10 Thesen zur Theologie der Befreiung - ausgehend von einer bereits konkreten Praxis

Ausgehend von den Erfahrungen der Campesinos und in Anlehnung an Schlüsselbegriffe der daraus entstandenen Theologie der Befreiung lässt sich diese Theologie in zehn Thesen plakativ und in Stichworten formulieren - ohne den Anspruch, alle Bereiche der klassischen Theologie mit einbeziehen zu können und zu wollen. Es folgen nun die wesentlichen Inhalte einer Theologie der Befreiung, wie sie sich von der Praxis und dem Selbstverständnis der Campesinos her ableiten lassen. Die ersten fünf Thesen beziehen sich auf Jesus Christus, die nächsten fünf Thesen auf die Kirche als die Gemeinschaft der Gläubigen.

  1. Geburt Jesu: Option Gottes für die Armen, er steht auf ihrer Seite, Gott als Befreier, als Retter. Die biblischen Verheißungen nehmen - praktisch erfahrbar - Gestalt an.
  2. Die Botschaft vom Reich Gottes: Im Zentrum der Botschaft Jesu stehen Umkehr und Nachfolge. Diese Umkehr zeigt sich in einem radikal veränderten konkreten Verhalten.
  3. Zeichen des Reiches Gottes sind: Tischgemeinschaft mit Verachteten, den Indios, Sündenvergebung (Neubeginn), Krankenheilungen (integral), Austreibung der Dämonen..
  4. Leiden und Tod Jesu: Der Tod Jesu als Konsequenz seines Glaubens und seiner Botschaft und als Reaktion der Mächtigen. Indem Jesus seinen Weg zu Ende ging, hat er neue Wege für andere aufgezeigt und die göttliche Harmonie wieder hergestellt.
  5. Auferstehung: Der Gott des Lebens bestätigt Jesus als Messias gegen die todbringenden Götzen und er durchbricht so den Teufelskreis von Unterdrückung und Herrschaft. Auferstehung ist in diesem Leben erfahrbar („österliche Existenz“).
  6. Die Erfahrung und Praxis der Befreiung (Exodus) ist konstitutiv für das Volk Gottes: die Campesinos als Volk Gottes auf dem Weg aus der Sklaverei in das Gelobte Land, im Einsatz für einen „neuen Himmel und eine neue Erde“ (Gerechtigkeit).
  7. Wie die Propheten klagen sie im Auftrag und im Namen Gottes die Herrscher an, stürzen die Götzen und verkünden den Gott des Lebens und den Anbruch einer neuen Zeit. Mit Maria, als Mutter Jesu und aller Menschen, kommt Befreiung in die Welt.
  8. In der Nachfolge Jesu leben sie in Gemeinschaft, teilen das Brot und verkünden und bezeugen damit die Auferstehung Jesu. Dieser Jesus wird für sie zum Christus, zum Brot des Lebens. In der Feier wird die Einheit mit allen Menschen und Gott real erfahrbar 
  9. Die befreiende Erfahrung einer christlichen Gemeinschaft (Kirche der Befreiung) in den Basisgemeinden wird bestärkt durch das Zeugnis einzelner Bischöfe, den Dokumenten von Medellín u.a. Sie teilen ihre befreienden Erfahrungen mit den Partnern auf der anderen Seite des Globus. Dadurch entsteht die weltweite Gemeinde der Jüngerinnen Jesu Christi - die katholische Kirche (in seiner ursprünglichen Bedeutung). 
  10. Wir sind Kirche, weil wir das Wort und das Brot teilen und so selbst zum Wort und zum Brot für andere werden. Jesus Christus ist gegenwärtig und er begleitet uns. Wir sind gemeinsam auf dem Weg und laden dazu alle ein!

Anmerkung: Diese Thesen habe ich noch in Bambamarca (1980) zusammengefasst, unmittelbar vor meiner Rückkehr nach Deutschland. Ich habe sie dann unverändert in meine Studie übernommen. Aus dieser Studie (beendet 2004) stammt auch der folgende Abschnitt.


Zur Methode der Theologie in Lateinamerika (der ersten nicht-europäischen Theologie)

Zur Theologie gehört auch die Frage nach ihrer Methode. Die Wahl der Methode, die oft nur eine scheinbar freie Wahl ist, weil sie bedingt ist durch bestimmte Strukturen, fest gelegte Begrifflichkeiten, Traditionen und den eigenen Standpunkt, ist selbst schon Theologie. Deutlich wird dies am Beispiel von Bartolomé de Las Casas, der einen bis dahin in der Geschichte der Conquista unerhörten Standpunkt einnimmt. „Um zu begreifen, was in Westindien vor sich geht, bezieht er, soweit wie möglich, den Standpunkt des Indianers, des Armen und des Unterdrückten. Weiß er doch, wie es um die Indianer aussieht“ (1).

Einen solchen Standpunkt einnehmen zu können bedeutet, bereits vorher eine Option getroffen zu haben, besser: eine Bekehrung erlebt zu haben. „Vom Standpunkt des Indianers“ aus die Welt, den Mitmenschen und Gott zu betrachten, ist aber auch eine Methode - nicht im Sinne einer mechanistischen Anwendung oder eines instrumentellen Werkzeugs, sondern im Sinne einer existenziellen Entscheidung. Die jeweilige Art und Weise, Theologie - das methodisch geleitete Erhellen und Entfalten des Glaubens nach Karl Rahner - zu betreiben und Methode fallen in eins, weil der jeweilige Standort entscheidend ist, sei es bei der Wahl der Methode, sei es bei der Theologie selbst. Der jeweilige Standort ist aber, falls er wie bei Las Casas aus einer bewussten Option heraus eingenommen wird, ein existenzieller Glaubensakt bzw. er ist ein Bekenntnis des Glaubens. Andererseits wird dieser Glaubensakt durch die Konfrontation (dem Sehen und Deuten) mit der Realität pro-voziert. Gutiérrez bezieht sich im folgenden Zitat auf Las Casas, wenn er schreibt: „Obwohl mit der traditionellen Theologie groß geworden, entdecken Menschen seiner Zeit dennoch neue Wege, als sie sich bemühten, das Evangelium aus der Sicht ‚der gegeißelten Christusse in den indischen Ländern’ zu verstehen“ (2).

Dies ist auch zu beachten, wenn über die in dieser Arbeit angewandte Methode gesprochen werden muss. Hier ist zuerst an die Methode des „Sehen - Urteilen - Handeln“ zu denken. Die Dokumente von Medellín sind durchgehend davon geprägt. Es handelt sich in Medellín um die Übernahme eines in Europa entwickelten Dreischritts (3). Den Campesinos musste diese Methode aber nicht erst gelehrt werden. Sie gingen im Unterschied zur europäischen Theologie schon immer von der Wirklichkeit aus. Diese galt es zu beobachten und zu deuten (4). Selbst massive Versuche der Europäer, den Campesinos die Realität mit Hilfe ewiger Wahrheiten zu verschleiern, hatten keinen nachhaltigen Erfolg. Innerkirchlich betrachtet ist aber die erwähnte Methode bedeutsam und notwendig. Sie gewinnt ihre Bedeutung auf dem Hintergrund der bisherigen Praxis, die Realität auszuklammern und von abstrakten und ewigen Wahrheiten auszugehen und sie den Menschen - unter Androhung des Verlustes von allem Heil bei Nichtannahme - überzustülpen.

In dieser Arbeit wird der Anspruch erhoben, von der gelebten Realität und dem Glauben besonders der Campesinos auszugehen. Darin ist implizit die Methode des Sehen - Urteilen - Handeln mit eingeschlossen. Eng verknüpft mit dem Verständnis von Theologie und dem zu praktizierenden Glauben ist die Frage, wie dieser Glaube an den biblischen Gott angesichts der herrschenden Realitäten gelebt und praktiziert werden kann. Daher gehört hierher auch die Frage nach der Art der Fragestellungen, der Wahrnehmungen, der Vorgehensweise, vor allem aber der Deutung und Beurteilung dieser Wahrnehmungen und Erfahrungen von einem bestimmten Standpunkt aus. Entscheidend ist die Frage, wie ich die Welt sehe, deute und beurteile. Dazu muss ich sie erst einmal sehen. Ich muss von ihr ausgehen. Sehen heißt, die Augen öffnen bzw. offen halten. Das Gegenteil davon ist die Blindheit. Jesus erzählt in anschaulicher Weise, was es für den Menschen bedeutet, blind zu sein bzw. welches Wunder es ist, wenn vorher blinden Menschen nun die Augen aufgehen oder ihnen die Augen geöffnet werden. Was sie dann als erstes sehen und auch als erstes sehen wollen, ist ihr Mitmensch.

Ausgangspunkt ist immer der Mensch - und zwar nicht der Mensch „an sich“, sondern der leidende, der unterdrückte Mensch, an den Rand gedrängt oder gar von der Vernichtung bedroht. Dieser Mensch hat in Cajamarca ein konkretes Gesicht. Bei den Campesinos geht es nicht zuerst bzw. überhaupt nicht um die Frage, ob z.B. Gott existiert oder nicht. Dies ist für sie keine Frage. Es geht darum, an welchen Gott die Menschen glauben - an den Gott von Moses und Jesus (Kreuz - Befreiung) oder an den Gott dieser Welt (Macht - Eroberung). Ausgangspunkt ist für sie die Frage, wie man an einen Gott der Liebe glauben kann, wenn man nicht weiß, wie man den ständigen Hunger seiner Kinder stillen kann oder: wie kann man angesichts der tödlichen Gewalt an den Gott des Lebens glauben? Dies ist auch der Ausgangspunkt der späteren Theologie der Befreiung (5).  

Diese Realität zu sehen ist eine Sache, und dies ist unerlässlich. Eine andere Sache aber ist, wie ich mich dieser Realität gegenüber verhalte, z.B. ob ich sie gleichgültig hinnehme oder sie als ein „zum Himmel schreiendes Unrecht“ entlarve und dagegen aufstehe. Das letztere kann ich erst aufgrund einer Option tun. Eine solche Option bedeutet ein grundsätzliches Offensein für den Anderen und ist gewissermaßen eine Vor-Option. Eine christliche Option geht einer konkreten Realität voraus und ist nicht von dieser abgeleitet, vielmehr wird sie zum Gericht über die Realität (6). Darin besteht auch das „Geheimnis des Glaubens“ und auch - rein rational gesehen - dessen Widerspruch. Umgekehrt kann ein Schock, der durch eine Konfrontation mit der Realität ausgelöst wurde, zu einer Option werden bzw. diese reifen lassen. Doch das muss nicht so kommen. Bei Las Casas führte dieser Schock zu einem neuen Standpunkt. Dasselbe geschah auch bei Bischof Oscar Romero (u.a.). Doch bei der Mehrzahl der Mitbrüder von Las Casas geschah das nicht.

Theologie bedeutet, das Wort Gottes aus einer konkreten Situation heraus zu hören und es in diese auch hinein zu sagen. Der konkrete Mensch, besonders wenn er in einer die Existenz gefährdeten Situation lebt, hat uns etwas zu sagen - selbst wenn er nicht sprechen kann. Und umgekehrt wartet er auf ein Wort, das ihm seine Situation erhellt und ihm einen Weg anbietet. Im Licht des Glaubens wird die jeweilige Situation zu einer Offenbarung Gottes, in der Gott zu uns spricht. Dieses Wort zu hören ist auch die „Methode“ der Theologie der Befreiung. Im Rahmen des bisher Gesagten ist es der biblische Glaube, der befreit.

Eine solche Aussage kann erst dann glaubhaft getroffen werden, wenn sie von einer bereits bestehenden Erfahrung her gemacht wird, sich also in der Praxis bewahrheitet hat: im konkreten Leben und innerhalb eines konkreten gesellschaftlichen Kontextes mit entsprechenden Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gemeinschaft, in der er lebt. Dies können aber vor allem die Menschen bezeugen, die in ihrem eigenen Leben Umkehr und Befreiung erfahren haben und deren Leben sich entsprechend verändert hat. Campesinos in der Diözese Cajamarca haben diese Veränderungen erlebt, sowohl als Adressaten einer befreienden Botschaft als auch als Subjekte dieser Veränderung und dann auch als Subjekte der Verkündigung.

Ihre Interpretation der Bibel und ihr gelebtes Zeugnis sind daher ein authentisches Wort über Gott und die Welt. Ihr neu gewonnenes Verständnis von der Bibel zeigt sich z.B. in ihrem Verständnis von der Geburt Jesu in ihrer Mitte bis zu dessen Passion und Auferstehung. Ihnen gehört das erste Wort und sie geben die Vorlage für alle weiteren Deutungen. Sie wollen daher als gleichberechtigte Partner einer sich wissenschaftlich verstehenden Theologie ernst genommen werden. Nimmt man die Menschwerdung Gottes in der Interpretation der Campesinos ernst, kommt man zu dem Ergebnis, dass der konkrete Mensch, vor allem der leidende und unterdrückte Mensch, im Mittelpunkt steht. Seine Bedürfnisse sind der Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Das war auch das Leitmotiv von Bischof Dammert und der befdreienden Pastoral in der Diözese cajamarca - und dies gilt auch für diese Arbeit.


Anmerkungen

(1) Gutiérrez, Gustavo: Gott oder das Gold - Der befreiende Weg des Bartolomé de las Casas. Freiburg i. Br.: Herder, 1990, S. 17. Ich mache mir für diese Arbeit die Methode und den Standpunkt von Las Casas zu eigen und sehe dies in Übereinstimmung mit der Bestimmung von Theologie, wie sie Karl Rahner definiert.

(2) Gutiérrez, Gustavo: Theologie von der Rückseite der Geschichte her. In: Metz/Moltmann (Hrsg.): Die historische Macht der Armen. Fundamentaltheologische Studien Nr. 11: München/Mainz: Kaiser - Grünewald, 1984, S. 164.

(3) Diese Methode wurde bereits 1924 vom Gründer der christlichen Arbeiterjugend, Joseph Cardijn, erstmals entwickelt. Es ging darum, die Situation der Arbeiter zu „sehen“ und eine entsprechende Pastoral zu entwickeln. Warum sich die Bischöfe und Theologen von Medellín sich veranlasst sahen, auf eine - wie man meinte - in Europa entwickelte Methode zurückzugreifen, mag verschiedene Gründe haben. Es wäre nahe liegend gewesen, sowohl auf die Erfahrungen indianischer Völker in Amerika als auch auf die Bibel zurückzugreifen. Alle diese Kulturen gehen zuerst von den konkreten Erfahrungen des Alltags und deren Deutung aus, ebenso Jesus - vor allem in seinen Gleichnissen. Dass die Methode von Cardijn so neu erschien, ist ein Hinweis auf die damalige Entfremdung der Kirche von der Realität. Umso verdienstvoller ist selbstverständlich deren Wiederentdeckung.

(4)Für die Campesinos trifft das deutsche Wort „deuten“ eher als das Wort „urteilen“ das, was sie meinen. „Juzgar“ (urteilen) ist eher ein europäischer Begriff, weil meist zu ausschließlich (das Gegenteilige ausschließend).

(5) Gutiérrez zitiert als Vorwort zu „Theologie der Befreiung“ den peruanischen Dichter José María Arguedas, der in seinem Roman „Todas las sangres“ fragen lässt: „Kann Gott denn in der Brust derer sein, die den Körper des unschuldigen Handwerksmeisters Bellido zerrissen? Kann Gott wirklich im Körper der Ingenieure wohnen, die Esmeralda umbringen. Im Körper des Herrn der Obrigkeit, der den Eigentümern ihr Maisfeld nahm, wo bei jeder Ernte die Jungfrau mit ihrem Kindchen spielte“? Gutiérrez, Gustavo: Theologie der Befreiung. München: Christian Kaiser, 1973, S. 1.

(6) Umgekehrt kann das Sehen auch eine Option auslösen. Es soll offen bleiben, was zuerst da ist: die Option oder das Sehen der Realität, das dann zu einer Option führt. Es handelt sich eher um einen dialektischen Prozess der Erkenntnis, in dem sich beide Pole gegenseitig bedingen und aufeinander verweisen und weniger um eine monokausale Begründung. Unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen lernen aus unterschiedlichen Gründen sehen - oder auch nicht.