Fluchtursachen in Lateinmerika

 

Die Hazienda umfasst 120 km². Sie liegt in einem grünen Tal in den Anden, mit viel Wasser und fruchtbaren Weiden. Dort weiden Zuchtstiere und in tiefer gelegenen Gebieten lässt der Besitzer Kaffee anbauen. Die Randzonen gegen die Berge hin liegen brach, sie zu bewirtschaften lohnt  sich nicht. Noch weiter, die steilen und steinigen Bergabhänge hinauf , wohnen etwa 3.000 Campesinos (Indios). Ihnen stehen pro Familie 1 ha zur Verfügung. Das reicht nicht zum Leben. Weil sie keinen Ausweg wissen, beschließen sie, auf einem Teil des brachliegenden Landes der Hazienda Kartoffeln anzupflanzen. Kurz vor der Ernte erfährt der Grundeigentümer davon. Er fordert eine Militäreinheit an, die sofort angreift. Sie eröffnet ohne Vorwarnung aus zwei Hubschraubern heraus das Feuer. 6 Menschen werden getötet, 21 schwer verletzt, zusätzlich werden auch die Kartoffelfelder zerstört....

 

Der Bischof schaltet sich ein, will Anklage erheben, aber ohne Erfolg. Denn - so die Begründung - die Campesinos haben die Eigentumsrechte verletzt und der Staat hat die Pflicht, das Eigentum zu schützen. Und der Bischof und seine Mitarbeiter werden als Kommunisten bezeichnet, die sich mit Gesetzesbrechern solidarisieren. (So geschehen 1977 während meiner Arbeit als „agente pastoral“ in der Pfarrei Bambamarca, Diözese Cajamarca, Peru). 

Ein Gleichnis unserer Welt, so wie sie ist?

 

Diese Strukturen wurden im Zuge der Eroberung Amerikas geschaffen und bestehen im Prinzip bis heute. Die vorkolonialen Kulturen Amerikas kannten kaum Hungersnöte. Sie hatten eine hoch entwickelte Landwirtschaft, die der Grundversorgung der eigenen Bevölkerung diente. Die koloniale Landwirtschaft dagegen dient zuerst den Interessen der Kolonialherren. Im Grundsatz hat sich bis heute nichts geändert. Denn warum nimmt der Hunger ausgerechnet in den ländlichen Gebieten der Welt in den letzten 3 Jahren wieder zu? Die fruchtbarsten Gebiete in Lateinamerika werden für den Anbau von Exportgütern, z.B. Soja und Mais für Viehfutter, genutzt.  Überall in den armen Ländern, wo große Agro- und Chemiekonzerne tätig werden, wächst der Hunger, kleinbäuerliche Existenzen werden zerstört, Böden und Wasser werden vergiftet.

 

Generell existiert eine strukturelle Vernachlässigung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die eine Grundversorgung garantieren könnte. Fehlende medizinische Versorgung und Bildungsmöglichkeiten und eine sehr mangelhafte Infrastruktur sind die Folgen dieser Vernachlässigung. Stattdessen werden industrielle Landwirtschaft und Bergbau subventioniert und Kapital ins reiche Ausland transferiert. Besonders der Bergbau (Gold, Kupfer u.v.m.) zerstört die kleinbäuerliche Landwirtschaft. In einigen Regionen der Anden sind bereits 80% des Landes für Bergbau konzessioniert. In Peru kam es daher in den etzten 20 Jahren zu einer Verzehnfachung der Einfuhr von Grundnahrungsmitteln, 58% der Bewässerung gehen in den Anbau von Spargel und Baumwolle. 48 % der Campesinos leiden an chronischer Unterernährung und die Hälfte aller Peruaner hat keinen Zugang zu ausgewogener Ernährung.

 

Die Rolle der armen Länder als Lieferanten von Rohstoffen (Agrarprodukte, Viehfutter, Rohstoffe) wird von den reichen Ländern festgeschrieben. Dies war auch die Botschaft von Kanzlerin Merkel (und Konsens aller staatstragenden Parteien) bei ihren Besuchen in Kolumbien, Bolivien und Peru: „Ihr müsst noch mehr exportieren. Das ist eure einzige Chance, auf dem Weltmarkt mitspielen zu dürfen und eure Schulden bezahlen zu können“.  Teil dieser strukturellen Gewalt ist, dass als Reserven für reiche bzw. aufstrebende Länder riesige Landflächen „zur Verfügung gestellt“ werden.

Zu den Vertreibungen wegen Landraub nimmt besonders in den Staaten Zentralamerikas die Gewalt zu. U.a. auch in der Folge von langen Bürgerkriegen wurden viele Menschen vertrieben, allein in Kolumbien 4 Millionen in den letzten 30 Jahren. Zunehmende Drogenwirtschaft und Gesetzlosigkeit machen immer mehr Menschen heimatlos. In El Salvador haben 2 von 3 Menschen im arbeitsfähigen Alter „Arbeit“ im Ausland gefunden, täglich fliehen 700  Menschen, 20% von ihnen kommen nie an…

 

Es ist eine immer wiederkehrende Erfahrung der indigenen Völker und der Armen in den Randzonen der Stadt, dass politische und wirtschaftliche Macht eine Einheit bilden und jede Veränderung mit Gewalt verhindert wird. Wird der Druck auf die Menschen zu stark, versuchen sie ihr Glück in der Abwanderung in die Zentren des „american way of life“. In „Vamos Caminando“ (Pfarrei Bambamarca: Glaube, Gefangenschaft und Befreiung in den peruanischen Anden) wird geschildert, wie ein junger Campesino sich voller Illusionen auf den Weg macht: „ … Dort gibt es alles. Bald hast du eine Arbeit und verdienst Geld! Ich werde Lima kennen lernen, die Riesenstadt, die Hauptstadt Perus. Der Lastwagenfahrer schaut den Jungen an und lächelt. Er weiß sehr gut, wie die Küste wirklich ist. Wie viel Leid erwartet doch den Bewohner der Anden, wenn er hinab fährt! Es gibt keine Arbeit, keine Organisation. Und an der Küste ohne Geld sein, das heißt noch erbärmlicher leben als zuvor“. Und als Kommentar wird der peruanische Schriftsteller José María Arguedas zitiert: „Ich kenne Lima: Ich habe die Kinder gesehen, die ganz kleinen, die den Abfall aßen zusammen mit den Schweinen in diesem Elendsviertel, das sie den Müllhaufen nennen. Diese Leute, mein Herr, leben trauriger als Würmer. An den kleinen Kindern klebt der Mist von Hühnern“.

 

Die Kirche der Armen sagt, dass dieser Weg in das Gelobte Land der abendländischen Zivilisation nicht der rechte Weg ist. Er führt für die meisten Menschen in noch größeres Elend, zu einem „Leben bei den Schweinen“. Sie glaubt daran, dass das Evangelium den wahren Weg zeigt, Jesus ist der Weg.

 


 

PS: 33,3 Millionen Kinder, Frauen und Männer waren laut UN-Angaben Ende 2013 sogenannte Binnenflüchtlinge - 4,5 Millionen mehr als 2012 und noch nie so viele seit dem 2. Weltkrieg. Beispiel: Im Oktober 2010 besuchte eine Delegation aus unserer Diözese im Rahmen einer Exposure-Reise Südbrasilien. In Porto Alegre konnten wir bei einem Besuch in einer großen Favela erfahren, dass die Bewohner vertrieben werden sollen, ohne zu wissen wohin. Ihr Viertel wird plattgemacht, weil in der Nähe des WM-Stadions den reichen Besuchern das sichtbare Elend nicht zugemutet werden kann.   

Dr. Willi Knecht, agente pastoral und im Redaktionsteam drs.global (ehrenamtlich)


 

Der Artikel wurde geschrieben für drs.global, den Quartal-Newletter der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der an alle Kirchengemeinden, Verbände, Institutionen etc, der Diözese verschickt wird. Auflage 12.000. Er wird ab 01. Juli 2014 verschickt werden.