder Kritik und prophetischen Anklage ist die Kritik am herrschenden Götzendienst. Das aber muss von einem Standort außerhalb geschehen, nämlich auf der Seite der Opfer dieses Systems. Von einer solchen Warte (Standpunkt) aus ist die bestehende Totalität ein Produkt der neuzeitlich-kapitalistischen Weltordnung, die wiederum hervorgegangen ist aus der sich weltweit ausdehnenden Herrschaft der abendländischen Christenheit, die ihre Wurzeln in der griechischen Philosophie hat.

 

Diese Weltordnung ist ihrer Natur nach Götzendienst, denn sie beruht auf der Anbetung von Profit, Kapital und dessen hemmungsloser Vermehrung, auf der Ausbeutung von Menschen durch Menschen, auf der Zerstörung der Schöpfung Gottes und der wachsenden Ungleichheit zwischen arm und reich (Spaltung der Menschheit). Innerhalb dieser Ordnung werden Schwache systematisch ausgegrenzt und alle die, mit denen sich Gott zuerst solidarisiert. „Im Namen Gottes“ wäre es erstes Gebot der Christen gegen diese menschenfeindliche Ordnung aufzustehen (siehe auch das 1. der 10 Gebote). Eine solch subversive Praxis, die das bestehende wirtschaftlich-politische System verantwortlich macht z.B. für den Hungertod von 30 – 40 Millionen Menschen im Jahr (in einer Welt, die das Vielfache der derzeitigen Erdbewohner ausreichend mit allen Gütern der Schöpfung versorgen könnte), die diese herrschende Gewalt anklagt und aktiv zu überwinden sucht, ist die Vorbedingung einer Praxis der Befreiung und damit selbst schon Praxis der Befreiung (als begleitender Schritt wäre eine „Pädagogik der Befreiung“ bzw. eine „Pädagogik der Unterdrückten“ unbedingt erforderlich).

 

Jesus und jeder Prophet, der diese Missstände anklagt und deutet und stattdessen den Anbruch der Herrschaft Gottes verkündet, das Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen und sich mit dem Ausgestoßenen identifiziert, stellt für das Bestehende eine schwere Bedrohung dar. Der Prophet bzw. der Gerechte im Sinne Gottes entzieht allein schon durch seine Existenz und erstrecht durch sein Auftreten der bestehenden Herrschaft die Grundlage. Die herrschende internationale, nationale, wirtschaftliche, politische, kulturelle, pädagogische und sexuelle Repression kann den Außenseiter und Rebellen nicht dulden, da ihre Herrschaft ja auf der Unterwerfung des Anderen aufgebaut ist - ohne Beherrschte (sich beherrschen Lassende) keine Herrscher. „Solange der Unterdrückte die Unterdrückung akzeptiert, ist alles in Ordnung. Aber wenn der Unterdrückte sagt: ´Ein Moment, ich bin der Andere´ und den Weg seiner Befreiung einschlagen will, dann merkt der, der die Macht in Händen hält, dass ihm ´die Sachen aus den Händen entgleiten´.

In dem Moment, in dem wir versuchen, das System zu verlassen, hindert uns das System daran. Es hindert uns mit Gewalt daran, mit der institutionalisierten Gewalt, mit der Gewalt des Ganzen; mit den Gesetzen des Ganzen, mit der Kultur des Ganzen. Auf diese ist jener Mensch, der das System verlassen will, ein Nicht-Sein. Er ist der, der das Falsche sagt. Er ist der, den man töten muss. Es ist schrecklich, aber es ist so. Das ist die Ontologie in ihren ethischen Folgerungen. Es ist die Logik, die sich bis an ihr Ende erfüllt“.[46] Die Befreiungspraxis der Propheten und Jesu, der verfolgten Christen im römischen Reich u.v.m. weist darauf hin, dass der Befreier, der das Ende des Systems ankündigt, von den ´Engeln´ der ´Fürsten dieser Welt´ mit Gewalt beseitigt wird – d.h. von den skrupellosen Konquistadoren, den kaiserlichen Herren, den kapitalistischen Bankiers, den `Herodianern´(Regierungen abhängiger Nationen). Das System als Totalität ist der tautologische Tod. Der Tod des Befreiers ist nur der Tod des Todes, er ist bereits eine Wiedergeburt“.[47]

 

Solidarität und Klassenkampf

 

„Wenn wir Liebe und Solidarität verweigern, weisen wir Christus zurück. (´Das habt ihr mir nicht getan´). Der Arme, der Andere, wird zu einer Offenbarung des ganz Anderen“. (48] In der Welt, in der wir leben, sind mehr als die Hälfte aller Menschen unterernährt. Ihr Leben ist ein Leben in Elend, Unterdrückung und Entmenschlichung. Dies ist eine Folge der bestehenden Weltwirtschaftsordnung, eines Systems, das notwendigerweise auf der einen Seite Überfluss und gleichzeitig auf der anderen Seite Mangel und Elend produziert und das sich heute weltweit verfestigt hat. Der Arme am Rande dieser Gesellschaft (obwohl zahlenmäßig in der Mehrheit) wird ausgesondert. Mit ihm wird auch Jesus ans Kreuz geschlagen. Doch dieser Jesus ist auferstanden, was die Verdammung der Herrscher bedeutet. Jesus nachzufolgen bedeutet daher, den gleichen Weg zu gehen, das bedeutet zumindest, sich mit den Gekreuzigten zu solidarisieren. Das Gegenteil würde bedeuten, aus einem Streben nach Sicherheit und Bequemlichkeit heraus in diesem System bleiben zu wollen und leidenschaftlich zu verteidigen. Das heißt aber, Jesus nicht nachzufolgen, seinen Tod und seine Auferstehung zu leugnen, Jesus zu verneinen.

Die reale Epiphanie des Gotteswortes ist das Wort des Armen, der sagt. „Ich habe Hunger“. Wer auf dieses Wort des Hungernden hört (was voraussetzt, dass man systemungläubig ist), vernimmt das authentische Wort Gottes. Auf dieses Wort hören bedeutet auch, dem Hören Taten folgen zu lassen. Solidarität mit dem Hungernden, dem Armen kann bedeuten, mit seinem bisherigen Leben zu brechen, es bedeutet Umkehr und Bekehrung, konkret: eventuell Bruch mit der eigenen sozialen Klasse, Bruch mit der Gesellschaft und den Werten, die in ihr vorrangig vertreten werden.

 

Das Wort des Hungernden hören und als Wort Gottes an mich zu verstehen, ist aber auch der erste Schritt zu der eigenen Befreiung und der Beginn eines neuen Menschseins. „Den Anderen entdecken heißt in seine Welt eintreten und setzt einen Bruch mit unserer bisherigen Welt voraus. Wer in konkreter, engagierter Form in die Welt des Anderen, des Armen, eintritt, beginnt ein ´neuer Mensch´ zu sein. Es kommt zu einem Bekehrungsprozess“.[49] Und: „Solidarität verlangt, dass man in die Situation derer eintritt, mit denen man solidarisch ist“.[50] Solidarität mit dem Unterdrückten heißt nicht nur, dass man seine Welt annimmt, seine Kultur, seinen gesellschaftlichen Status, sondern auch, dass man sich seine Nöte und Kämpfe zu Eigen macht.

 

Solidarität mit den Armen heißt daher Kampf gegen die Unterdrückung des Armen und für eine Veränderung der Zustände, die immer mehr Armut produzieren und gegen die Ursachen der Armut. „Für den Unterdrückten eintreten heißt, gegen den Unterdrücker zu sein“.[51] Die Befreiungspraxis und Solidarität mit den Armen ist daher immer subversiv. Denn sie richtet sich gegen die bestehende ungerechte Gesellschaftsordnung, die die Ursache von Armut und Unterdrückung ist. Und sie kämpft für eine Gesellschaft, in der es weniger Entfremdung, Elend und Unterdrückung gibt, in der der Arme nicht mehr Objekt oder eine Sache ist, sondern wo er Subjekt, eine Person, nämlich er selbst ist.

 

Die bestehende Wirtschaftsordnung kann gar nicht anders als Armut zu produzieren und den Gegensatz zwischen Armen und Reichen zu verewigen, denn sie beruht ja gerade auf diesem Prinzip. Armut gibt es, weil es Reiche gibt, Unterdrückte gibt es, weil es Unterdrücker gibt. Die bestehende Ordnung beruht auf dieser Logik, sie beruht auf der Spaltung der Menschheit und eines Volkes in entgegengesetzte Klassen. Klassenkampf ist die logische Folge und zugleich die Voraussetzung der Weltordnung, wie sie seit Beginn der Neuzeit entstanden ist. Klassenkampf ist somit nicht eine unumstößliche Naturnotwendigkeit oder ein „metaphysischer Vorsehungsersatz“ (Hugo Assmann), sondern ein geschichtliches Produkt, verantwortet und in Gang gesetzt von den Menschen, die davon profitieren. Nun gibt es aber solche, die den Klassenkampf leugnen oder nicht wahrhaben wollen. Er wird von denen geleugnet, die ihn nicht erleiden müssen. Er wird erstrecht von denen geleugnet, die die Verursacher und Träger des Klassenkampfes sind, den Reichen und Mächtigen, die verantwortlich dafür sind, dass ganze Völker in Schuldknechtschaft geraten sind. Er wird folgerichtig auch mehrheitlich von der römischen Kirche geleugnet (nicht von großen Teilen der lateinamerikanischen Kirche). Wenn die Unterdrückten dennoch von Klassenkampf reden, werden sie oft der Propagierung von Hass und Gewalt bezichtigt. „Man kehrt die Rollen stillschweigend, aber sehr real um und sieht die rebellierenden Unterdrückten für die Verursacher an, die den Klassenkampf beginnen wollen“. Schon allein die Tatsache, dass man im Geist mit diesen Voraussetzungen operiert, ist vielsagend dafür, auf welche Seite sich derjenige, der unwillkürlich dieses Schema anwendet, ideologisch stellt“.[52]

 

Neutralität ist in einem solchen Konflikt unmöglich. Wer den Klassenkampf leugnet, oder gar in den Unterdrückten die Verursacher sieht, stellt sich auf die Seite der Unterdrücker und gegen die Armen. „Das Problem besteht nicht darin, eine Tatsache, die offen auf der Hand liegt, zu bestreiten, sondern zu wissen, auf wessen Seite man steht“.[53] Wenn nun die Unterdrückten den von oben nach unten praktizierten Klassenkampf aufnehmen und sich wehren, tun sie dies erst einmal, weil sie ihr Elend nicht länger ertragen können und wollen, vor allem aber um den Klassenkampf positiv zu überwinden und zu beseitigen. Denn ihr Ziel ist es nicht, die Rollen einfach zu vertauschen, sondern sie wollen eine gerechte Teilhabe an ihrer Hände Arbeit und den Gütern dieser Schöpfung. „Der primäre Beweggrund, den Klassenkampf auf sich zu nehmen, liegt in der Zielsetzung, ihn zu überwinden“.[54]

Den Klassenkampf auf sich zu nehmen bedeutet, gegen die Spaltung der Menschheit zu kämpfen, sowie gegen die Unterdrückung und gegen die Gewalt, gegen die Totalität der Sünde und gegen die „Stadt Kains“. Das Ziel ist eine klassenlose Gesellschaft, die Einheit bei aller Verschiedenheit der Menschen und mit Gott und die „Befreiung Abels“. Eine Praxis der Befreiung ist deshalb nur möglich, wenn der Klassenkampf nicht ignoriert wird, sondern wenn man ihn als Übelbetrachtet, das überwunden werden muss. „Unsere Liebe zum Nächsten ist nicht echt, wenn sie nicht den Weg der gesellschaftlichen Solidarität und des Klassenkampfes geht“.[55] J. Girardi schreibt: „Wir haben alle Menschen zu lieben, aber wir können nicht alle auf ein und dieselbe Weise lieben. Die Liebe zu den Unterdrückten zeigen wir, indem wir sie befreien helfen. Die Liebe zu den Unterdrückern zeigen wir, indem wir sie bekämpfen (d.h. im Kontext: indem wir ihnen helfen, ein neuer Mensch zu werden - Red.). Wir lieben die Einen, indem wir sie von ihrem Elend befreien und die anderen, indem wir ihnen die Befreiung von der Sünde ermöglichen“.[56]

 

Eine Praxis der Befreiung ist die Praxis des christlichen Glaubens in der Nachfolge Jesu. Eine christliche Praxis, die nicht das Wort des Armen und Unterdrückten hört, die sich nicht dessen Anliegen zu eigen macht, die sich aus der Geschichte und der „schmutzigen Politik“ heraushalten will - aus Angst, sich die ach so reine Weste zu besudeln und sein eigenes Seelenheil zu gefährden - die nichts geschichtlich - politisch verändern will (weil dies angeblich nichts mit Glauben zu tun hat), kann keine christliche Praxis sein, denn sie verleugnen Jesus Christus - seine Praxis, sein Leiden (Ursachen seines Todes) und seine Auferstehung. Eine Praxis der Befreiung, die nur auf Reform und Entwicklung (stets im Rahmen der gegebenen Verhältnisse) zielt und mitunter sehr progressistisch daherkommt, nicht aber das bestehende System als totalitär entlarvt und von Grund auf bekämpft und den Klassenkampf ignoriert, kann keine Praxis der Befreiung sein. Vielmehr stabilisiert dies das System und hilft mit, die wahren Ursachen zu verschleiern. Oft ist es auch nur ein naiver, geschichts- und problemloser - wenn auch gut gemeinter - Aktionismus, der vom echten Kampf ablenkt und eine Flucht aus der Geschichte und der Verantwortung ist. Selbstverständlich gilt dies auch für eine noch so gut gemeinte Entwicklungshilfe, deren wichtigstes Argument oft darin besteht, dass doch die armen Länder auch bald so sein können wie wir. Das individuelle Fürsorgewesen, jede bloß oberflächliche Reform der Gesellschaft ist eine Liebe, die den Hof des eigenen Hauses nicht verlässt. Es ist eine Praxis der Bestätigung des Bestehenden, der Klassengesellschaft und der Unterdrückung. „Unsere Gottesdienste können Atheismus verkünden, wenn wir gegenüber der sozialen Ungerechtigkeit indifferent bleiben. Wir können mit der Hl. Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie den Atheismus predigen, wenn wir nicht soziale Gerechtigkeit praktizieren“.[57]

 

Es sind die Pilatusse unserer Zeit, die ihre Hände in Unschuld waschen und fragen: „Was geht das mich an?“ oder „Was kann ich schon tun?“, die zulassen, dass Christus weiterhin gegeißelt wird und schließlich am Kreuze verendet. „Gegen jede Ungerechtigkeit, Beraubung und Ausbeutung kämpfen, sich tätig einsetzen, um eine brüderliche und menschlichere Welt zu schaffen, heißt die Liebe des Vaters leben und sie bezeugen“.[58] Eine andere Art, diese Liebe zu leben und zu bezeugen, gibt es nicht (Kampf und Kontemplation, es gibt unendlich viele Formen – man kann z.B. auch in der Abgeschiedenheit eines Klosters für die Befreiung kämpfen!). Eine christliche Praxis der Befreiung versucht diese Liebe wirksam (d.h. in konkreten und wirksamen Taten zugunsten der Armen) in dieser Welt werden zu lassen. Sie versucht, das Wort des Anderen (Abel, Jesus) zu hören, macht sich ihm gleich und solidarisch und geht - die Liebe als Lehrer und Führer – den Weg der Befreiung.  “Unsere Leben werden nach dem bemessen, wie wir Abel befreien (vgl. Mt 25,42-44)“.[59]

 

IV. Zielpunkte und Visionen


 

1. Eine Barbarische Theologie

 

Darunter ist eine Theologie zu verstehen, die von den Armen und Unterdrückten, von den Anderen und von den „Barbaren“ ausgeht. Eine solche Theologie wird von denen formuliert, die „außerhalb der Zivilisation des Systems und des Kapitals“ stehen und dessen Opfer sind. Für diejenigen, die nicht zu diesen Armen gehören ist es notwenig – vorrangig vor jeder Theologie – sich zu den Armen zu bekehren und sich zu seiner eigenen Verantwortung ihnen gegenüber zu bekennen. Das bedeutet eine Solidarität mit den Armen gegen die herrschende Ungerechtigkeit und weltweite Klassenherrschaft. Es ist der Aufstand derer, die um ihr Leben gebracht werden, gegen den vorzeitigen Tod. Eine Theologie, die nicht von diesen Voraussetzungen ausgeht, kann keine christliche Theologie sein. Denn sie würde Jesus den Christus verleugnen und zu einer Theologie des Kapitals werden.

 

„Die auf Herrschaft ausgehende Expansion der griechisch-lateinisch-germanischen Christenheit formuliert dementsprechend eine auf Herrschaft ausgerichtete Theologie. Schließlich ermöglichte die Expansion des Kapitalismus und Neokapitalismus den darin beheimateten Christen des Zentrums, bestenfalls ein Theologie des Status quo und einen Ökumenismus der friedlichen Koexistenz zwischen UDSSR, USA und Westeuropa zu formulieren, um desto besser über die Peripherie herrschen zu können“.[60] Die genannten Mächte - im Grunde das weiße Europa - verbindet dieselbe Ideologie und die gleichen Interessen. Der Streit innerhalb von Ost und West ist nichts anderes als ein Streit um die Beute und sie werden zu wirklichen Partnern, sobald sie sich mit einem weltweiten Aufstand der Barbaren konfrontiert sehen (was noch utopisch erscheint). Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass eine derart pervertierte Theologie auch pervertierte Verhaltensweisen und pervertierte Auffassungen von der Hl. Schrift erzeugt, wie z.B. die Reduzierung des Heils und der Erlösung auf das rein Private und auf das einzelne Individuum, auf die Rettung der Seele und damit die Reduzierung der Heilserwartung auf die eigene Befindlichkeit.

 

Die herrschende Theologie (Theologie der Herrschaft) beruht auf den folgenden Grundlagen von Liturgie, Kultur, Politik, Wirtschaft und Sexualität (Mann - Frau). „Wegen all dem ist die europäische Theologie der Neuzeit teils unbemerkt teils offen mit einer Praxis der Weltherrschaft verquickt“.[61] Auch eine sich progressiv gebende „politische Theologie“ a la Metz führt nicht aus dieser Herrschaftstheologie heraus, trotz einiger bemerkenswerter Ansätze. Gutiérrez[62] und Assmann[63] kritisieren Metz, weil er sich zu wenig mit den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen der BRD, des Kapitalismus, der real existierende Weltwirtschaft, dem (Neo-) Kolonialismus und vor allem auch nicht mit seinen eigenen Voraussetzungen und „eingeborenen Standpunkten“ auseinandersetzt. Mangelnde Situationsanalyse führt zu mangelnder Konkretheit und letztlich zu falschen Aussagen, weil sie die Realität (das reale Leben ganz realer Menschen, besonders der Unterdrückten) außen vor lassen. Metz selbst gibt zu, von Ökonomie, Soziologie und Politik wenig zu verstehen (und die meisten Theologen sagen dies auch noch voller Stolz, da sie ja für die eigentlichen Dinge zuständig seien). Ein rechtes Verständnis (Analyse und Deutung) ist aber nach der Theologie der Befreiung gerade Voraussetzung, um die jeweilige Zeitsituation richtig analysieren zu können. Die Zeichen der Zeit zu erkennen würde z.B. bedeuten, den Schrei der Menschen nach Gerechtigkeit als Ruf und Wort Gottes zu deuten. Sie haben Hunger nach Brot und Gerechtigkeit, doch die reichen Christen teilen nicht ihr Brot mit ihnen.

 

Wer nicht erkannt hat und auch womöglich gar nicht erkennen will, wozu ein liberal-kapitalistisches System führt und geführt hat, noch wie es funktioniert und welche Auswirkungen es hat, bleibt innerhalb dieses Systems gefangen, da er es nicht durchschaut. (Etwas drastischer ausgedrückt: würde er die Bibel verstehen würde er auch das Wort Gottes heute hören und verstehen können). Ein Gefangensein im kapitalistischen System (das per definitionem das Kapital - Geld „Gold“, Mammon - und dessen hemmungslose Vermehrung als höchsten oder einzigen Gott verehrt), mit seinen Werten, Idolen, Götzen und Ideologien, macht eine adäquate Verkündigung der Botschaft Jesu Christi von der anbrechenden Herrschaft Gottes unmöglich. Es verhindert ein Verstehen der Frohen Botschaft als eine Botschaft der Befreiung für alle Menschen, der Armen wie der Reichen.

 

Da Metz wie alle europäischen Theologen in einer („geliehenen“) Wohlstandgesellschaft lebt und weder Hunger, schreiende Ungerechtigkeit und Unterdrückung aus eigener Erfahrung kennt (selbst die Herrschaft der Nazis haben die meisten „unbeschadet“ überstanden, ist es ihm fast unmöglich je in seiner Fülle zu verstehen was es heißt, um alle seine Chancen für ein würdevolles Leben gebracht zu werden, unterdrückt und verfolgt zu sein. Umgekehrt ist er (stellvertretend) auch deshalb nicht in der Lage, wirklich zu erfassen, was Befreiung bedeutet. Er kennt nicht den elementaren und existentiellen Wunsch nach Befreiung. Außerdem fehlt ihm die Erfahrung, die gewisse Menschen in ihrem Kampf gegen Unterdrückung und Elend machen. Er ist nicht in der Lage zu erkennen, worauf der Wohlstand der Wohlstandsgesellschaft, deren Teil er ist, besteht. Da er auch die Herrschaft des Zentrums nicht erleiden muss und er nicht Opfer des Klassenkampfes ist, kann er auch nicht ermessen, zu welchen Konsequenzen die Herrschaft des Zentrums in der Peripherie führt und dass ein direkter Zusammenhang zwischen diesem Elend und seinem Wohlstand besteht. Dies alles führt letzten Endes zu einer Bestätigung des Status quo, der „Totalität der Sünde“. Es führt nicht zu einer Befreiung Abels. Wie sollten auch die „Theologen des Pharao“ das versklavte Volk Gottes aus eben dieser Herrschaft des Pharao führen können?

 

Eine „barbarische Theologie“ ist nicht zuerst eine Wissenschaft, betrieben von Wissenschaftlern. Sie ist vielmehr eine Reflexion über die Praxis derer, die im Befreiungsprozess engagiert sind. Der Theologie geht eine ethisch-moralisch-religiöse Grundentscheidung voraus: die gelebte Solidarität mit den Unterdrückten und Opfern. In ihre Welt und ihre reale Situation einzutreten und sie so in ihrer Existenz zu bejahen, ist die Voraussetzung dafür, ihr Wort als Wort Gottes zu hören. Untrennbar mit dieser Grundoption ist eine Praxis der Befreiung verbunden. Theologie ist als dritter Schritt Reflexion über diese Praxis. „Ausgangspunkt ist somit nicht das, was die Theologen über die Wirklichkeit gesagt haben, sondern das, was die Wirklichkeit selbst uns sagt“.[64] Eine solche Theologie, die ausgeht von der Welt des Andern in der Peripherie, des „Barbaren“ und von ihm getragen und formuliert wird, wird eine andere Theologie sein als es die europäische Theologie je sein kann und sie wird deshalb auch andere Fragen und Probleme haben. „Die Frage wird daher nicht so sehr die sein, wie man in einer mündigen Welt von Gott sprechen soll, sondern vielmehr die: wie soll man Gott als Vater verkünden in einer unmenschlichen Welt? Wie soll man dem Mitmenschen beibringen, dass er ein Kind Gottes ist“?[65]

 

Dennoch ist die Theologie der Befreiung keine neue Theologie, sondern die traditionelle Theologie schlechthin. Deshalb ist sie nicht nur eine bloß „südamerikanische Theologie“, sondern sie ist die Theologie, die sich aus dem Zentrum des Evangeliums heraus zum Wort des Anderen in dieser Welt macht. Sie ist die erste Theologie seit 1.000 Jahren, die das Evangelium aus der Sicht und mit den Augen derer liest und deutet, die außerhalb „Jerusalems“ leben und sterben, in Hütten aus Lehm und Stroh. In ihrer Mitte aber ist Gott Mensch geworden und mit ihnen will er eine „neue Erde und einen neuen Himmel“ schaffen.

Dennoch, oder gerade deswegen: „Die Theologie der armen Völker, eine Theologie der Befreiung, passt Europa nicht in den Kram. Europa verlässt sich zu allererst auf seine univoke Universalität. Europa will nicht hören auf die Stimme des Anderen“.[66]

 

2. Eine Barbarische Kirche

…….. Nachdem ich zuerst sieben Seiten über eine „Barbarische Kirche“ geschrieben hatte, zerriss ich diese Seiten wieder und entschloss mich, dieses letzte Kapitel der Arbeit offen und unbeschrieben zu lassen. Dies entspricht auch eher der Wirklichkeit. Und auch ich habe noch keine (oder zu wenig) Erfahrung in einer Praxis der Befreiung. Ich lebe und schreibe in einer Welt, in der man in Pantoffeln zur täglichen Vorlesung gehen kann.

 

Auch bin ich der Meinung, dass über die zukünftige und wünschenswerte Gestalt der Kirche (in Form und Inhalt) sehr viel Schönes geschrieben werden kann (und man muss auch träumen dürfen), dies aber unwichtig ist und wertlos bleibt, solange nicht jeder für sich konkrete Schritte in Richtung auf diese Kirche hin macht. Dies sollte geschehen in der Verantwortung und dem Bewusstsein, selbst Kirche zu sein und vor den Menschen und der Welt die befreiende Botschaft Jesu Christi durch sein Leben zu bezeugen.

 


Literaturnachweis:

Assmann, Hugo: Teología desde la praxis de la liberación; Salamanca 1973
Dussel, Enrique: Método para una filosofía de la liberación; Salamanca 1973
(Zitate aus diesen beiden Werken sind Eigenübersetzungen, da noch keine Übersetzung)

Gutiérrez, Gustavo: Theologie der Befreiung, München-Mainz 1973

Concilium 10/1974: Heft 6/7: Praxis der Befreiung und christlicher Glaube, daraus:

Gutiérrez, Gustavo: Befreiungspraxis, Theologie und Verkündigung, Seite 408 - 419

Dussel, Enrique: Herrschaft - Befreiung. Ein veränderter theol. Diskurs, S. 396 – 408

Medellín – Dokumente, in: Adveniat, Dokumente , Projekte Nr. 1, 2 ,3.

Wiener Institut für Entwicklungsfragen: Katholizismus in Lateinamerika, daraus:
Dokument der Bischöfe und Ordensoberen des brasilianischen Nordostens vom 6. Mai 1973, Seite 8 - 29 und Erklärung des peruanischen Episkopats 1973, Seite 30 – 39

Freire, Paolo: Pädagogik der Unterdrückten, Reinbeck bei Hamburg 1973

Córdova, Armando: Strukturelle Heterogenität und wirtschaftliches Wachstum; Ffm 1973
ders.: und Héctor S. Michilena: Die wirtschaftliche Struktur Lateinamerikas, Ffm 1969 

Fragoso, Antonio: Bewusstmachen und organisieren. Ein Plädoyer für die Politisierung der Landarbeiter, in: Mit Maschinengewehr und Kreuz, hrsg. von Hildegard Lüning, Reinbeck bei Hamburg 1971

Gerassi, John: Gewalt, Revolutionen und Strukturveränderungen in Lateinamerika,
Lateinamerika ein zweites Vietnam, S. 65 – 83, Hamburg 1971

Assmann, Hugo: Politisches Engagement aus der Sicht des Klassenkampfes

Concilium 9,1 (1973), S. 276 – 282

Evers – Von Wogau: „Dependencia“ : Lateinamerikanische Beiträge zur Theorie der
Unterentwicklung, in: Das Argument 1973, Nr. 79, S. 400 – 454

Schonenberg, Piet: Sünde und Schuld, in: Herders Theologisches Taschenlexikon,
Band 7, S. 174 – 184; Freiburg 1973

Sotelo, Ignatio: Soziologie Lateinamerikas – Probleme-Strukturen, Stuttgart 1973

Guevara, Ernesto: Brandstiftung oder neuer Friede?, Reinbeck bei Hamburg, 1969

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[1] Hugo Assmann: Teología desde la praxis de la liberación; Salamanca 1973, Seite 40. Assmann spricht hier natürlich als Theologe, der sich Sorgen um die Theologie macht. Aber es geht um Tausende von Menschen, die täglich ums Leben gebracht werden, um Söhne und Töchter Gottes, denen Gott selbst ein „Leben in Fülle“ versprochen hat. Diese Menschen um ihr Leben zu bringen bedeutet, Gott ans Kreuz zu nageln.

[2] Hugo Assmann: a.a.O., Seite 39.

[3] Natürlich gab und gibt es Ausnahmen: Franziskus und viele andere, doch auch diese wahrhaft Heiligen konnten grundsätzlich nichts ändern, denn sie hatten nie die ganze Macht - ähnlich wie im AT die Propheten und immer wieder vereinzelt mutige Männer und Frauen, die den Glauben an den wahren Gott des Lebens bezeugten.
[4] In dieser Arbeit steht Lateinamerika im Mittelpunkt, dennoch gibt es bei aller Verschiedenheit mit anderen Kontinenten (und auch innerhalb von Lateinamerika selbst) grundlegende Gemeinsamkeiten: die von Europa ausgehende Unterwerfung, Kolonialisierung, die Verachtung fremder Kulturen etc. und die heute auf dem Höhepunkt angelangte Dominanz wirtschaftlich-politischer Strukturen der Abhängigkeit und Ausbeutung.
[5] Alle Statistischen Angaben aus: Dokument der Bischöfe und Ordensoberen des brasilianischen Nordostens vom 6. Mai 1973; Erklärung der peruanischen Bischofskonferenz vom Juni 1971. Ergänzend: Armando Cordova: Strukturelle Heterogenität und wirtschaftliches Wachstum, Frankfurt 1973; Armando Cordova/Hector Silva Michelena: Die wirtschaftliche Struktur Lateinamerikas, Frankfurt 1969; T.T.Evers-P.von Wogau: „Dependencia“ - Lateinamerikanische Beiträge zur Theorie der Unterentwicklung, in: Das Argument, Ausgabe Nr. 79/1973
[6] G. Gutiérrez, Theologie der Befreiung, S. 77,78
[7] ff nach Evers-Wogau: „Dependencia“ in: Das Argument 73, Nr. 79, S. 400-454). Zur Verwendung dieser Theorie (Versuch einer Erklärung): Hierbei handelt es sich lediglich um ein Hilfsmittel, um einen theologisch klaren Standpunkt verständlicher und in der Sprache weltlicher Wissenschaft auszudrücken. Außerdem ist zu beachten, dass bei der Darstellung von Ursachen der Armut sehr viele Dimensionen zu berücksichtigen wären (Kultur, Geschichte, Religion, Traditionen, äußere Gegebenheiten etc.).
[8] A. Córdova: Strukturelle Heterogenität…. S. 146
[9] A. Córdova: a.a.O., S. 29
[10] G. Gutiérrez: a.a.O., S. 83
[11] Dokument der Bischöfe Nordostbrasiliens, Mai 1973, in: Katholizismus in Lateinamerika, Wien, S. 27
[12] Erklärung des peruanischen Episkiopats 1971; a.a.O., S. 30.
[13] Katholizismus in Lateinamerika; a.a.O., S. 28
[14] G. Gutiérrez; a.a.O., S. 169
15] Piet Schonenberg: Sünde und Schuld, in: Herders Theol. Taschenlexikon 7, S. 176
[16] Dokumente der II. Lateinamerikanischen Bischofskonferenz, Medellín 1968; Ab. Frieden I,1.
[17] Dokumente von Medellín, Kapitel Frieden II, 14.
[18] G. Gutiérrez; a.a.O., S. 169
[19] Dokumente von Medellín, Kapitel Gerechtigkeit I, 1.
[20] Erklärung des peruanischen Episkopat5s 1971, a.a.O., S. 33
[21] G. Gutiérrez; a.a.O., S. 277

 

[22] Die Welt des „ganz Anderen“, Gott, der von außerhalb diese geschlossene Welt aufbricht und dies gerade dadurch, dass er unter den Barbaren, den Ausgestoßenen, Mensch wird, kann in der griechischen Philosophie nicht einmal ansatzweise gedacht werden. Dass dann gerade eine solche Philosophie mit ihrer Begrifflichkeit zum „Geburtshelfer“ des Glaubens an Jesus den Messias und der im 4. Jh. entstandenen Christologie werden konnte, kann als die Ursünde des Christentums bezeichnet werden. Denn sie verhindert, die wesentliche Botschaft des Christentums zu erkennen: Die Menschwerdung Gottes, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu und dessen Frohe Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes. Diese Botschaft stellt das komplette Kontrastprogramm zur griechischen Philosophie dar. Diese genannte Ursünde wirkt bis heute weiter, nun unter römischem Gewand.

 

[23] Enrique Dussel: Método para una filosofía de la liberación; Salamanca 1974, S. 114
[24] Dussel: a.a.O., S. 148
[25] Dussel: Herrschaft – Befreiung, in Concilium 1974, 6/7 S. 402
[26] Dussel: Método para….; a.a.O., S 265
[27] Dussel: a.a.O., S. 247
[28] Dussel: a.a.O., S. 249
[29] Dussel: Herrschaft und Befreiung, S. 339
[30] J. Gerassi: Gewalt, Revolutionen und Strukturveränderungen in Lateinamerika, in: Lateinamerika, ein zweites Vietnam? S. 75

 

[31] Ich persönlich halte die Religion des Kapitalismus mit ihren Dogmen, ihrem Kult und ihrer Verführungskraft mit ihren Appellen an die niedrigsten Instinkte des Menschen für die wirkmächtigste Religion unserer Zeit. Sie bedient geschickt uralte Sehnsüchte und verheißt ihren Jüngern ein Paradies auf Erden. Wer dies nicht schafft, ist selbst schuld und ein Versager. Wer sich dagegen auflehnt, gilt als Ketzer und wird mit allen Mitteln bekämpft.

 

[32] Dussel: Herrschaft und Befreiung; a.a.O., S. 397
[33] Dussel: Método para…. a.a.O. S., 227
[34] Dussel: Método para…. a.a.O., S. 172
[35] Dussel: Método para…. a.a.O. S., 172

 

[36] Am deutlichsten wird dies (u.a.) bei Mt 25, wo der Menschensohn sich mit denen identifiziert, die nichts von dem haben, was der Mensch zum Leben braucht – noch nicht einmal das tägliche Brot. Und auch an dieser Stelle wird deutlich, dass der „Fromme“, der sich in einem von Menschen gemachten religiösen Machtsystem bewegt, sich dort geborgen fühlt und der alles, was außerhalb dieser seiner Welt ist, als gottlos verurteilt, diesen anderen Menschen gar nicht sehen oder als Mitmensch erkennen kann. Dieser „Fromme“ aber wird deswegen von Jesus verurteilt, denn er hat die schlimmste Sünde begangen, die ein Mensch begehen kann. Daher ist es auch wenig erstaunlich, dass sich die „Frommen“ unserer Zeit (und je mehr Amt desto frommer) sich genau so verhalten, denn sie vertreten nicht Gott, den ganz Anderen, sondern lediglich sich selbst und ihre eindimensionale Welt.

 

[37] E. Dussel: Método para…. a.a.O., S. 182
[38] E. Dussel: Método para…. a.a.O., S. 183/184
[39] E. Dussel: Método para…. a.a.O., S. 192
[40] E. Dussel: Método para…. a.a.O., S. 285
[41] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 400
[42] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 400
[43] E. Dussel: Método para…. a.a.O., S. 249
[44] E. Dussel: Método para…. a.a.O., S. 251
[45] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 400
[46] E. Dussel: Método para…. a.a.O., S. 286
[47] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 401
[48] G. Gutiérrez: Befreiungspraxis, Theologie und Verkündigung, Concilium 1974, 6/7, S. 412
[49] G. Gutiérrez: a.a.O., S. 409
[50] P. Freire: Pädagogik der Unterdrückten, S. 36
[51] G. Gutierrez: Theologie der Befreiung, S. 284
[52] H. Assmann: Klassenkampf, in Concilium 1974, S. 277
[53] G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung, S. 262
[54] H. Assmann: a.a.O., S. 279
[55] G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung, S. 264
[56] J. Girardi, in: G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung, S. 263
[57] A. Fragoso, in: Mit Maschinengewehr und Kreuz, S. 96
[58] G. Gutiérrez, in Concilium a.a.O. S. 416.
[59] E. Dussel: a.a.O., S. 288
[60] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 402
[61] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 403
[62] G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung, S. 207 - 215
[63] H. Assmann; Teología desde la praxis…, S. 83 - 85
[64] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 403
[65] G. Gutiérrez, in Concilium a.a.O., S. 316
[66] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 405