"Kann es vielleicht sein, dass unser Sprechen von der Not der Welt, unsere Sorge für die so weit entfernten Nächsten, nur zur Ausrede wird für unser Versagen hier untereinander? Wie sollen wir denn Menschen in der Dritten Welt helfen können, wie ihnen Bruder und Schwester sein, wenn es so schwer fällt, uns hier auch nur die Hände zu reichen? Warum fällt dies uns aber so schwer, uns, die wir doch dem Namen nach eine Gemeinschaft sind, eine Familie, Brüder und Schwestern? Was hindert uns denn daran? Um das beantworten zu können, müssen wir uns erst einmal bewusst werden, wie wir denn in Wirklichkeit leben. Leben wir denn überhaupt? ....
Predigt zur Eröffnung der Fastenaktion von Misereor am 1. Fastensonntag am
07. März 1976 in der kath. Kirchengemeinde Karl Borromäus, Winnenden
Ich habe mir lange überlegt, mit welcher Anrede ich die Predigt beginnen soll. „Meine lieben Brüder und Schwestern“? Es wäre schön, ich könnte so sagen - aber wäre es nicht vielleicht eine leere Floskel, ohne Bezug zur Realität? Die ersten Christen nannten sich aber so - und sie waren es auch wohl in der Tat. Doch wir? Vermutlich kenne ich noch nicht einmal meinen Nachbarn, der zufällig neben mir sitzt. Sehen Sie ihn doch einmal an! Möchten Sie ihn nicht kennen lernen? Wenn ja, warum tun Sie es nicht? Es wäre schön, könnten Sie vielleicht ein paar nette Worte wechseln. Wäre es nicht einen Versuch wert? Aber es ist auch gut, einfach einmal nur da zu sein, ohne was tun zu müssen, einfach so…. Und am Ende der Predigt oder des Gottesdienstes gelingt es uns vielleicht, die Hand zu reichen, ganz „spontan“ und ohne lange nachzudenken. Wenn sich fremde Menschen die Hand reichen – nicht aus bloßer Routine versteht sich - beginnt etwas Neues zu wachsen, ein Anfang einer neuen Gemeinschaft, ein Anfang von einem anderen Leben für uns alle.
Das Motto dieses Gottesdienstes heißt nämlich - und Sie haben dies ja schon bemerkt: "Anders leben damit andere überleben"! Das ist auch das offizielle Motto der diesjährigen Misereorkampagne. Bei diesem Motto - zumal noch in Zusammenhang mit Misereor – denkt man unwillkürlich an die so genannte Dritte Welt. Und beim Thema „Dritte Welt“ denkt meist zuerst an Elend, Hunger…! Aber darüber möchte ich heute nicht reden, es zumindest nicht in den Mittelpunkt stellen. Das Elend dort will ich erst gar nicht beschreiben schon deshalb kann ich es nicht, weil es so unbeschreiblich groß ist. Sondern ich will fragen: was können wir tun, hier und jetzt, damit das Leben für alle Menschen auf der Welt etwas erträglicher wird. Wie und wo sollen wir, können wir anfangen? - Hier und jetzt und bei uns selbst!
Wir können nur etwas erreichen, wenn wir mit dem ersten Schritt beginnen. Was wir brau-chen und uns hilft, ist eine andere Einstellung zum Leben und zu unseren Mitmenschen. Ir-gendwie wissen wir das ja auch, und ab und zu haben wie so eine Ahnung oder eine Sehnsucht danach, wie es sein könnte… Aber dann kommt der Alltag, das Geschäft, die Pflicht - und wie können da schon schöne Träumereien helfen? Sie sind eher schädlich, oder nicht? Aber es geht ja nicht nur um uns, sondern auch um andere, vor allem um solche Menschen, die nichts haben - zumindest bekennen wir das in unseren Gebeten und Gottesdiensten. Er wäre auch einfacher, der 2. Schritt: schöne Reden halten über die Not in der Welt und dann zufrieden nach hause gehen, nach dem Motto: schön, dass wir mal darüber geredet haben!
Kann es vielleicht sein, dass unser Sprechen von der Not der Welt, unsere Sorge für die so weit entfernten Nächsten, nur zur Ausrede wird für unser Versagen hier untereinander? Wie sollen wir denn Menschen in der Dritten Welt helfen können, wie ihnen Bruder und Schwester sein, wenn es so schwer fällt, uns hier auch nur die Hände zu reichen? Warum fällt dies uns aber so schwer, uns, die wir doch dem Namen nach eine Gemeinschaft sind, eine Familie, Brüder und Schwestern? Was hindert uns denn daran? Um das beantworten zu können, müssen wir uns erst einmal bewusst werden, wie wir denn in Wirklichkeit leben. Leben wir denn überhaupt?
In einem Theaterstück von Samuel Beckett gibt es folgende Szene: eine Frau steckt, fast bis Hals begraben, im Sand, nur die Arme sind frei. Und was tut sie? Sie redet und redet, ist sehr geschäftig, pudert sich die Nase - aber sie merkt gar nicht, wie tot sie ist. Sie kann keinen Kontakt mehr haben zu ihren Mitmenschen, sie ist nur mit sich selbst beschäftigt, ihre Hände benutzt sie nur, um ihre „Fassade“ herzurichten. Nach Beckett verdeckt sie mit ihrem nutzlo-sen Gerede und Getue nur ihre Angst und ihre Einsamkeit – ein Symbol für den modernen Menschen? Leben wir nicht auch so - zumindest oft?
Ich kann nur von mir selbst ausgehen: ich lebe mehr in Zwängen, als mir lieb ist und am besten ich tue so, als gäbe es diese Zwänge nicht. Oft funktioniere ich einfach nur noch, wie ein gut geschmiertes Rädchen im großen Getriebe – und mehr verlangt man ja auch nicht von mir! Oder? Und in Schule, Beruf und Ausbildung - habe ich denn da gelernt zu leben, mich und andere zu verstehen, einen Sinn im Leben zu sehen? Kaum. Vielmehr lernte ich, dieses tote Rädchen zu sein, das man bei Nichtfunktionieren einfach austauschen kann. Solche Menschen braucht unsere Wirtschaft! Wir merken manchmal – bewusst oder unbewusst – dass es eigentlich anders sein müsste, ganz anders. Dass wir nicht gemessen werden nach dem, was wir haben und leisten, sondern was wir wirklich sind. Doch wir sind darauf getrimmt, immer mehr haben zu wollen, immer mehr. Denn je mehr wir haben, desto mehr glauben wir zu sein.
Und auf dieser Jagd nach Besitz und Konsum geht das kaputt, was wir wirklich brauchen: Liebe - Vertrauen - Gemeinschaft. Doch wie soll sich dies entfalten können, wo vor allem Habgier, Rücksichtslosigkeit, äußerer, sichtbarer Erfolg, Karriere usw. gefragt sind? Aber in Wirklichkeit hungern wir alle nach mehr Liebe und Verständnis, um Respekt um unser selbst willen und nach Geborgenheit. Wir sind am Verhungern, doch wir bekommen ständig nur Steine vorgesetzt zum Essen. Kein Wunder, wenn da unser Herz zu Stein wird, dass wir damit unfähig werden, Liebe zu geben, Brot zu sein für andere. Und so sterben wir jeden Tag, an dem wir keine Liebe empfangen und keine Liebe geben, einen schrecklichen Tod.
So stirbt jeder allein vor sich hin - im Sand vergraben, ein übertünchtes Grab.
An dieser Stelle gibt es nun mindestens drei Möglichkeiten: das stimmt ja gar nicht, was da gesagt wird, ich habe doch alles, was ich brauche: Haus, Familie, Auto, meine Ruhe – was brauche ich mehr? Immer nur schön positiv denken, Augen zu und gerade so weiter! Die 2. Möglichkeit: es stimmt schon, aber so ist es halt eben, es war schon immer so und es wird immer so bleiben. Die Realität ist nun mal so traurig, und damit müssen wir uns abfinden. Das Beste ist dann eben, sich mit vorgefertigten Illusionen und Träumen voll stopfen zu lassen um wenigstens hin und wieder Momente des Glücks zu spüren. Die 3. Möglichkeit wäre: es wagen, anders zu sein bzw. anders zu werden und neu anzufangen. Damit ist nicht gemeint, dass man sich jeden Sonntag z.B. im Gottesdienst darauf besinnt, wem man eigentlich sein Leben verdankt und zu welchem Leben jeder von uns berufen ist. Man kann auch nicht allzu häufig ein neues Leben anfangen.
Diese Umkehr ist vielmehr ein lebenslanger Prozess, auf dem man sich einlassen kann oder eben auch nicht. Und wir haben die Zusage, dass diese Umkehr gelingt: „Siehe, wir alle waren tot, doch nun leben wir!“ So sagt Paulus von sich und den ersten Christen. Und sind wir nicht auch Christen? Und selbst wenn wir dies nicht wären: Gott traut dieses neue Leben allen Menschen zu, gerade auch denen, die dies am meisten bezweifeln. Und vielleicht gelingt dies vielleicht gerade denen am besten, die am tiefsten spüren, dass sie an einem Nullpunkt angelangt sind und die gerade deswegen offen sind, für die ausgestreckte Hand Gottes.
Nach dem NT ist allein Jesus die Alternative zum schleichenden Tod. Jesus ist das Tor zu diesem neuen Leben. Er zeigt uns den Weg zum Leben, denn er ist das Leben. Überall, wo er hinkam, lernten die Menschen, die glaubten, wieder sehen. Sie lernten, worauf es ankommt im Leben. Sie waren nicht mehr blind für die Probleme ihrer Mitmenschen, sie erblickten und erkannten in ihren Mitmenschen Brüder und Schwestern. Wo er hinkam, lernten die Menschen, wieder zu hören, sie, die vorher taub waren für alles Neue, taub für die Botschaft der Liebe. Sie lernten wieder, die Sprache der Liebe zu sprechen und zu verstehen. Wo er hinkam lernten die Menschen wieder gehen, sie, die vorher gelähmt waren, vergraben in der Wüste ihrer eigenen Habgier, sie lernten wieder gehen und frei zu sein für andere. Das gilt gerade auch heute. Wir, die wir blind, taub und gelähmt sind, haben die Chance, wieder sehen und hören zu können, wenn wir es nur versuchen.
Das meint Paulus, wenn er sagt: „Siehe, wir alle waren tot, doch nun leben wir!“
Wieso brachte Jesus dies alles fertig? Er konnte dies alles tun, weil er keine Angst um sich selbst zu haben brauchte. Er wusste, dass er von Gott, seinem Vater, geliebt wird – was immer ihm auch geschehen möge. Er konnte deswegen ganz von sich selbst absehen. Er brauchte sich nicht darum bemühen, in den Augen der anderen etwas zu gelten, sich ständig durchsetzen zu müssen, ständig etwas zu leisten und etwas zu beweisen. Er konnte es wagen, ohne Maske herumzulaufen. Vor allem konnte er es sich leisten, sein Leben nicht vom Haben, vom Besitz, von all dem, was man hat und angeblich braucht, abhängig zu machen.
An all das brauchte er sich nicht zu klammern - denn er wusste sich ja ganz in der Hand seines Vaters. Und so hatte er seine Hände frei für seine Mitmenschen und er konnte ganz für sie da sein, sich ganz hingeben, ohne Angst zu haben, sich dabei zu verlieren. Nur weil er sich ganz leer machte, konnte sein Herz voller Liebe werden, konnte er den Hunger der Menschen nach Liebe stillen - statt nur Steine zu geben. Der Vater von Jesus ist auch unser aller Vater. Und er ist genauso für uns alle da, für jeden Einzelnen von uns, wie er für Jesus da war - nur: Jesus glaubte daran und er hatte ein grenzenloses Vertrauen in seinen Vater und in seine Liebe.
„Siehe, wir alle waren tot, doch nun leben wir!“ Manchmal spüre ich eine Ahnung, was das heißt: ich war tot – doch nun lebe ich. Das aber geschah und geschieht am allerwenigsten durch meinen eigenen Verdienst, sondern allein durch die Gnade Gottes. Sie zeigt sich darin, dass ich Menschen begegnen durfte, die auf dem Weg zum wahren Leben sind und mir Mut machten, mit ihnen mitzugehen. Man kann diesen Aufbruch und diesen Weg ins Leben umso leichter wagen, wenn man sieht, dass auch andere Menschen diesen Weg gehen, dass man nicht alleine ist.
Allein, ohne von anderen gestützt und getragen zu werden, ist die Versuchung groß, schnell zu resignieren, ja gar nicht erst aufzubrechen, sondern wieder schnell zu den vollen Fleischtöpfen im Sklavenhaus zurückzukehren, in seinen goldenen Käfig. Diese Versuchung ist umso größer, wenn man bei den ersten aufrechten Gehversuchen einen auf den Deckel bekam, enttäuscht wurde. Dass z.B. andere gnadenlos zuschlagen, wenn ich voller Vertrauen die Maske ablege und mich ihnen in meiner Schwäche und Hilfsbedürftigkeit zeige. Ich glaube, man kann so was nur dann verkraften, wenn man sein Urvertrauen in die Menschen nicht verloren hat und wenn man weiß, dass Jesus selbst mit uns auf dem Weg ist.
Neben dieser Erfahrung in der Gemeinschaft ist eine weitere Erfahrung nötig. Es ist die schon erwähnte Erfahrung Jesu, dass mein Wert nicht davon abhängt, wie gut ich mich verkaufen kann, was andere von mir denken und wie viel ich besitze. Sondern mein Wert wird davon bestimmt, dass Gott sich gerade an mich wendet und für mich da ist. Ich fühle mich als Kind Gottes und weiß mich von ihm getragen und gehalten - was soll mir da noch passieren? Wo ich den Tod doch schon hinter mir habe, ein unbegrenztes Leben aber vor mir! Aber auch zu dieser Erfahrung kann man kaum allein kommen. Ich kann daran glauben, wenn ich - wenigstens hin und wieder - eine hilfreiche Hand erlebe. Ist das aber nicht reines Wunschdenken, was ich da von mir gebe? Nun, ich kenne Menschen, die das erleben, danach leben und daher glücklich sind; und auch ich habe dies schon erlebt.
Wer damit wenig anzufangen vermag, dem sei wenigstens die Gegenfrage gestellt, ob es nicht ein noch größeres Wunschdenken ist, es könne genau so weiter gehen wie bisher. Fast alle Wissenschaftler, die sich mit der Zukunft und dem Überleben der Erde und der Menschheit befassen, bestätigen, dass es zu einem Zusammenbruch kommen wird, wenn es so weiter geht. Und Psychologen und Ärzte bestätigen, dass die Menschen innerlich zugrunde gehen, wenn immer stärkeres Konkurrenzdenken, Neid, Habgier, Machtstreben und Rücksichtslosigkeit die Menschen vollends zu Raubtieren machen wird, die sich gegenseitig in Stücke reißen. Schließlich wird die Erde ein Abfallhaufen sein, ein kahler Planet ohne Rohstoffe, ohne sauberes Wasser und das tägliche Brot wird immer mehr Menschen geraubt werden, weil einige Wenige damit ihre Schweine und sich selbst mästen wollen.
Das Motto der diesjährigen Fastenaktion: „Anders leben, damit andere überleben“ ist daher nicht nur eine zutiefst religiöse Forderung, sondern reine Notwendigkeit.
Ich möchte nun wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren und den Kreis schließen. Die Frage lautete, was können wir tun, jeder von uns, damit das Elend in der Welt etwas geringer wird. Wir müssen bei uns anfangen, jeder bei sich selbst. Es ist verheißen worden, dass wir den Tod hinter uns lassen und ein neues Leben - das Leben im Geiste Gottes - beginnen können. Das ist unsere Berufung. Zum Leben übergehen heißt, dem anderen, dem Mitmenschen, Bruder und Schwester zu sein. „Wir wissen, dass wir aus dem Tod zum Leben übergegangen sind, weil wir die Brüder und Schwestern lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tode.“
So heißt es im 1. Johannes-Brief - und damit ist nicht irgendein vages „Leben im Himmel“ gemeint, sondern unser Leben hier und jetzt. Haben wir erst einmal diese Einstellung gewonnen, d.h. glauben wir wirklich an Jesus den Christus, dann können wir auch die Verhungernden und Leidenden dieser Welt als unsere Brüder und Schwestern erkennen. Erst wenn sich unser Herz aus Stein in Brot verwandelt hat, werden wir den anderen nicht mehr Steine geben. Und auch erst dann werden wir selbst zu Brot werden können für alle, die nach Liebe und Gerechtigkeit hungern.
Ich glaube an die Chancen der Liebe und an die Möglichkeit einer besseren Welt. Denn Gott hat es uns versprochen, dass es so sein wird. Er ist dieses Leben, und als unser aller Vater will er, dass auch seine Kinder das Leben haben werden - ein Leben in Fülle, wie es uns Jesus vorgelebt hat. Doch es liegt an uns, die ersten Schritte zu tun. Wir sind frei und wir können das Angebot Gottes annehmen oder auch nicht. Aber jeder wird auch die Verantwortung für seine Entscheidung zu tragen haben. Für mich selbst kann ich nur sagen, dass ich den Versuch wagen möchte, aufzubrechen, in Gemeinschaft mit möglichst vielen anderen. Wenn ich dann am Ende meines Lebens sagen kann: „durch mich ist etwas mehr Liebe in die Welt gekommen“, dann weiß ich, dass mein Leben einen Sinn gehabt hat. Etwas mehr Liebe in diese Welt bringen kann jeder von uns – wenn er es nur versucht und er auch einige Weggefährten findet. Versucht er es aber in Gemeinschaft mit anderen, verändert sich die Welt. Und immer mehr Menschen dürfen erfahren, was es heißt: in Würde zu leben.
Winnenden, kath. Kirchengemeinde Karl Borromäus 7. März 1976
Im Anschluss an die Predigt versammelten sich über 60 Jugendliche (der Gottesdienst war von Jugendlichen mit vorbereitet worden, ebenso die danach folgenden Aktivitäten und das Gemeindefest) um den Altar, reichten sich die Hände, brachen einen großen Laib von selbst gebackenen Brot und verteilten im Namen Jesu das Brot an die alle Gläubigen - nicht als „Konkurrenz“ zur Kommunion, aber als Symbol, das dann zum besseren Verständnis der folgenden Eucharistiefeier dienen sollte. Dies wurde von den Gläubigen auch so verstanden.