Die Option für die Armen als Primat des Evangeliums

„Seitens der Kirche müssen wir aufzeigen, dass wir mit der Armut kein ‚weltliches Problem’ vor uns haben, sondern ein theologisches Problem. Gott will alle Menschen in der Welt lieben und nicht nur die 25%, die in den reichen Ländern leben. Das Beispiel Jesu zeigt, dass Gott die Armen liebt“ (1).

Die Geschichte des Glaubens an den einen Gott, der sein Volk befreit und mit ihm einen Bund geschlossen hat, beginnt mit der Erfahrung eines kleinen Volkes, das seine Befreiung aus der Sklaverei diesem Gott zuschreibt und ihm Treue gelobt hat. Die Propheten haben im Auftrag Gottes dieses Volk immer wieder gemahnt, nicht von diesem Weg abzukommen. Allein schon die Existenz von Armen war für die Propheten ein Zeichen des Abfalls von Gott. Gerechtig- keit für die Armen zu schaffen ist der Wille Gottes, sich dafür einzusetzen ist wahrer Gottes- dienst. Die Option Gottes für die Ausgestoßenen konkretisiert sich („wird Fleisch und Blut“) in der Geburt Jesu „im Stall von Bethlehem“ und es waren die „Hirten von Bethlehem“ denen zuerst diese Frohe Botschaft verkündet wurde und die den Weg zu Jesus fanden. In seinem ersten öffentlichen Auftreten verkündet Jesus den Beginn einer neuen Zeit, den Anbruch des Reiches Gottes: Lahme werden gehen, Blinde werden sehen und Gefangene werden befreit werden. Diese neue Zeit steht denen zuerst offen, die im Verhungernden und den seiner Kleider Beraubten den Mensch gewordenen Gott entdecken. Doch eine solche Botschaft ist absolut unvereinbar mit der weltweit herrschenden Praxis in Wirtschaft und Politik. Jesus wird zum Tode verurteilt. Doch Gott identifiziert sich mit dem „Gotteslästerer“ und bestätigt die Wahrheit seiner Botschaft. Derjenige, der als Gesetzesbrecher von den Mächtigen dieser Welt ausgestoßen wurde, wird zum Gericht über diese und zur Hoffnung für alle, die heute und in Zukunft ausgestoßen werden und denen gewaltsam vorenthalten oder geraubt wird, was sie zum Leben brauchen. Von diesem Standpunkt aus, aus der Sicht der Opfer, ist für Christen die Welt und alles, was sich in der Welt ereignet, zu deuten und zu beurteilen. Diese Option ist die Option Gottes. In der Bibel ist diese Option das zentrale Thema - angefangen von der Schöpfungsgeschichte bis hin zum Auftrag an die Jünger Jesu, diese Botschaft bis „an die Grenzen der Erde“ zu verkünden. Diese Deutung der Geschichte und der heutigen Welt ist ein Glaubensakt und der Mensch kann sich dafür entscheiden oder dagegen. Es ist eine Entscheidung für das Leben, vor allem für die, „die sterben, bevor sie gelebt haben“ und gegen den täglichen Tod.

Der Begriff „Option für die Armen“ beinhaltet schon in der Formulierung, dass dieser Begriff nicht von den Armen selbst stammt. Er stammt von Menschen, die ihre Mitmenschen als Arme erst entdecken (2). Die Bedeutung von Medellín liegt auch darin, dass spätestens dort einige Bischöfe nach ihren eigenen Aussagen gelernt haben, die Armen und die Realität, in der diese leben, zu hören und zu sehen. Das heißt mit anderen Worten, dass ihnen als Priester und Bischöfe das Hören und Sehen verloren gegangen war und nun erst wieder neu entdeckt werden konnte. Dabei haben ihnen aber die Armen geholfen. Der Begriff „Option für die Armen“ wird von den Armen selbst nicht benutzt, nur von Nicht- Armen. Diese Beobachtung ist vergleichbar mit der schon erwähnten Entdeckung der Methode "Sehen - Urteilen - Handeln". Priester und Theologen entdecken die Welt der Armen (3). Diese hat es aber schon immer gegeben. Das bedeutet nichts anderes als eine Rückkehr bzw. Umkehr zu den Quellen des Christentums. Dabei ist es für die Praxis unerheblich, ob diese Umkehr zuerst durch die reale Begegnung mit den Armen angestoßen wurde und dann zu einer Theologie führte oder ob erst über eine Neuinterpretation der Bibel der Weg zu den Armen geöffnet werden konnte.

Die Kirche ist im Verlauf der Geschichte wie das Volk Israel vom Weg Gottes mit seinem Volk abgewichen. Propheten wie Las Casas haben diese Missstände als Abkehr vom Evangelium angeklagt. Das Zweite Vatikanische Konzil (ansatzweise) und dann vor allem Medellín haben wie die Propheten die Armen in den Mittelpunkt gestellt (4). Dies geschah um der Kirche selbst und um ihrer Botschaft willen. Option für die Armen bedeutet, den Kern der christlichen Botschaft zu erkennen, Jesus nachzufolgen und (besonders für Nicht-Arme) Christus im Armen zu begegnen. Diese Erkenntnis ist ein Akt tiefer Spiritualität und gelebter Praxis. Ein Blick auf die Spiritualität von Franz von Assisi kann hier hilfreich sein. „Wenn Franziskus dadurch, dass er den Leprakranken umarmt, dem Glauben das zurückgibt, was ihm nach dem Evangelium entspricht, dann müssen wir heute eine ganz entschiedene Option für die neuen ‚Leprosen’ treffen. Ihre Stigmata sind Ausschluss, Marginalisierung und Armut, eine ergreifende und schreckliche Armut“ (5).

Das Verhalten Jesu zu den Aussätzigen seiner Zeit kann als exemplarisch für die Einstellung Jesu gelten. Auch heute trifft die Rede von den Aussätzigen den Kern der Sache in doppelter Weise. Die Zuneigung Jesu gilt den Menschen, die buchstäblich „ausgesetzt“ werden: dem Elend, der Gewalt, dem Tod. Und sie werden bewusst isoliert und ausgesetzt, sie vegetieren „vor den Toren der Stadt“, die die Zivilisation bedeuten. „Draußen vor den Toren“ aber leben immer mehr Menschen, so wie auch Josef und die schwangere Maria keine Herberge in der Stadt fanden und Jesus daher im Stall „zur Welt kam“.

Die Option für die Armen beinhaltet notwendigerweise eine Option für eine bestimmte Praxis. Diese geht von einer Analyse der Situation und deren Deutung aus. Die Armut wird zuerst verstanden als ein von Menschen verursachter Zustand, der fundamental der Würde des Menschen als Kind Gottes widerspricht und damit Gott selbst. Davon muss die Armut unterschieden werden, die von Nicht-Armen freiwillig aus Solidarität mit den Armen gewählt wird. „Konkret heißt arm sein: Hungers sterben, Analphabet sein, von den anderen ausgebeutet werden, dabei noch nicht einmal wissen, dass man ausgebeutet wird, ja sogar nicht ahnen, dass man Mensch ist“ (6). Diese Feststellung muss aber gedeutet werden: „Arme gibt es, weil es Menschen gibt, die Opfer in der Hand anderer Menschen sind“ (7). Und theologisch gedeutet: „Das Bestehen von Armut spiegelt einen Bruch in der Solidarität der Menschen untereinander und in ihrer Gemeinschaft mit Gott, Armut ist Ausdruck von Sünde, d.h. der Verneinung von Liebe. Deshalb ist sie unvereinbar mit der Herrschaft Gottes, die ein Reich der Liebe und der Gerechtigkeit inauguriert“ (8).

 Dies führt zu einer konkreten Glaubenspraxis: existentielles Engagement gegen die Ursachen der Armut und gegen jede Form von Ungerechtigkeit und für die Überwindung der Abgründe zwischen den Menschen und Leben in einer Gemeinschaft, die ein Zeichen Gottes in dieser Welt ist. Die Propheten bezeichnen dies als den „wahren Gottesdienst“ (Amos 5, 21-27). Eine solche Option ist unmissverständlich. Sie ist nicht neutral, weil Gott nicht neutral ist, sondern Partei ergreift. Sie ist auch nicht zu verwechseln mit Mildtätigkeit (Almosen) oder Betreuung von Armen im Stil von Mutter Teresa (deren vorbildlicher subjektiver Einsatz dennoch unbestritten bleibt). Erst recht meint sie nicht, dass im Grunde auch die Reichen oder alle Menschen - spirituell - arm seien. Denn Jesus und die Propheten sprechen eindeutig von den Armen als Opfer der herrschenden Ungerechtigkeit. Die Reichen sind aber nicht ausgeschlossen. Annehmen der Botschaft Jesu bedeutet für sie Umkehr, eine Bekehrung zu den Armen. Wenn die Kirche von den Armen ausgeht, ist sie für alle Menschen da. Arme sind auch alle Menschen, die dies nicht nur im wirtschaftlichen Sinne sind, sondern alle, die aus rassistischen, kulturellen, sexistischen, politischen Motiven gewaltsam daran gehindert sind, in Würde als Mensch zu leben - biblisch gesprochen: denen die Fülle des Lebens bewusst, persönlich oder strukturell, vorenthalten wird.

Die Geschichte Jesu Christi geht weiter in Menschen wie Oscar Romero, die mit ihrem Einsatz für die Armen Zeugnis ablegen von der Botschaft Jesu: „Die Welt, der die Kirche dienen muss, ist die Welt der Armen und die Armen entscheiden, was es für die Kirche heißt, wirklich in dieser Welt zu leben. Die Kirche wird verfolgt, weil sie die Armen verteidigt. Was sie tut, ist nicht mehr und nicht weniger als das Unglück der Armen zu teilen. Die Armen sind der Körper Christi heute. Durch sie lebt er heute, in der Geschichte“. „Als Hirte ist es meine Aufgabe, mein Leben zu geben für diejenigen, die ich liebe, für das ganze Volk von El Salvador, selbst für diejenigen, die mich töten wollen. Mein Tod wird ein Beweis der Hoffnung für die Zukunft sein, und für mein Volk will ich sterben. Ein Bischof wird sterben, aber die Kirche Gottes, das ist die Kirche des Volkes, wird nie verschwinden“ (9).


(1) Dammert: „Santo Domingo - Herausforderung an die Kirche Lateinamerikas“,  Forum am 18. 6. 1992 des 91. Deutschen Katholikentags vom 17. 21. 6. 1992, Karlsruhe.

(2) Der folgende Text unterstreicht dies: „Unsere Zeit ist von einem gewaltigen historischen Ereignis geprägt: dem Hereinbrechen der Armen, d.h. der neuen Gegenwart derjenigen, die tatsächlich in unserer Gesellschaft und in der Kirche ‚abwesend’ waren. ‚Abwesend’ heißt unbedeutend“. Gutiérrez, Gustavo: Die Armen und die Grundoption. In: Mysterium liberationis, Band 1. Luzern: Edition Exodus, 1995, S. 293. Eine Ausnahme dürfte Bischof Proaño sein. Er wuchs in großer Armut auf, seine Eltern flochten Strohhüte und lebten auf dem Land.

(3) Gutiérrez überträgt dies auf die Theologie und stellt heraus, wer in Theologie und Kirche das Recht des ersten Wortes hat: „Diejenigen, die die theologischen Texte unterschreiben, dürfen nicht vergessen, dass die wahren Zeugen der lateinamerikanischen Kirche nicht sie sind (nicht notwendigerweise, um genauer zu sein). Es sind jene, die ihr pastorales und soziales Engagement in ihrem Alltag praktizieren und mitunter dabei ihr Leben riskieren“. Gutiérrez, Gustavo: ¿Dónde dormirán los pobres?; Lima: CEP, 2002, S. 49.  An gleicher Stelle schreibt er über die Option für die Armen: „Die bevorzugte Option für die Armen und Ausgeschlossenen, der Kern der biblischen Botschaft, ist heute ein wesentliches Element christlicher und kirchlicher Identität. Sie bezieht sich direkt auf den himmlischen Vater, der uns das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit schenkt. Die genannte Option konstituiert christliche Identität“ (ebd. S. 55). In meiner Interpretation bedeutet dies: die Option für die Armen hat ihren eigentlichen Ursprung in einer tiefen Gottesbeziehung, in Gott selbst.

(4) Hier insbesondere Dok. 14: Die Armut der Kirche (Lateinamerikanische Realität - Begründung aus der Lehre der Kirche - Pastorale Leitlinien). Zu beobachten ist der methodische Dreischritt, der alle Kapitel durchzieht. In Puebla wurde dann von der „vorrangigen Option“ gesprochen (opción preferencial), weil es zu Missverständnissen gekommen war. Bedeutet eine Option für die Reichen den Ausschluss der Reichen? Natürlich nicht! Deshalb die Präzisierung in Puebla: die Kirche kümmert sich vorrangig (aber nicht ausschließlich) um die Armen, weil auch Jesus sich zuerst den Armen zuwandte bzw. einer der ihren war (siehe besonders in 1141, 1142 - 4. Teil, Kap.1). Im Grunde genommen bedeutet die Bezeichnung „vorrangige Option“ eine Abschwächung, denn damit kann man einen nur graduellen Unterschied meinen, nach dem Motto: Arme sind wir ja alle - mehr oder weniger! Genau dies ist aber nicht gemeint, sondern es handelt sich um einen qualitativen Unterschied. Daher werde ich stets von einer „Option für die Armen“ sprechen und nicht einer „vorrangigen Option“.

(5) Frontini, Pedro: Eine Utopie vor den Toren der Stadt. In: Arntz, Norbert u.a. (Hrsg.): Werkstatt „Reich Gottes“ - Befreiungstheologische Impulse in der Praxis. Frankfurt, 2002.

(6) Gutierrez, Gustavo: Theologie der Befreiung, S. 271. Gutiérrez wird aus heutiger Sicht oft vorgeworfen, dass er Arme zu sehr oder gar ausschließlich als wirtschaftlich Arme definiert und dabei die Ausbeutung der Frau als Frau, des Indio als Indio etc. vergisst (sexistische, rassische, kulturelle Diskriminierung aufgrund des „Anderssein“ etc.). Das ändert aber nichts an seiner grundsätzlichen Aussage. Nachfolgende Ergänzungen und die Entdeckung neuer Dimensionen des Armseins bezeichnet er selbst als notwendig. In der konkreten Praxis der Pastoralarbeit in Cajamarca waren diese angeblich fehlenden Aspekte von Anfang an präsent (bei manchen theor. Befreiungstheologen offenbar nicht).

(7) Ebd. S. 274.
(8) Ebd. S. 277.

(9) Beide Zitate sind entnommen aus „Wendekreis“, Missionsgesellschaft Bethlehem, Immensee; Nr. 2/1986, 91. Jahrgang, S. 20. Das erste Zitat ist aus der Ansprache von Oscar Romero an der Universität Löwen, aus Anlass der Verleihung des Ehrendoktors im Februar 1980. Das zweite Zitat ist aus einem Interview mit der mexikanischen Zeitschrift „Excelsior“, kurz vor seiner Ermordung an Ostern 1980.


Die Römische Sicht einer Option für die Armen

Obwohl  man  sich  in  Puebla  noch  gegen  Missverständnisse  wehrte,  so  war  in  der  Folge dennoch immer mehr der Begriff „Option für die Armen“ Missverständnissen ausgesetzt bzw. er verlor in der Praxis der Kirche zunehmend an Bedeutung. So wird die „Option für die Armen“ im so genannten Weltkatechismus Roms noch nicht einmal erwähnt. Diese Auseinandersetzungen können hier nicht geführt werden. Es soll aber an einem besonders drastischen Beispiel gezeigt werden, wie die Option für die Armen bewusst umgedeutet wird und unter Berufung auf diese Option die Armen ausgegrenzt werden.

Bei dem schon erwähnten Besuch und Gesprächen mit Bischof Simón (1993) fragte ich ihn auch danach, wie er es mit der Option für die Armen zu halten gedenke. Er erklärte mir, dass sein Vorgänger, Bischof Dammert, zwar immer von dieser Option geredet, aber genau das Gegenteil gemacht habe. Da Dammert - laut Simón - nur „Politik betrieben und sich nur um soziale Aspekte gekümmert habe“, habe er die geistige Dimension des Christentums völlig vernachlässigt. Die Menschen hätten sogar das Beten verlernt und würden nicht einmal das Vater Unser kennen. Dadurch hätte man ihnen aber die Chance auf das Ewige Leben genommen und sie damit letztlich dem Tod und der Verdammnis überlassen. Er aber - Bischof Simón - würde nun dafür sorgen, dass die Armen wieder die Sakramente der Kirche empfangen  können.  Damit  würde  ihnen  die  Möglichkeit  gegeben,  das  Ewige  Leben  in  der Vollendung mit Gott zu erhalten. Wer würde also in Wirklichkeit mehr für das Heil der Armen tun, Bischof Dammert oder Bischof Simón? (1).

Die Interpretation von Bischof Simón ist dem System immanent und daher logisch. Die Aussagen von Priestern und Bischöfen über das Evangelium bzw. zentrale Anliegen und  Bestandteile des Evangeliums sind daher darauf hin zu überprüfen, von welchem Standpunkt aus sie getroffen werden. Prüfstein ist auch hier ihre jeweilige Praxis, ihr Umgang mit den Armen und generell mit den Mitmenschen. So kann es vorkommen, dass ein Bischof von seinem Standort her, die Botschaft Jesu in seinem gegenteiligen Sinn versteht, z.B. als Rechtfertigung seiner machtvollen Position. Derartiges ist auch schon im Evangelium selbst zu beobachten. Jesus und diejenigen, die ihn dem Tod auslieferten, glaubten formal an den gleichen Gott und hatten die gleiche Heilige Schrift. Doch Jesus und die Mehrzahl der Schriftgelehrten und Hohen Priester zogen daraus gegenteilige Schlüsse: Jesus optierte für die Menschen ohne Macht, auch für die eigene Ohnmacht. Diejenigen, die im Besitz der Macht waren, optierten in der Mehrheit für die Macht bzw. für das Gesetz, das diese Macht rechtfertigt und stützt.

Je machtvoller sich kirchliche Instanzen aufführen, desto tödlicher ist dies für das Evangelium und die Menschen, die sich am Evangelium ausrichten. Am Beispiel von Cajamarca wird deutlich, dass diese Bischofsernennung als gezielte Option gegen die Armen zu verstehen ist (2). Sie ist daher gegen das Volk Gottes gerichtet, gegen die Kirche Jesu Christi.

Herausforderung und Orientierung

Wenn - wie schon erwähnt - es ein Anliegen dieser Arbeit ist, aus der Sicht der Campesinos und von ihrem Glauben her einen Dialog mit den Christen „auf der anderen Seite des Abgrundes“ zu ermöglichen, dann sind Konflikte von vorneherein programmiert. Dies liegt in der Natur der Sache und die Konflikte dürfen daher nicht unter den Teppich gekehrt werden. Meine Arbeit ist notwendigerweise konfliktiv, denn es geht um verschiedene Standorte. Der Standpunkt der Armen kann logischerweise nicht überall oder zumindest nicht in gleicher Weise akzeptiert werden. Andererseits wird der Konflikt nicht um des Konflikts willen gesucht. Vielmehr wird aus der Sicht der Campesinos und im Diskurs mit europäischer Theologie und Kirche nach Möglichkeiten gesucht, diesen Konflikt zu überwinden. Das kann aber nur auf der Basis der Wahrheit geschehen und ohne den Campesinos von Cajamarca untreu zu werden.

Zu erinnern ist an die Frage von Las Casas (hier literarisch formuliert): „Und was, wenn ich Indio wäre“? („y sí yo fuera indio“ - wie Dammert dies des Öfteren mündlich zitierte). Dies ist der bleibende Ausgangspunkt und das bleibende Kriterium für Kirche, Theologie und jeden Einzelnen. Ein solcher Standpunkt verbietet auch jede Neutralität. Diese wird stets von denen in Anspruch genommenen, die im Namen der Einheit und Versöhnung selbst felsenfest  auf  einer  Seite  stehen  und  sich  von  daher  vehement  gegen jede  Veränderung wehren.


Anmerkungen II

(1) Nach persönlichen Tagebuchaufzeichnungen des Gesprächs am 4. 8. 1993 mit Bischof Simón;  in der Folge habe ich in Predigten und Radioansprachen des Bischofs dieselben Begründungen hören können. Vor allem aber wurde mir aus den Treffen des diözesanen Klerus mit dem Bischof von einzelnen Priestern mehrfach berichtet (deren Namen ich aber aus verständlichen Gründen nicht nennen kann), dass die auch mir gegenüber aufgeführten Argumente des Bischofs einen zentralen Stellenwert in seiner Pastoral einnehmen. Allerdings mit dem Unterschied, dass er nun doch nicht mehr von der Option für die Armen spricht, sondern diese als rein politische Ideologie bewertet.

Die neue Situation nach dem Bischofswechsel nutzten einige Pfarrer, um mit Dammert abzurechnen. Aus einem Brief von Pedro Cáceda vom 2. 6. 1993 an Vertraute in der Partnergemeinde Herzogenaurach: „Die Diözese hat er ohne einen Pfennig hinterlassen. Die Sachen seines Zimmers, die ihm vor Jahren das Bistum kaufte, nahm er als sein Eigentum mit, als er seinen Wohnsitz nach Lima veränderte. Er bestahl also die Diözese und hinterließ dem neuen Bischof nur einen alten Tisch, den dieser weggeworfen im Lager vorfand“. Bischof Dammert und seine „ausländischen Hilfstruppen“ hinterließen eine „pastorale Wüste“, denn „es werden nicht mehr die Heiligen verehrt und auch Maria wird nicht mehr wie früher geliebt“. „Wie ganz anders wäre es gekommen, wenn die Millionen von DM, Dollars und englischen Pfund, die zu Händen von Dammert kamen, für die Katecheten, den Religionsunterricht für die Kinder usw. benutzt worden wären! - und nicht von jenen, die sich damit den Mund stopfen mit ihrer Theologie der Befreiung und der bevorzugten Option für die Armen, während sie ihre Stellung der Reichen und Mächtigen aufrecht erhielten oder auch zu Neureichen wurden“. So herrschte nun bei einigen Pfarrern nach dem Bischofswechsel eine große Erleichterung. „Aber Dank sei Gott und Dank Don Paco (dem neuen Bischof), mein Leben ist heute anders geworden, ich fühle mich verwirklicht und glücklich Priester sein zu können, dem Volk von Cajamarca dienen zu können, die Sakramente zu feiern, Kranke, Kinder und Jugendliche zu besuchen - mit der großen Unterstützung von Legio Maria, eine Bewegung, die Dammert verabscheute“. Pedro Cáceda ist bald zu einem engen Vertrauten des aktuellen Bischofs geworden. Dies ist auch im Zusammenhang damit zu sehen, dass Pedro Cáceda eine Schlüsselfigur innerhalb der Pädophilenszene im Klerus von Cajamamarca ist. Die Verantwortlichen der Partnerschaft in Herzogenaurach wissen darum, haben ihre Gemeinde aber nicht informiert ("darüber spricht man nicht").

(2) Die rasche Ablösung von Bischof Dammert wurde gezielt betrieben. Sein Nachfolger wurde mit dem besonderen Auftrag zum Bischof von Cajamarca ernannt, die von Bischof Dammert gesetzte Pflanze einer erneuerten Kirche der Armen auszureißen. Bischof Dammert hat dafür Belege, die er aber nie veröffentlichen würde, weil darin mehrere namentlich genannte Bischöfe eine unwürdige Rolle spielen. Er hat mir diese Belege gezeigt. Von den Armen her wäre zu überprüfen, wie Bischofsernennungen auch in anderen Diözesen zu bewerten sind. Bischof Simón selbst spricht öffentlich von seiner "Mission", die Irrwege des Konzils zu korrigieren. Wenn ich dies hier wiedergebe, so handelt es sich folglich nicht um eine Diffamierung, sondern es ist der Wille des Bischofs, diese seine Mission überall und jederzeit zu verkündigen.