"Als theologische Herausforderung auf den Punkt gebracht: die strukturelle Verstrickung mit dem „System“, gerade auch finanziell, bringt Theologen und Bischöfe strukturell und systematisch in Gefahr, als „Hoftheologen des Pharao“ wahrgenommen zu werden. Wie kann man dem versklavten Volk die Befreiung verkünden, wenn man im Dienste des Pharao steht? Die Theologie hat dann eine Chance und wird unentbehrlich, wenn sie ihre prophetische Rolle wiederfindet und mit Gemeinden zusammen die Umkehr wagt...".

Die Herausforderung einer Option für die Armen (so der Titel meiner Dissertation) liegt auf der Hand und sie umfasst mehrere Bereiche und Ebenen.

1. Durch meine Verwurzelung in Cajamarca bin ich von Veränderungen und Vorgängen in Cajamarca persönlich betroffen. Durch die aktuelle Praxis innerhalb der Kirche von Cajamarca wird diese Betroffenheit aber auf eine besondere Probe gestellt. Ich habe mich eingemischt und Stellung bezogen. Schon 1998 ernannte mich der Bischof von Cajamarca zur „persona non grata“ und zu Beginn des Jahres 2002 ließ Bischof Simón meiner Familie in Cajamarca ausrichten, dass er im Falle eines neuerliches Besuches in Cajamarca mir „mit allen Mitteln das Handwerk legen werde“ (KNA - Meldung vom 12. 4. 2002).

Neben konkreten Ängsten seitens des Bischofs im Zusammenhang mit der Aufklärung von Spendenskandalen und anderen Missständen wie Kindesmissbrauch in seiner nächsten Umgebung, war es vor allem mein öffentliches Eintreten für die Frauengruppen und Campesinos in den Partnergemeinden, das den Bischof gegen mich aufbrachte. Die Beschäftigung mit dem Thema bzw. das Einlassen auf die Menschen in Cajamarca empfinde ich als eine existentielle Herausforderung für mein eigenes Leben und Lebensweise - unabhängig von dem jeweiligen Bischof. Die Option für die Armen ist aber eine „gebrochene Option“. Ich kann nicht in gleicher Weise und in gleicher Intensität in beiden Welten leben. Das kann dazu führen, sich zwischen alle Stühle zu setzen und keinem Standpunkt gerecht zu werden.

2. Die Partnerschaft einer reichen Gemeinde mit einer armen Gemeinde stellt per se eine Herausforderung (nicht nur!) für die reiche Gemeinde dar. Nach dem Bischofswechsel baten verschiedene Partnergemeinden und Gruppen in Cajamarca ihre deutschen Freunde um Hilfe und Beistand, weit über die materielle Hilfe hinaus (1). Jede Partnerschaft bedeutet eine Einmischung, jede Option ist notwendigerweise eine Einmischung. Die deutschen Partnergemeinden wurden nun noch mehr als schon vorher gezwungen, sich selbst inhaltlich mit ihrem eigenen Kirchen- und Gemeindeverständnis auseinander zu setzen. Sie mussten Stellung beziehen und ihre Option vor sich selbst und auf die eigene Gemeinde hin begründen.

3. Wenn sich deutsche Gemeinden mit einer armen Gemeinde auf der anderen Seite des Globus einlassen, werden sie auf eine noch grundsätzlichere Weise herausgefordert, ökonomisch und theologisch (2). Die Campesinos von Cajamarca möchten mit den ihnen bekannten Partnergruppen in Deutschland ihren Glauben teilen und umgekehrt. Doch die Partner leben in getrennten Welten, besser gesagt: in völlig entgegengesetzten Wirklichkeiten innerhalb der zur einem einzigen Marktplatz gewordenen Einen Welt. Die deutschen Christen, die einzelnen Gemeindemitglieder wie die Kirche als Ganzes mit ihren Organisationen, sind mehr oder weniger gut funktionierende Bestandteile dieser Gesellschaft. Die beiden Konfessionen sind als Kirchen auf regionaler und nationaler Ebene eng mit Staat und Gesellschaft verflochten. Dies zeigt sich nicht nur in der Kirchensteuer, die bekanntlich umso höher ausfällt, je höhere Gewinne die Wirtschaft erzielt, sondern auch in der Zustimmung zu den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Gemeinde und Kirche sind nicht nur Stützen dieser Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft. Als Gemeinde und Teil dieser Gesellschaft sind sie Teil des dazugehörenden Wirtschaftssystems und sie haben ein existentielles Interesse an dem Erhalt und der Funktionstüchtigkeit dieses Systems, das auch ein globales System ist. Aus diesem Interesse heraus entsteht de facto eine entsprechende Option. Die Campesinos gehören hingegen nur insofern zu diesem System, als dass sie sich als vom System Ausgegrenzte erfahren. Mit anderen Worten: sie sind die Opfer eines Systems, das die Mehrheit der Christen in den reichen Ländern als alternativlos betrachtet und mit dem man sich eben arrangieren oder das man unterstützen muss. Während peruanische Partnergemeinden ihre Situation im Lichte des Glaubens z. B. als Folge der bestehenden sündhaften Strukturen und als unvereinbar mit dem Willen Gottes verstehen und begreifen, steht den deutschen Gemeinden dieser Erkenntnisprozess hinsichtlich ihrer eigenen Situation noch bevor.
In einem zweiten Schritt bedeutet Partnerschaft, „sich gemeinsam auf den Weg zu machen“, einen Weg in die Befreiung, zum Erkennen des Anderen und damit zur Anerkennung Gottes. Dies kann für reiche Gemeinden nur ein Weg der Umkehr bedeuten. Eine Option für die Armen stellt folglich für reiche Gemeinden und für Gemeindemitglieder eine grundsätzliche religiöse und falls Religion auch mit der eigenen Existenz und Identität verknüpft wird, eine existenzielle Herausforderung dar. Gerade dies ist aber eine herausragende Chance und eröffnet Grenzen überschreitende Perspektiven für die Gemeinden.

4. Wenn nun die Menschen von Cajamarca ihren neuen Glauben mit ihren „Brüdern und Schwestern“ in Deutschland teilen wollen, entsteht ein weiteres Problem. Die Christen und Kirchen des Abendlandes gehen selbstverständlich davon aus, dass sie als "Kinder Abrahams" schon immer den richtigen Glauben haben. Dieser Glaube ist ihnen gewissermaßen bereits als Säugling eingeimpft worden und nun geht es ihnen zuerst darum, diesen Glauben durch das Einhalten von Gesetzen, Riten und Kult zu bewahren. Sie kommen daher nicht so leicht in Versuchung, die Worte der Propheten und vor allem von Jesus gegen die jeweils herrschende (Gesetzes-) Religion auf sich selbst zu beziehen, denn sie sind ja schon frei, sie brauchen nichts mehr und sie wissen schon alles und sie verwalten möglichst effektiv und im Rahmen ihrer Gesetze ihre Talente. Wozu umkehren, wenn man schon auf dem richtigen Weg ist? Dies gilt selbstverständlich erst recht für die Hohen Priester und Schriftgelehrten, die sich qua Amt im Besitz der Wahrheit glauben und die daher die radikale und grundsätzliche Kritik Jesu auf einzelne Vertreter des jüdischen Volkes abzulenken versuchen und damit dem Antisemitismus Argumentationshilfe liefern.

5. Die deutschen Gemeinden bilden zwar die deutsche Kirche. Doch in der Praxis werden deutsche Gemeinden eher von oben herab gebildet und instruiert. Daher ist auch von einer
„Amts-Kirche“ zu sprechen, nicht weil ich diesen Begriff für glücklich halte, sondern weil er besser die Realität trifft. Was als Herausforderung für die Gemeinden gilt, gilt in besonderer
und verschärfter Form für die so genannte „Amts-Kirche“. Eine Option für die Armen bedeutet für diese noch viel mehr als für die Gemeinden eine Entdeckung der Armen, sei es im eigenen Umfeld, sei es in den armen Ländern. Es geht nicht nur um eine Anfrage bzw. eine In- fragestellung der bisherigen Privilegien, des Verhältnisses von Staat, Wirtschaft und Kirche, des gesamten Apparats, sondern um eine radikale Abkehr und Umkehr (3). Dies betrifft auch die deutsche Theologie, die allerdings der deutschen „Amts-Kirche“ und auch vielen Gemeinden einen Schritt voraus ist, was - falls Theologie als theoretische Wissenschaft verstanden wird - in der Theorie auch viel leichter fällt. Sie hat die entsprechenden Instrumente, um eine notwendige Auseinandersetzung zu führen und dabei der Kirche insgesamt zu helfen. Ob sie das tut oder will, ist eine andere Frage. Denn auch sie ist immer noch mit unvergleichlichen Privilegien ausgestattet und hat wie die Kirche die schwere Last ihrer eigenen Geschichte zu tragen (4).

Das Thema dieser Arbeit ist nicht eine vergleichende Pastoral. Dennoch können zentrale theologische Punkte benannt werden, die aus der Sicht der Armen eine andere oder neue Bedeutung gewinnen und die eine notwendige Bereicherung darstellen. Neben der erwähnten Rolle der Theologie mit der Option für die Armen als zentralen Inhalt, sind folgende Punkte zu nennen, die alle in einem ursächlichen Zusammenhang stehen: Die Bedeutung der gesellschaftspolitischen Analyse (z.B. Globalisierung) und deren Deuten im Lichte des Glaubens; die Bedeutung der Bibel als Frohe Botschaft sowohl im alltäglichen Leben des Einzelnen wie der Gemeinde; Menschwerdung Gottes (Inkarnation) und sein Weg (Kreuzweg und Auferstehung) mit den Menschen; die Bedeutung des ersten der zehn Gebote (Götzendienst); das Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Glaube; Sozialpastoral. Eine intensivere bzw. erstrangige Beschäftigung mit diesen Themen im Dialog mit den „Indios dieser Welt“ würde zu einer konstruktiven Herausforderung für die deutsche Kirche und Theologie werden können (5).

6. Deutsche Kirche und Theologie aber vermitteln den Eindruck und so werden sie vermehrt wahrgenommen, dass sie nicht die Realität sehen können oder wollen, noch weniger diese angemessen analysieren können - umso mehr bedürfen wir der Hilfe durch die Armen. Die entsprechenden Defizite führen konsequenterweise zu einer Verflüchtigung des Glaubens selbst in den Kerngruppen der Gemeinden, zu einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit der christlichen Botschaft und der Kirche in einer orientierungslosen Gesellschaft (16).

Anstelle mancher Zahlen möchte ich zwei persönliche Erfahrungen einbringen, die ich für exemplarisch für die angezeigte Situation halte. Am 27.9.2002 hielt Wolfgang Kessler, Chefredakteur bei der christlichen Zeitschrift Publik-Forum, im Stadthaus von Ulm einen Vortrag  über Globalisierung, aus christlicher Verantwortung heraus. Eingeladen war er von ATTAC - Ulm und dem Ulmer Weltladen Der Saal war mit knapp 400 Menschen bis zum letzten Platz gefüllt, über die Hälfte der Zuhörer waren junge Menschen. Doch von den üblichen kirchlichen Honorationen war niemand anwesend. Diese sind vielmehr auf innerkirchlichen Veranstaltungen in Kirchenräumen anzutreffen, wo sie meist ungestört und unter sich bleiben dürfen. Da ich seit 1980 in der kirchlichen Erwachsenenbildung tätig bin, erlaube ich mir eine solche Erfahrung als exemplarisch zu bezeichnen. Wie schon oft in Geschichte und Gegenwart, kommt die Kirche zu spät und erreicht nicht die Menschen, weil sie wenig Zugang zu deren Bedürfnissen hat, die Zeichen der Zeit nicht erkennt oder missdeutet und/oder schlicht weg Angst hat und ihrer eigenen Botschaft nicht traut.

Die zweite Erfahrung ist persönlicher und dennoch grundsätzlicher. Hier möchte ich Franz Weber, der als Comboni - Missionar in Brasilien war, zitieren, weil er genau das beschreibt, was ich seit meiner Rückkehr aus Peru empfinde und erlebe (7). „Ich gestehe, dass meine Rückkehr nach Europa in vielerlei Hinsicht zunächst ein theologisch-pastoraler Schock für mich war. Denn was ich da ... häufig über die lateinamerikanische Kirche, über Theologie der Befreiung und über Basisgemeinden zu hören und ins Gesicht gesagt bekam, verschlug mit manchmal den Atem. Was gab Menschen - Gläubigen, Amtsträgern, SeelsorgerInnen und Theologinnen - eigentlich das Recht, über den leid- und doch so hoffnungsvollen Weg anderer Ortskirchen und über ihre Art, Theologie zu betreiben und Gemeinde zu leben, auf eine oft sehr gehässig-unsachliche und realitätsverfälschende Art zu Weise zu Gericht zu sitzen“. „Mit der biblisch-theologisch begründeten Parteinahme der Kirche auf der Seite derer, die in der Gesellschaft keine Stimme besaßen, war der Konflikt mit allen, die bisher den Ton angegeben und allein das Sagen gehabt hatten, vorprogrammiert und unausbleibbar. Die lateinamerikanische Kirche hat damit nicht nur die Mächtigen dieser Welt herausgefordert, sondern auch sich selbst. Sie war mit dieser Option, wie sich bald herausstellen würde, in vieler Hinsicht auch selbst oft überfordert. Denn eine Kirche, die Armut nicht nur als ‚Haltung der geistigen Kindschaft und Öffnung zu Gott’ predigt, sondern Unterdrückung und Elend als Sünde gegen Gott anklagt, wird selbst angeklagt. Sie wird für die einen zum Stein des Anstoßes und zum Zeichen des Widerspruchs, für die anderen, für die Armen, aber zur Anwältin und zum Zeichen für die schon anbrechende Gerechtigkeit des Reiches Gottes“ (8). (Anmerkung: Leider kam es nicht zu einem persönlichen Erfahrungsaustausch mit Prof. Weber - trotz mehrmaliger Bemühungen meinerseits. Offensichtlich scheint er wohl wieder gut integriert zu sein...).

7. Ergebnis: Was in der Diözese Cajamarca seit 1962 und in der Folge des Konzils geschehen ist, kann auch eine Frohe Botschaft für Christen in den reichen Ländern sein. Es war das gleiche Evangelium, das in Bambamarca und anderen Teilen der Diözese eine Umkehr bewirkte. Es ist auch eine Bot- schaft für Reiche, die willens sind, die Botschaft zu hören. Wenn sie sich auf die Geschichte der Armen einlassen, entdecken sie, dass selbst jahrhundertlange Unterdrückung und gewalt- same Integration in ein materialistisches und gottloses System Menschen nicht davon abhalten kann, den Aufbruch und den Auszug zu wagen. Voraussetzung für einen solchen Aufbruch ist aber, dass man wie die Campesinos seine eigene Situation, in der man lebt und sich bewegt, als eine von Gott so nicht gewollte Situation erfährt und dass man als Christ in einem der reichsten Länder der Welt in die Geschichte der Abhängigkeit verstrickt ist. Für die abendländische Kirche als Ganzes wird die Umkehr zudem noch schwerer sein: hat man nicht das gesamte Erbe und die Tradition der christlichen Verkündigung gepflegt und in alle Welt verbreitet, „verkörpert“ man nicht geradezu das Christentum?

Doch das Evangelium spricht offensichtlich eine andere Sprache. Es sind die Armen, denen Gott besonders nahe ist, weil sie systembedingt unter die Räuber gefallen sind. Sie sind es auch, die zuerst die Zeichen der Zeit erkennen, dass nämlich das Reich Gottes begonnen hat und die Welt wie sie ist und funktioniert, verändert werden kann und muss. Die Armen haben im Vergleich zu den Reichen einen Standortvorteil, weil ihnen Gott und das Reich Gottes nahe ist. Sie erfahren die Umkehr als Befreiung, während die Reichen Angst davor haben. Wer soll den Reichen von Gott erzählen und sie von ihrer Angst befreien, wenn nicht die Armen, inmitten derer er Mensch wurde? Von daher ist für Christen in den reichen Ländern der Kontakt, der Dialog und eine Wegegemeinschaft mit den Armen „lebensnotwendig“.

Über die Jahrhunderte und Kontinente hinweg gibt es eine unveränderliche Konstante: zuerst das Reich Gottes, zuerst die Armen. Die europäische Kirche hat zwar die Armen entdeckt, aber am Beispiel von Cajamarca wird sich zeigen, dass für die Kirche als Institution eine Option für die Armen so lange keine wirkliche Option ist, wie sie nicht auch institutionell in kirchlichen Strukturen verankert ist und quasi Verfassungsrang hat. Stattdessen kann bis jetzt jeder Bischof und jeder Pfarrer aus eigener Bevollmächtigung und Beliebigkeit heraus, die Werke seines Vorgängers rückgängig machen und die Armen ausschließen.


Anmerkungen

(1) So verbot (!) mir ein deutscher Prälat „jede Einmischung in innerkirchliche und innerperuanische Angelegenheiten“. Auf meinen Hinweis, dass unsere Partnergruppen sich sehr wünschen, nun nicht auch noch zusätzlich von ihren Partnern in Deutschland im Stich gelassen zu werden, antwortete Prälat Wolfgang Sauer, Erzdiözese Freiburg:  „Auch in Prag sind 1968 russische Panzer mit dem Vorwand einmarschiert, vom ‚Volk’ um Hilfe gerufen worden zu sein.“ (Gesprächsnotiz vom 10. 1 1998; siehe auch in der Zeitschrift „imprimatur“ 5&6, 2001: „Was man von den Christen in Peru lernen kann“, Teil 2).

(2) Vgl. den Abschnitt: „Partnerschaft - eine Option für die Armen“ in: „Anspruch und Wirklichkeit - Deutsche Partnerschaft mit Kirchengemeinden in Cajamarca“ in dem Sammelband zur Studie, S. 215 ff. An dieser Stelle können lediglich einige grundsätzliche Überlegungen angestellt werden.

(3) Eine Auseinandersetzung um Details kann an dieser Stelle nicht stattfinden. Zudem kann dies nur in der Form des Dialogs geschehen. Es gibt Initiativen, Vorschläge, alternative Konzepte etc. Es ist aber zu beobachten, dass der Wille zu einem echten Dialog und konstruktiver Auseinandersetzung mit den entsprechenden Initiativen sehr einseitig ist. Er wird von den Amtsträgern eher formal bekundet, de facto aber verweigert oder gar als gegen die Kirche gerichtet interpretiert. Unzählige Beispiele auf allen Ebenen ließen sich hier aufzählen.

(4) Als theologische Herausforderung auf den Punkt gebracht: die strukturelle Verstrickung mit dem „System“, gerade auch finanziell, bringt Theologen und Bischöfe strukturell und systematisch in Gefahr, als „Hoftheologen des Pharao“ wahrgenommen zu werden. Wie kann man dem versklavten Volk die Befreiung verkünden, wenn man im Dienste des Pharao steht? Die Theologie hat dann eine Chance und wird unentbehrlich, wenn sie ihre prophetische Rolle wiederfindet und mit Gemeinden zusammen die Umkehr wagt.

(5) Franz Weber stellt fest, dass sich die akademische deutschsprachige Theologie vor allem seit der 2. Hälfte der neunziger Jahre nicht mehr den Herausforderungen der Befreiungstheologie stellt (mit Ausnahmen) und dadurch ihre Kompetenz verliert. „Noch schwerer wiegt die aus befreiungstheologischer Sicht zu Recht geäußerte Kritik
an der Lebens- und Gemeindeferne der Universitätstheologie“. Weber, Franz: Das Reich Gottes ist mitten unter euch (Lk 17,21). In: Werkstatt Reich Gottes, S. 326.

(6) Zu diesem Thema liegen zahlreiche Studien vor, so z.B. Ebertz, Martin: Kirche im Gegenwind - Zum Umbruch der religiösen Landschaft. Freiburg i. Br. : Herder, 2001. Dessen Bestandsaufnahme teile ich und kann sie durch persönliche Erfahrungen in der Arbeit mit und in Gemeinden bestätigen (was freilich nur eine sehr punktuelle Bestätigung ist). Vollkommen anderer Ansicht bin ich aber bei den von Ebertz aufgezeigten „Auswegen“ (vergleichbar mit anderen Vorschlägen, besonders aus der evangelischen Kirche). Das Evangelium gewinnt nicht dadurch eine neue und unverzichtbare Qualität (und damit das Leben der Kirche), wenn man es zur Ware macht und die ökonomischen Mechanismen übernimmt, die das gottlose System stützen.

(7) Franz Weber, ebd, S. 317 ff.

(8) Dammert schrieb während eines Besuches in Deutschland am 6. Mai 1975 nach Cajamarca und schilderte dabei die Situation ehemaliger Mitarbeiter: „Sie haben alle die gleichen Probleme, es fehlen Gruppen, die sie bei der Arbeit unterstützen. Viele, die aus Lateinamerika zurückkehren, finden keine leichte Aufnahme in schon bestehenden Gruppen oder Pfarreien. Die Perspektiven, die sie gewonnen haben, sind viel weiter, als die enge Welt der hier arbeitenden Gruppen und so finden sie keinen Anschluss und werden nicht verstanden. Es ist fast unmöglich, Gruppen anzutreffen, die regelmäßig in den kirchlichen Aufgaben mitwirken und die gleichzeitig diejenigen unterstützen, die ins Ausland wollen bzw. die von dort zurückkommen. Motto: auch hier gibt es große Probleme“. (Archiv Dammert, IBC, Lima). Diese Beobachtung Dammerts ist ein Hinweis auf die Situation in deutschen Gemeinden. Nimmt man die Umfragen im Rahmen der Studie als Vergleich, so ist die von Dammert geschilderte Situation heute eher schlechter geworden als besser.