Gemeinsam Kirche werden…..   (mein Vortrag beim FD-Treffen in Lima, Februar 2002)

2. Wenn sich deutsche Gemeinden mit einer armen Gemeinde auf der anderen Seite des Globus einlassen, werden sie auf eine noch grundsätzlichere Weise herausgefordert, ökonomisch und theologisch. Die Campesinos von Cajamarca möchten mit den ihren Partnergruppen in Deutschland ihren Glauben teilen und umgekehrt. Doch die Partner leben in getrennten Welten, besser gesagt: in völlig entgegen gesetzten Wirklichkeiten innerhalb der zur einem einzigen Marktplatz gewordenen Einen Welt. Die deutschen Christen, die einzelnen Gemeindemitglieder wie die Kirche als Ganzes mit ihren Organisationen, sind mehr oder weniger gut funktionierende Bestandteile dieser Gesellschaft. Die beiden Konfessionen sind als Kirchen auf regionaler und nationaler Ebene eng mit Staat und Gesellschaft verflochten. Dies zeigt sich nicht nur in der Kirchensteuer, die bekanntlich umso höher ausfällt, je höhere Gewinne die Wirtschaft erzielt, sondern auch in der Zustimmung zu den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen.

Gemeinde und Kirche sind nicht nur Stützen dieser Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft. Als Gemeinde und Teil dieser Gesellschaft sind sie Teil des dazugehörenden Wirtschaftssystems und sie haben ein existentielles Interesse an dem Erhalt und der Funktionstüchtigkeit dieses Systems, das auch ein globales System ist. Aus diesem Interesse heraus entsteht de facto eine entsprechende Option. Die Campesinos gehören hingegen nur insofern zu diesem System, als dass sie sich als vom System Ausgegrenzte erfahren. Mit anderen Worten: sie sind die Opfer eines Systems, das eine Mehrheit der Christen in den reichen Ländern als alternativlos betrachtet und mit dem man sich eben arrangieren oder das man unterstützen muss. Während peruanische Partnergemeinden ihre Situation im Lichte des Glaubens z.B. als Folge der bestehenden sündhaften Strukturen und als unvereinbar mit dem Willen Gottes verstehen und begreifen, steht den deutschen Gemeinden dieser Erkenntnisprozess hinsichtlich ihrer eigenen Situation noch bevor.

…. Die ekklesiologische Dimension und Bedeutung von Gemeindepartnerschaften wird in den Partnergemeinden auf beiden Seiten erst ansatzweise erkannt. Das Bewusstsein von der weltweiten Gemeinschaft der Jünger*innen Jesu, die mit einander das Brot teilen und damit zur Kirche Jesu Christ werden, ist wenig entwickelt. Vor allem die deutschen Partnergruppen werden zu sehr von dem „Organisieren der Partnerschaft“ in Anspruch genommen. Dennoch ist bereits in der Praxis der Partnerschaften mehr weltkirchliches Handeln vorhanden und Weltkirche präsent, als es den Akteuren oft selbst bewusst ist.

Katholisches Denken und Handeln im ursprünglichen Sinne des Wortes (katholikós: alle betreffend; das Selbstverständnis der christlichen Gemeinschaft von ihrer weltumspannenden und universalen Sendung für alle Menschen) ist aber in kirchlichen Gemeindepartnerschaften vorhanden, selbst wenn es von den Akteuren als solches nicht thematisiert wird. Die Katecheten in den Partnergemeinden nennen es beim Namen: „Dann sprach Don Cunshe im Namen aller Campesinos: ‚Wir freuen uns besonders, nicht nur immer zu empfangen, sondern euch auch etwas schenken zu dürfen, nämlich die Erfahrung der Nähe Gottes. Es gibt uns viel Selbstvertrauen, euch helfen zu dürfen, Hoffnung zu geben und so euren Glauben zu vertiefen.’ Auch die Partnerschaft mit uns wird zunehmend spirituell verstanden, d.h. als Einheit stiftend und Kirchen bildend. Unsere Präsenz als Kirche hilft ihnen, sich ebenfalls als Kirche zu verstehen, was ihnen Kraft und Selbstbewusstsein gibt“.[1] Am einem Perusonntag in Ulm (22. 11.1998) wurde als Fürbitte in allen Gottesdiensten vorgetragen: „Unsere Partner in San Pedro werden von der offiziellen Kirche in Cajamarca immer mehr ausgegrenzt. Man will von ihren Problemen nichts wissen. Sie wollen aber weiterhin Kirche sein und sie sind es auch zusammen mit uns. In der Partnerschaft erfahren sie eine Kirche, die mit den Menschen ist. Wir bitten, dass die Kirche in Cajamarca wieder auf den Weg Jesu zurückfindet, der sich mit den Ausgegrenzten an einen Tisch gesetzt und mit ihnen das Brot geteilt hat. Wir bitten für uns selbst, dass wir in Gemeinschaft mit den Ausgegrenzten immer mehr zu einer solchen Kirche werden.[2]

Die Katholische Kirche ist die älteste und größte weltweite Gemeinschaft mit einer einheitlichen, weltumspannenden Struktur. Zumindest ermöglicht diese Struktur echte Partnerschaften. Diese wiederum tragen dazu bei, weltweite Verantwortung zu übernehmen und sich immer mehr als die Eine Kirche Jesu Christi zu verstehen. Die Existenz von Partnergruppen bedeutet, Weltkirche auch von unten zu bilden. Durch ihre direkten Kontakte mit den Gruppen in Peru erfahren sie, was christlicher Glaube in der heutigen Zeit und innerhalb eines bestimmten Kontextes, der auf diese Weise als ein globaler Kontext erkannt werden kann und muss, bedeuten kann. Und das, was dort gelebt und praktiziert wird, hat hier vor Ort eine Bedeutung. Dies geschieht umso mehr, je direkter und persönlicher die Beziehungen zu den Partnern sind.[3] Wenn Medellín die Umsetzung und Weiterentwicklung des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die lateinamerikanische Realität hin ist und die Partnergruppen in Peru sich immer wieder auf das Konzil und Medellín berufen, dann hat dies Auswirkungen auf deutsche Gemeinden. Alle befragten deutschen Partnergruppen berufen sich nämlich auf das Konzil und auf Medellín. Sie können sich daher von ihren Partnern ergänzend und korrigierend sagen lassen, was das Konzil hier in Deutschland und in den eigenen Gemeinden bedeutet bzw. bedeuten kann. So sind z.B. die Aussagen der Campesinos über die Eucharistie und deren gelebte Praxis des Brot-Teilen für deutsche Gemeinden eine Chance, den Sinn von Eucharistie als Tischgemeinschaft und Brot teilen neu zu entdecken. Die Aussagen der Campesinos haben daher einen globalen Wert. Ihr Kirchenverständnis, ihre Interpretation der Bibel und die Deutung ihrer Situation im Lichte des Glaubens beanspruchen universale Gültigkeit. Die Worte eines Campesino haben deshalb auch in Deutschland ihre Gültigkeit. „Es gibt noch viel Armut in einigen Comunidades und auch in vielen Teilen dieses Planeten. Aber das Leben wird sich immer durchsetzen. Und es ist notwendig dazu beizutragen, dass es sich durchsetzen kann. Sowohl die nationalen als auch internationalen Organisationen sind dazu aufgerufen, sich zu solidarisieren auf diesem mühsamen Weg zur Überwindung der Armut - damit das ‚Bild Gottes’ voller Würde aufleuchten und ‚herrschen’ möge auf dieser Erde“.[4]

Als Gegenbegriff bzw. als notwendige Ergänzung zu der Rede vom „globalen Dorf“ müssen der Begriff und das Verständnis von einer „globalen Gemeinde“ Raum gewinnen. Die Kirche, will sie katholische Kirche sein, muss der herrschenden Praxis und dem eindimensionalen neoliberalen Verständnis von Globalisierung die Vision und die Praxis einer globalen Gemeinde entgegensetzen, die von den Armen ausgeht und in der nicht nur die Armen untereinander, sondern auch Reiche und Arme die Chance haben, das Brot zu teilen, also Gemeinschaft der Jünger Jesu zu werden. Den Partnergemeinden kommt dabei eine Pilotfunktion zu. Die Arbeit der Partnergruppen kann als exemplarisch für eine Kirche bezeichnet werden, die immer mehr zur „Welt - Kirche“ wird. In ihrer Arbeit, der gegenseitigen Unterstützung und im gemeinsamen Brot brechen wird zeichenhaft deutlich, was Kirche sein kann.

Herausforderung und Orientierung für uns – Teil einer reichen Kirche

Dieser Weg ist notwendigerweise konfliktiv, denn es geht um verschiedene Standorte. Der Standpunkt der Armen kann nicht überall oder zumindest nicht in gleicher Weise akzeptiert werden. Andererseits wird der Konflikt nicht um des Konflikts willen gesucht. Vielmehr wird aus der Sicht der Campesinos und im Diskurs mit europäischer Theologie und Kirche nach Möglichkeiten gesucht, diesen Konflikt zu überwinden - ohne den Armen untreu zu werden. Zu erinnern ist an die Frage von Las Casas (hier literarisch formuliert): „Und was, wenn ich Indio wäre“? („y sí yo fuera indio“). Dies ist der Ausgangspunkt und das bleibende Kriterium für Kirche, Theologie und jeden Einzelnen. Die Herausforderung einer Option für die Armen in Peru liegt auf der Hand und sie umfasst mehrere Bereiche und Ebenen.

1. Die Partnerschaft einer reichen Gemeinde mit einer armen Gemeinde stellt per se eine Herausforderung für die reiche Gemeinde dar. Nach dem Bischofswechsel baten verschiedene Partnergemeinden und Gruppen in Cajamarca ihre deutschen Freunde um Hilfe und Beistand, weit über die materielle Hilfe hinaus. Jede Partnerschaft bedeutet eine Einmischung, jede Option ist notwendigerweise eine Einmischung. Die deutschen Partnergemeinden wurden nun noch mehr gezwungen, sich selbst inhaltlich mit ihrem eigenen Kirchen- und Gemeindeverständnis auseinander zu setzen. Sie mussten Stellung beziehen und ihre Option vor sich selbst und auf die eigene Gemeinde hin begründen.

2. Wenn sich deutsche Gemeinden mit einer armen Gemeinde auf der anderen Seite des Globus einlassen, werden sie auf eine noch grundsätzlichere Weise herausgefordert, ökonomisch und theologisch. Die Campesinos von Cajamarca möchten mit den ihren Partnergruppen in Deutschland ihren Glauben teilen und umgekehrt. Doch die Partner leben in getrennten Welten, besser gesagt: in völlig entgegen gesetzten Wirklichkeiten innerhalb der zur einem einzigen Marktplatz gewordenen Einen Welt. Die deutschen Christen, die einzelnen Gemeindemitglieder wie die Kirche als Ganzes mit ihren Organisationen, sind mehr oder weniger gut funktionierende Bestandteile dieser Gesellschaft. Die beiden Konfessionen sind als Kirchen auf regionaler und nationaler Ebene eng mit Staat und Gesellschaft verflochten. Dies zeigt sich nicht nur in der Kirchensteuer, die bekanntlich umso höher ausfällt, je höhere Gewinne die Wirtschaft erzielt, sondern auch in der Zustimmung zu den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Gemeinde und Kirche sind nicht nur Stützen dieser Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft. Als Gemeinde und Teil dieser Gesellschaft sind sie Teil des dazugehörenden Wirtschaftssystems und sie haben ein existentielles Interesse an dem Erhalt und der Funktionstüchtigkeit dieses Systems, das auch ein globales System ist. Aus diesem Interesse heraus entsteht de facto eine entsprechende Option. Die Campesinos gehören hingegen nur insofern zu diesem System, als dass sie sich als vom System Ausgegrenzte erfahren. Mit anderen Worten: sie sind die Opfer eines Systems, das eine Mehrheit der Christen in den reichen Ländern als alternativlos betrachtet und mit dem man sich eben arrangieren oder das man unterstützen muss. Während peruanische Partnergemeinden ihre Situation im Lichte des Glaubens z.B. als Folge der bestehenden sündhaften Strukturen und als unvereinbar mit dem Willen Gottes verstehen und begreifen, steht den deutschen Gemeinden dieser Erkenntnisprozess hinsichtlich ihrer eigenen Situation noch bevor.

In einem notwendigen zweiten Schritt bedeutet Partnerschaft, „sich gemeinsam auf den Weg zu machen“, einen Weg in die Befreiung, zum Erkennen des Anderen und damit zur Anerkennung Gottes. Dies kann für reiche Gemeinden ein Weg der Umkehr bedeuten. Eine Option für die Armen stellt folglich für reiche Gemeinden und für Gemeindemitglieder eine grundsätzliche religiöse und falls Religion auch mit der eigenen Existenz und Identität verknüpft wird, eine existenzielle Herausforderung dar. Gerade dies ist aber eine herausragende Chance und eröffnet Grenzen überschreitende Perspektiven für die Gemeinden.

3. Wenn nun die Menschen von Cajamarca ihren neuen Glauben mit ihren „Brüdern und Schwestern“ in Deutschland teilen wollen, entsteht ein weiteres Problem. Die Christen und Kirchen des Abendlandes gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie schon immer den richtigen Glauben haben. Dieser Glaube ist ihnen gewissermaßen bereits als Säugling eingeimpft worden. Nun geht es ihnen darum, diesen Glauben durch das Einhalten von Gesetzen, Riten und Kult zu bewahren. Sie kommen daher nicht so leicht in Versuchung, die Worte der Propheten und von Jesus gegen die jeweils herrschende (Gesetzes-) Religion auf sich selbst zu beziehen, denn sie sind ja schon erlöst, sie brauchen nichts mehr und sie wissen schon alles und sie verwalten möglichst effektiv und im Rahmen ihrer Gesetze ihre Talente. Wozu umkehren, wenn man schon auf dem richtigen Weg ist? Dies gilt selbstverständlich erst recht für die Hohen Priester und Schriftgelehrten, die sich qua Amt im Besitz der Wahrheit wähnen und die daher die radikale und grundsätzliche Kritik Jesu auf einzelne Vertreter des jüdischen Volkes abzulenken versuchen und damit dem Antisemitismus Argumentationshilfe liefern.

4. Die deutschen Gemeinden bilden zwar die deutsche Kirche. Doch in der Praxis werden deutsche Gemeinden eher von oben herab gebildet und instruiert. Daher ist auch von einer „Amts-Kirche“ zu sprechen, nicht weil ich diesen Begriff  für glücklich halte, sondern weil er besser die Realität trifft. Was als Herausforderung für die Gemeinden gilt, gilt in besonderer und verschärfter Form für die so genannte „Amts-Kirche“. Eine Option für die Armen bedeutet für diese noch viel mehr als für die Gemeinden eine Entdeckung der Armen, sei es im eigenen Umfeld, sei es in den armen Ländern. Es geht nicht nur um eine Anfrage bzw. eine Infragestellung der bisherigen Privilegien, des Verhältnisses von Staat, Wirtschaft und Kirche, des gesamten Apparats, sondern um eine radikale Abkehr und Umkehr. Dies betrifft auch die deutsche Theologie, die allerdings der deutschen „Amts-Kirche“ und auch vielen Gemeinden einen Schritt voraus ist, was - falls Theologie als theoretische Wissenschaft verstanden wird - in der Theorie auch viel leichter fällt. Sie hat die entsprechenden Instrumente, um eine notwendige Auseinandersetzung zu führen und dabei der Kirche insgesamt zu helfen. Ob sie das tut oder tun will, ist eine andere Frage. Denn auch sie ist immer noch mit unvergleichlichen Privilegien ausgestattet und hat wie die Kirche die schwere Last ihrer eigenen Geschichte zu tragen. Das Thema dieser Arbeit ist nicht eine vergleichende Pastoral. Dennoch können zentrale theologische Punkte benannt werden, die aus der Sicht der Armen eine andere oder neue Bedeutung gewinnen und die eine notwendige Bereicherung darstellen.

Neben der erwähnten Rolle der Theologie mit der Option für die Armen als zentralen Inhalt, sind folgende Punkte zu nennen, die alle in einem ursächlichen Zusammenhang stehen: Die Bedeutung der gesellschaftspolitischen Analyse und deren Deuten im Lichte des Glaubens; die Bedeutung der Bibel als Frohe Botschaft sowohl im alltäglichen Leben des Einzelnen wie der Gemeinde; Menschwerdung Gottes (Inkarnation) und sein Weg (Kreuzweg und Auferstehung) mit den Menschen; die Bedeutung des ersten der zehn Gebote (Götzendienst); das Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Glaube; Sozialpastoral. Eine intensivere bzw. erstrangige  Beschäftigung mit diesen Themen im Dialog mit den „Indios dieser Welt“ würde zu einer konstruktiven Herausforderung für Kirche und Theologie in Deutschland werden können.[5] Deutsche Kirche und Theologie aber vermitteln den Eindruck und so werden sie vermehrt wahrgenommen, dass sie nicht die Realität sehen können oder wollen, noch weniger diese angemessen analysieren können. Die entsprechenden Defizite führen konsequenterweise zu einer Verflüchtigung des Glaubens selbst in den Kerngruppen der Gemeinden, zu einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit der christlichen Botschaft und der Kirche in einer orientierungslosen Gesellschaft.[6]

5. Angesichts der pastoralen Situation in den deutschen Gemeinden kann die sozialpastorale Arbeit in der Diözese Cajamarca zu einem Mut machenden Beispiel werden. Es handelt sich um ein Modell von bleibendem Wert. Die Sozialpastoral in Cajamarca wurde bereits vor Medellín 1968 praktiziert und hat ihre Spuren in Medellín und weiteren Dokumenten der peruanischen und lateinamerikanischen Kirche hinterlassen. Dieses Modell, die Art und Weise den Glauben an Jesus Christus zu leben und Kirche zu werden, ist die eigentliche Herausforderung an die Kirche und die Gemeinden in Deutschland.

Was in der Diözese Cajamarca seit 1962 geschehen ist, ist auch eine Frohe Botschaft für Christen in den reichen Ländern. Es war das gleiche Evangelium, das in Bambamarca und anderen Teilen der Diözese eine Umkehr bewirkte. Es ist auch eine Botschaft für Reiche, die willens sind, die Botschaft zu hören. Wenn sie sich auf die Geschichte der Armen einlassen, entdecken sie, dass selbst Jahrhunderte lange Unterdrückung und gewaltsame Integration in ein materialistisches und gottloses System Menschen nicht davon abhalten kann, den Aufbruch und den Auszug zu wagen. Voraussetzung für einen solchen Aufbruch ist, dass man wie die Campesinos die eigene Situation, in der man lebt und sich bewegt, als eine von Gott so nicht gewollte Situation erfährt und dass man als Christ in einem der reichsten Länder der Welt in die Geschichte der Abhängigkeit verstrickt ist. Für die abendländische Kirche als Ganzes wird die Umkehr zudem noch schwerer sein: hat man nicht das gesamte Erbe und die Tradition der christlichen Verkündigung gepflegt und in alle Welt verbreitet, „verkörpert“ man nicht geradezu das Christentum? Doch das Evangelium spricht offensichtlich eine andere Sprache. Es sind die Armen, denen Gott besonders nahe ist, weil sie systembedingt unter die Räuber gefallen sind. Sie sind es auch, die zuerst die Zeichen der Zeit erkennen, dass nämlich das Reich Gottes begonnen hat und die Welt wie sie ist und funktioniert, verändert werden muss. Die Armen haben im Vergleich zu den Reichen einen Standortvorteil, weil ihnen Gott und das Reich Gottes nahe ist. Sie erfahren die Umkehr als Befreiung, während die Reichen Angst davor haben. Wer soll den Reichen von Gott erzählen und sie von ihrer Angst befreien, wenn nicht die Armen, inmitten derer er Mensch wurde? Daher sind für Christen in den reichen Ländern der Kontakt, der Dialog und eine Wegegemeinschaft mit den Armen lebensnotwendig.

Über die Jahrhunderte und Kontinente hinweg gibt es eine unveränderliche Konstante: Zuerst das Reich Gottes, zuerst die Armen. Die europäische Kirche hat zwar die Armen entdeckt, aber am Beispiel von Cajamarca wird sich zeigen, dass für die Kirche als Institution eine Option für die Armen so lange keine wirkliche Option ist, wie sie nicht auch institutionell in kirchlichen Strukturen verankert ist und quasi Verfassungsrang hat. Stattdessen kann bis jetzt jeder Bischof und jeder Pfarrer aus eigener Bevollmächtigung und Beliebigkeit heraus, die Werke seines Vorgängers rückgängig machen und die Armen ausschließen.

Der  Rahmen und der Anspruch von Partnerschaften

Die Partnerschaft von deutschen Partnergemeinden mit Gemeinden der Diözese Cajamarca ist notwendigerweise geprägt oder gar abhängig von den jeweiligen kirchlichen Strukturen in Cajamarca und in Deutschland selbst.[7]

1. Jede Partnerschaft zwischen Kirchengemeinden verwirklicht sich notwendigerweise innerhalb eines bestimmten Rahmens und innerhalb kirchlicher Strukturen. Zugleich lebt sie von ganz konkreten Personen. Konflikte zwischen Person und Institution sind unausweichlich.

2. Partnerschaft verwirklicht sich innerhalb zweier lokaler Kirchen, die in sehr unterschiedlichen Wirklichkeiten und historischen und sozialen Kontexten leben. Von daher entstehen sehr unterschiedliche Interessen und Optionen. Wenn es aber nicht möglich wäre, einen echten Dialog zu etablieren, seinen Glauben und das Brot zu teilen und einen gemeinsamen Weg zu suchen, dann wäre auch katholische Kirche nicht möglich.

3. Die Fragestellung wird verschärft, wenn man die Campesinos als die „Hirten von Bethlehem“ versteht. Gerade die Ausgeschlossenen standen im Zentrum der Verkündigung und Praxis von Jesus. Nach den Kriterien der Mächtigen existieren die Ausgeschlossenen nicht. Die Christen der reichen Länder repräsentieren in ihrer Mehrheit die abendländische Zivilisation - von der Conquista bis zur aktuellen Weltordnung,

4. Um einen wahrhaften Dialog zu etablieren ist es notwendig, dass der Reiche die Fähigkeit entwickelt, den Armen als solchen wahrzunehmen. Das bedeutet, die Ursachen der Armut zu erkennen und mit den Armen gegen alle Ungerechtigkeit zu kämpfen.

5. Dies erfordert eine persönliche Umkehr (Bekehrung) und eine sehr tiefe Spiritualität, die es ermöglicht, in dem Armen das Antlitz Christi zu erkennen.


[1]Gemeindebrief St. Georg, 16. 9. 1997.  Die Geschichte der Partnerschaft St. Georg, Ulm mit San Pedro, Cajamarca ist im Sammelband „Die globale Verantwortung“ veröffentlicht (S. 143 - 158).

[2]Zum Peruwochenende am 21./22. 1. 1998: Bericht in allen Messen über die Situation in San Pedro.

[3]„Damit die Liebe zu den Armen echt und konkret werden kann, muss der, der sie praktiziert, bis zu einem gewissen Grad in ihrer Welt zu Hause sein und mit denen, die bedürftig sind und Ungerechtigkeiten erleiden, freundschaftlich verbunden sein. Solidarisch ist man in der Regel nicht mit ‚den Armen’ schlechthin, sondern mit Menschen von Fleisch und Blut“. Gutiérrez, Gustavo: Aus der eigenen Quelle trinken. Spiritualität der Befreiung. München/Mainz, 1986, S. 115.

[4]Herrera, Leonardo: „Wach auf, Campesino!“. Im Sammelband „Die globale Verantwortung“, Seite 84.

[5]Franz Weber stellt fest, dass sich die akademische deutschsprachige Theologie vor allem seit der 2. Hälfte der neunziger Jahre nicht mehr den Herausforderungen der Befreiungstheologie stellt (mit Ausnahmen) und dadurch ihre Kompetenz verliert. „Noch schwerer wiegt die aus befreiungstheologischer Sicht zu Recht geäußerte Kritik an der Lebens- und Gemeindeferne der Universitätstheologie“. Weber, Franz: Das Reich Gottes ist mitten unter euch (Lk 17,21).  In: Werkstatt Reich Gottes, S. 326.

[6]Zu diesem Thema liegen zahlreiche Studien vor, so z.B. Ebertz, Martin: Kirche im Gegenwind - Zum Umbruch der religiösen Landschaft. Freiburg i. Br. : Herder, 2001. Dessen Bestandsaufnahme teile ich und kann sie durch persönliche Erfahrungen in der Arbeit mit und in Gemeinden bestätigen (was freilich nur eine sehr punktuelle Bestätigung ist). Vollkommen anderer Ansicht bin ich aber bei den von Ebertz aufgezeigten „Auswegen“. Das Evangelium gewinnt nicht dadurch eine neue und unverzichtbare Qualität, wenn man es zur Ware macht und die ökonomischen Mechanismen übernimmt, die das System stützen.

[7]Diese Problematik wurde bereits in dem Artikel „Anspruch und Wirklichkeit“ im Sammelband „Die globale Verantwortung“ behandelt (S. 161 - 219). Als Ergänzung dienen einige weitergehende Überlegungen, die auf dem Fidei-Donum-Treffen vom 27. 2. - 6. 3. 2002 in Lima im März 2002 von mir vorgetragen wurden (hier nur als Aufzählung der Stichworte). Obwohl alle Priester im Auslandseinsatz es in ihrer Arbeit mit Beziehungen zur Heimatkirche, mit Spenden, Kommunikation und Partnerschaft zu tun haben, ging es zum ersten Mal auf einem solchen Treffen um dieses Thema. Ich wurde zu diesem Treffen als Referent eingeladen, um über die Ergebnisse der Studie über die Partnerschaften zu referieren und zu diskutieren. Folgende Punkte konnte ich vortragen: