Liebe Gemeinde  (Predigt am 8. November 1987)

".....In Kürze noch ein 2. Beispiel aus dem AT: Zur Zeit des Propheten Amos lebte im Nordreich eine Oberschicht in Saus und Braus. Ihr Reichtum wurde immer größer und damit auch ihre Gier. Gleichzeitig gab es immer mehr Arme, das Elend wurde immer größer. Und die offizielle Tempelreligion profitierte mächtig davon. Es gibt prächtige Tempel, in denen die Reichen effektvoll ihre Opfer zelebrierten. An einem Sabbat, vor dem Gottesdienst, kann Amos nicht mehr länger schweigen. Er ruft: „Ihr verkauft ehrliche Leute als Sklaven…!

Bestimmt wissen die meisten von Ihnen, dass die Gemeinde St. Georg versucht, eine Partnerschaft mit San Pedro in Cajamarca aufzubauen. Vor gut zwei Wochen war auch der Bischof von Cajamarca hier bei uns zu Gast. Partnerschaft heißt für uns nicht nur, möglichst viel Geld zu sammeln und nach Peru zu schicken - das sicher auch. Aber es geht um mehr. Ich möchte gleich auf den Punkt kommen: Es geht um unseren gemeinsamen Glauben und um unsere gemeinsame Berufung als Kinder Gottes.

Sind das Fundament und das Ziel bei uns und den Partnern in Peru auch gleich, so sind doch die Ausgangspunkte sehr verschieden. Die Standorte sind andere....Wenn die Menschen in Peru fragen, wie es möglich ist, dass Gott angesichts eines erschreckenden Elends und großer Ungerechtigkeit als ein Gott der Liebe und der Gerechtigkeit erfahren werden kann, so fragen wir uns: wie können wir Gott erfahren, wie können wir Hunger haben nach Gott inmitten einer scheinbaren oder tatsächlichen Welt des Überflusses und der Gleichgültigkeit? Und auch: Wie kann ich denn meinen christlichen Glauben leben im Alltag, was bedeutet mir Jesus Christus im Alltag?

Diesen und ähnlichen Fragen wollen wir in einem Glaubensseminar nachgehen und darüber ins Gespräch kommen. Echte Partnerschaft bedeutet, nicht nur offen zu sein für die Nöte und Probleme des Partners, sondern es bedeutet auch - in unserem besonderen Fall - eine Auseinandersetzung mit dem Glauben und dem Leben der Armen von San Pedro; es bedeutet einen Austausch von Glaubenserfahrungen, die Bereitschaft sich in Frage stellen zu lassen und sich
auch Hoffnung und Zuversicht schenken zu lassen.

Man kann nun natürlich fragen: Was kann denn der Glaube der Campesinos, die ja so weit weg sind, uns bringen? Leben wir nicht in einer ganz anderen Welt, haben wir nicht ganz andere Probleme? Das kann man doch nicht alles vergleichen und unter einen Hut bringen! Wenn wir so fragen, müssen wir die gleiche Frage auch an die Bibel richten. Was können uns die Glaubenserfahrungen des Volkes Israel vor 3.000 Jahren bedeuten - eines Volkes, das nun wirklich in einer ganz anderen Welt lebte? Und was die Glaubenserfahrungen der ersten Christen, der Apostel und Jünger vor 2.000 Jahren? Deren Situation war doch eine ganz und gar andere als die unsere! Wie können wir so etwas auf unsere Zeit, in unsere Verhältnisse und in unser Leben übertragen?

Wäre dies aber nicht vergleichbar und hätte dies für uns heute lebenden Menschen keine Bedeutung, so wäre auch unser Glaube völlig sinnlos. Die Christen in Cajamarca haben es da leichter. Die Campesinos ohne Land, verachtet von den Weißen, die verlassenen Mütter von San Vincente, die täglich um das Überleben ihrer Kinder kämpfen müssen - sie haben es zumindest darin leichter. Denn für sie ist die biblische Geschichte eine aktuelle Geschichte. Die Glaubenserfahrungen des Volkes Israel und der Urgemeinden, aus denen heraus das NT entstand, decken sich mit ihren eigenen Erfahrungen.

Deshalb sind sie die auserwählten Zeugen der Nähe Gottes unter den Menschen, sie sind die Zeugen des Todes und der Auferstehung Jesu in unserer Zeit und für unsere Zeit. Dazu zwei Beispiele aus dem AT: Der Exodus. Der Auszug und die Befreiung aus Ägypten, dem Sklavenhaus, ist die wichtigste Glaubenserfahrung des Volkes Israel - bis heute. Es ist das wichtigste und älteste Buch des AT. In ganz wenigen Worten, um was geht es? Das Volk Israel lebt in Elend und Unterdrückung, als Sklaven im damals mächtigsten Land der Erde.

Sie schreien in ihrem Elend zu Gott und Gott erhört sie. Er kann das Leiden seines Volkes nicht mehr mit ansehen. Er stellt sich auf die Seite dieses kleinen, unterdrückten Volkes. Und er wird es in das Land führen, wo Milch und Honig fließen, d.h. in ein Land, wo jeder zumindest das haben wird, was er zu einem menschenwürdigen Leben braucht. Die Campesinos von San Pedro glauben an den selben Gott und sie entdecken dass das, was da erzählt wird, ihre eigene Geschichte ist. Auch sie werden unterdrückt, doch auch ihnen verheißt Gott ein Leben in Fülle.

Er lässt sie nicht im Stich und er wird sie befreien - nicht nur für den Himmel, sondern auch auf Erden. Er wird sie befreien, gegen alle Widerstände und Schwierigkeiten. Er steht auf ihrer Seite. Sie müssen sich nur seiner Führung anvertrauen und sich auf den Weg machen - und das tun sie! Nicht an diesen Weg und an diese Befreiung glauben hieße für sie, nicht an Gott glauben. Denn es gibt keinen anderen Gott als diesen einen, der sein Volk befreit. Und diese Befreiung ist nicht nur etwas rein Geistiges oder Seelisches.

Das Gelobte Land ist nicht erst der Himmel und nach dem Tod erst zu erreichen. Gott hätte ja auch zu Moses sagen können: Bruder Moses, geh nach Ägypten, lebe inmitten meines Volkes, geh hin und predige ihnen Verzicht, predige die rein geistige Erneuerung des Lebens, predige Geduld, Gehorsam und Ergebenheit in ihr Schicksal, damit sie sich so von ihren Sünden abwenden. Und dafür werden sie dann im Jenseits belohnt werden. Aber das hat Gott nicht gesagt! Er wollte zeigen, dass er sich nicht mit der rein geistigen Freiheit der Menschen zufrieden gibt. Gott will die völlige Befreiung aller Menschen, vor allem will er die Befreiung der Unterdrückten - und zwar beginnend schon in diesem Leben, innerhalb der von Menschen gemachten Geschichte, hier und heute.

Was können wir aber nun, wir hier in Ulm, mit diesem Glauben anfangen? Gilt diese Geschichte auch für uns, die wir doch eher den Ägyptern gleichen als den Sklaven? Glauben wir wirklich an den gleichen Gott? Für die Campesinos gilt diese Geschichte. Sie können uns deshalb helfen zu verstehen, was biblischer Glaube heute heißt. Wenn uns selbst der direkte Zugang zur Bibel so schwer fällt, und noch schwerer, uns als Reiche mit dem unterdrückten Volk Gottes zu identifizieren, so können sie uns die Zeitspanne von 2.000 - 3000 Jahren überbrücken helfen und können so für uns zur Brücke werden - die Brücke zur Bibel, zum authentischen Wort Gottes, ja zu Gott selbst. Nur: wir müssen eben schon bereit sein, über diese Brücke zu gehen, auch wenn sie noch so schwankt und wackelt.

Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Glaube auch bei uns, in einem reichen Land und innerhalb der reichsten Kirche der Welt, erfahren und erlebt werden kann. Und das nicht nur, weil es ja auch bei uns Elend und Not gibt, wenn auch anders gelagert, sondern deshalb, weil wir durch die Taufe auf den Namen Jesus Christus alle dazu befähigt worden sind, diesen Weg zu gehen. Nur der Ausgangspunkt ist ein anderer: Entdecken sich die Campesinos eher als das unterdrückte und versklavte Volk Gottes in Ägypten, so entdecken wir uns eher als Teil einer Sklavenhaltergesellschaft, die ihren Reichtum u.a. auf Kosten der Ärmsten dieser Welt angehäuft hat und noch immer mehr anhäuft. Aber natürlich gilt die Frohe Botschaft auch uns. Gott will weder Unterdrückte noch Unterdrücker und so gibt er uns vermittels der Armen die Möglichkeit, mit den Armen zusammen ebenfalls aus Ägypten auszuziehen.

Dies bedeutet für uns ein Weg der Umkehr. Durch die Taufe sind wir bereit und fähig zur Umkehr. Eine christliche Gemeinde hier ist der Ort, wo wir gemeinsam diese Umkehr wagen können und wo wir keine Angst zu haben brauchen vor dem neuen Leben, das uns verheißen ist. Gott traut uns diese Umkehr zu. Wir dürfen uns deswegen dies auch zutrauen und zumuten.

In Kürze noch ein 2. Beispiel aus dem AT: Zur Zeit des Propheten Amos lebte im Nordreich eine Oberschicht in Saus und Braus. Ihr Reichtum wurde immer größer und damit auch ihre Gier. Gleichzeitig gab es immer mehr Arme, das Elend wurde immer größer. Und die offizielle Tempelreligion profitierte mächtig davon. Es gibt prächtige Tempel, in denen die Reichen effektvoll ihre Opfer zelebrierten. An einem Sabbat, vor dem Gottesdienst, kann Amos nicht mehr länger schweigen. Er ruft: „Ihr verkauft ehrliche Leute als Sklaven…!

Amos wurde zum Schweigen gebracht. Und so ähnlich ging und geht es vielen Propheten. Für die Armen in Peru ist auch dieser Text eindeutig. Sie schöpfen aus solchen Texten Hoffnung, wir auch? Von den Propheten, die den Willen Gottes verkünden, gibt es eine direkte Linie zu Jesus Christus, der den Willen Gottes lebt. Der Gott, den Jesus verkündet und der sich in Jesus offenbart, ist auch der Gott des Exodus und der Gott der Propheten. Es gibt keinen anderen Gott, so unser Glaube. Jesus verkündet daher keinen neuen Gott, keine neue Religion, keine neuen Gebote und er begründet auch keinen Kult und keine Institution - im Gegenteil!

Er radikalisiert vielmehr den Glauben an Gott und fasst alles in einem zusammen: der Liebe. Er verkündet den Armen, den Verfolgten, den Gefangenen, den Mühseligen und Beladenen eine neue, eine bessere Zeit. Jesus preist alle diejenigen selig, die Hunger nach dieser neuen Zeit haben, die nach Liebe und Gerechtigkeit in dieser Welt hungern. Selig die Hungernden…

In dem beginnenden Glaubensseminar geht es vor allem um uns selbst. Es geht um unseren Glauben; darum, was die Botschaft Jesu für uns bedeutet. Am vergangenen Mittwoch haben wir uns bereits darüber unterhalten, welche Vorstellungen wir von Gott haben, was Gott für uns bedeutet. Am nächsten Mittwoch wollen wir uns anhand von Bibeltexten und von den Glaubenserfahrungen der Campesinos darüber unterhalten, wer Jesus für uns ist. Was heißt Herrschaft Gottes, was Erlösung und Befreiung? Befreiung von was und wofür? Was heißt Umkehr? Ich möchte Sie einladen, am Mittwoch gemeinsam mit anderen, sich auf die Botschaft Jesu einzulassen. Gemeinsam geht es leichter!
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Glaubensseminar in der Gemeinde St. Georg, Ulm im Herbst 1987

In fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen Pastoralausschuss (PASTA) und Missionsausschuss (AMEF) der Gemeinde St. Georg, Ulm, entstand die Idee, Konzeption und Durchführung dieses Glaubensseminars. Grundidee und Zielsetzung: Ausgehend von der Gemeindepartnerschaft St. Georg, Ulm - San Pedro, Cajamarca wollen wir versuchen, neue Glaubensimpulse in unsere Gemeinde einzubringen.

Es geht um die Frage unseres Gottesverständnisses, um die Frage nach der Herrschaft Gottes und seiner Gerechtigkeit. Wir wollen uns auch fragen, inwieweit und wie wir als Gemeinde unserer Verantwortung gegenüber dem Evangelium und den Mitmenschen, insbesondere den Armen, gerecht werden. Und ob wir dabei neue Wege des Zusammenlebens in unserer Gemeinde entdecken. Es ist auch als Vorbereitung und Einstimmung auf die anstehende Gemeindeerneuerung gedacht, die dann darauf aufbauen kann. Das Glaubensseminar ist auf 5 Abende hin konzipiert und hat folgende Einzelthemen:

04. 11. Ein neues Glaubensverständnis. Wer ist für uns Gott? Erfahrungen der Campesinos - Biblische Grundlagen (AT)
11. 11. Jesus der Messias und seine Botschaft vom Reich Gottes.
18. 11. Armut als Herausforderung. Option für die Armen - Strukturen der Sünde - Umkehr
25. 11. Was heißt Sünde bzw. Heil? Reichtum als Sünde? Der Wille Gottes und unsere Verantwortung für die Welt
09. 12. Das Volk Gottes auf dem Weg der Befreiung. Basisgemeinden - Feier des Glaubens

Jeweils Arbeit mit Materialien, selbstverständlich auch der Bibel; Einführungen, Gruppenarbeit, gemeinsame Diskussion: Leitung Willi Knecht, Pfr. Alfred Vögele.


Nachtrag: Der Gemeindesaal in St. Georg war an allen Abenden überfüllt, jeweils mit etwas mehr als 60 Teilnehmerinnen