Zum Jahresthema von Misereor 2016

Typische Kennzeichen von Religion sind nach klassischer Deutung: Viele Gebote und Verbote, Opferkult und kultische Verehrung, gottgewollte Strukturen, Tempeldienste, etc. Jesus wurde im Namen einer solchen Religion getötet. Sind wir daher als katholische Kirche nicht eher eine Bewegung, mit Jesus dem Christus auf dem Weg zu einer immer gerechteren Welt und einer geschwisterlichen Menschheit? Besonders die biblischen Propheten zeigen dem Volk Gottes, das immer wieder vom Weg abgekommen ist, worauf es wirklich ankommt und was Gott von den Menschen erwartet. Misereor stellt die Botschaft der Propheten in den Mittelpunkt Fastenaktion 2015/16.:

„Es wälze sich heran wie Wasser das Recht und Gerechtigkeit wie ein starker Strom.“ (Am 5,24)

Die Geschichte des Glaubens an den einen Gott, der sein Volk befreit und mit ihm einen Bund geschlossen hat, beginnt mit der Erfahrung eines kleinen Volkes, das seine Befreiung aus der Sklaverei diesem Gott zuschreibt und ihm Treue gelobt hat. Die Propheten haben im Auftrag Gottes dieses Volk immer wieder gemahnt, nicht von diesem Weg abzukommen. Aber vergebens? Denn die Situation im 8. -6. Jh. v. Chr. in Israel, im Volk Gottes war „gotteslästerlich“: Eine kleine Oberschicht verprasst den vom Volk erpressten Reichtum. Sie lebte in Luxus auf der Basis von Großgrundbesitz, Landraub, Kreditwirtschaft und daraus folgende Schuldknechtschaft, Versklavung, Gewalt gegen Frauen, Rechtlosigkeit und Willkür, Einheit von „Tempel und Macht“ … Die Propheten bezeichnen dies als Abfall von Gott und als zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Allein schon die Existenz von Armen war für die Propheten ein Zeichen des Abfalls von Gott. Gerechtigkeit für die Armen zu schaffen ist der Wille Gottes, sich dafür einzusetzen ist wahrer Gottesdienst.

Die Option Gottes für die Ausgestoßenen konkretisiert sich („wird Fleisch und Blut“) in der Geburt Jesu „im Stall von Bethlehem“ und es waren die verachteten „Hirten von Bethlehem“, die zuerst den Weg zu Jesus dem Christus fanden. In seinem ersten öffentlichen Auftreten verkündet Jesus den Beginn einer neuen Zeit, den Anbruch des Reiches Gottes: Lahme werden gehen, Blinde werden sehen und Gefangene werden befreit werden. „Kehrt um, denn das Reich Gottes steht vor der Tür, es beginnt jetzt.“ Mit diesen Worten beginnt und überschreibt Jesus seine Botschaft (LK 4, 16-29). Und als er dies in seinem Heimatdorf Nazareth sagt, geraten die frommen und gesetzestreuen „Leute der Synagoge“ in Wut und wollen ihn den Abhang hinabstürzen. Denn sie waren ja schon gottesgläubig, das auserwählte Volk, schon beschnitten und gerettet, besuchten regelmäßig den Tempel – aber ihr Weg führte an den Menschen vorbei, die unter die Räuber gefallen sind (siehe „Der barmherzige Samariter“). 

Und heute? Einst war Würzburg bekannt für seine prächtigen Prozessionen an Fronleichnam, mit allen kirchlichen und weltlichen Würdenträgern an der Spitze. Als eine kleine Gruppe von Theologiestudenten in Frankfurt-St. Georgen (SJ) hatten wir 1973 die Idee, diese Selbstdarstellung kirchlicher Pracht und Macht zu hinterfragen. Wir fuhren nach Würzburg und stellten an der letzten Station Transparente auf, ausschließlich mit Worten des Propheten Amos. Sofort wurde die Polizei gerufen und wir wurden für den Rest des Tages festgesetzt. Vorwurf: Störung des Religionsfriedens und subversive Propaganda. Das Schlimme: Selbst die Prälaten erkannten nicht, dass es sich ausschließlich um Worte des Propheten handelte. Stattdessen solidarisierten sie sich mit Vertretern der Finanz- und Atomwirtschaft und mit „christlichen“ Politikern, die enge Beziehungen zu blutrünstigen Diktatoren pflegten. 

Die Kirche ist im Verlauf der Geschichte wie das Volk Israel vom Weg Gottes mit seinem Volk abgewichen. Propheten wie Las Casas und Oscar Romero haben diese Missstände als Abkehr vom Evangelium angeklagt, mehr noch: Als Bruch der menschlichen Gemeinschaft untereinander, mit Gott und seiner Schöpfung. Das Zweite Vatikanische Konzil (ansatzweise) und dann vor allem die lateinamerikanische Bischofskonferenz  in Medellín (1968) haben wie die biblischen Propheten die herrschenden ungerechten Strukturen als die Sünde schlechthin bezeichnet, als ein zum Himmel schreiendes Unrecht.

Die so bestehende Armut wird zuerst verstanden als ein von Menschen verursachter Zustand, der fundamental der Würde des Menschen als Kind Gottes widerspricht und damit Gott selbst. Konkret heißt arm sein: Hungers sterben, Analphabet sein, von den anderen ausgebeutet werden, dabei noch nicht einmal wissen, dass man ausgebeutet wird, ja sogar nicht ahnen, dass man Mensch ist. Diese Feststellung muss gedeutet werden: „Arme gibt es, weil es Menschen gibt, die Opfer in der Hand anderer Menschen sind. Und theologisch gedeutet: Das Bestehen von Armut spiegelt einen Bruch in der Solidarität der Menschen untereinander und in ihrer Gemeinschaft mit Gott. Sie ist die Folge der Verneinung von Liebe. Deshalb ist sie unvereinbar mit der Herrschaft Gottes, die ein Reich der Liebe und der Gerechtigkeit inauguriert. Existentielles Engagement gegen die Ursachen der Armut und gegen jede Form von Ungerechtigkeit und für die Überwindung der Abgründe zwischen den Menschen und für  ein Leben in einer Gemeinschaft, die ein Zeichen Gottes in dieser Welt ist – das bezeichnen Propheten wie Amos als den „wahren Gottesdienst“.

Die Botschaft Jesu, dem Propheten schlechthin, führt(e) zu einer befreienden Bewegung mit einem Alleinstellungsmerkmal - im Unterschied zu allen Religionen, Kulturen, Ideologien: Der absolute Maßstab ist der „nackte“, der gekreuzigte, vertriebene Mensch, das hungernde Kind – bzw. wie wir uns demgegenüber verhalten (Mt 25). Dies ist die Grundlage einer neuen, jesuanischen Spiritualität: Die Erschütterung, im gekreuzigten Gegenüber das Antlitz des gekreuzigten Gottes zu entdecken und sich bedingungslos mit ihm zu solidarisieren. Erst eine solche existentielle Begegnung mit dem „Anderen“ führte z.B. zur Umkehr selbst von Bischöfen wie Helder Camara und Oscar Romero und vielen unbekannten Märtyrern, die bereit waren, für die Befreiung der „Verdammten dieser Erde“ ihr Leben hinzugeben. 

Selbst die andine Kosmovision („buen vivir“) steht diesem Glauben näher als die bei uns bisher übliche Art zu glauben und zu leben. Wenn ein Kind stirbt wegen Hunger, wegen einer eigentlich leicht heilbaren Krankheit, auf der Flucht, ist dies ein tödliches Versagen der Gemeinschaft. Mit jedem Verhungernden stirbt auch ein Teil von mir. Dagegen keinen Widerstand zu leisten, bedeutet, sich selbst aufzugeben. Und umgekehrt: Widerstand ist praktizierte Spiritualität und Gottesdienst. In seiner Pfingstpredigt sprach der Papst von einem "spirituellen Analphabetismus" der in der Unfähigkeit bestehe, zu beten (sein Herz zu öffnen) und andere Menschen, besonders die Bedürftigen, als seine Geschwister zu erkennen.

Papst Franziskus: Wenn der Mensch sich zum Maß aller Dinge erklärt und sich selbst und seine Interessen zum absoluten Maßstab macht, sein will wie Gott, führt dies zum Untergang, Und wenn dieser Maßstab zur „Geschäftsgrundlage“ einer global herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wird,  führt ein solcher Götzendienst zur Verwüstung der Seelen und der Mutter Erde. Mit „dieser Verblendung gehen ein hochmütiger Allmachtswahn und Machbarkeitswahn einher“, die sich anmaßen, Gott als irrelevant abzutun und den Menschen auf eine zu instrumentalisierende Masse zu reduzieren.“ Der Mensch, das Ebenbild Gottes, als bloßer Gebrauchsartikel oder gar Wegwerfware? Diese Verblendung, so der Papst, führe dazu, den „armen Lazarus, der vor unserer Haustür bettelt, nicht einmal sehen“ zu wollen. Lazarus aber sei nichts anderes als „die Möglichkeit zur Umkehr, die Gott uns bietet“, erklärt Franziskus. Denn die Opfer der global herrschenden Wirtschaft- und Finanzordnung werden nun buchstäblich an unseren Strand gespült. Was bisher so effektiv verdrängt werden konnte, wird nun offenbar. Das, was schon längst Alltag in weiten Teilen der Welt ist, wird uns nun vor Augen geführt.

Beispielland der Fastenaktion von Misereor ist Brasilien, das Land mit der größten Ungleichheit weltweit. 

Als 1964 erstmals eine demokratisch legitimierte Regierung an die Macht kam, wurde sie umgehend vom Militär gestürzt. Ihr „Vergehen“ (u.a.): Eine umfassende Landreform, Sozialprogramme für die Ärmsten, kostenlose Schulbildung und ärztliche Grundversorgung. Das Militär, verlängerter Arm der Oberschicht, modernisierte die kolonialen Strukturen: Atomkraftwerke, riesige Stauseen, Förderung der industriellen Landwirtschaft, freier Kapitalverkehr usw. machten das Land „anschlussfähig“ und die Reichen noch reicher. Erst Ende 2002 gewann der Kandidat der Arbeiterpartei, Luiz Inácio Lula da Silva, die Wahlen. Dies war der Erfolg einer breiten Volksbewegung, in der die brasilianische Kirche der Armen eine bedeutende Rolle spielte.

Lula schied zwar vor fünf Jahren mit Popularitätswerten von 86% aus dem Amt, doch in diesen Tagen scheint diese Regierung am Ende, und mit ihr so viele Hoffnungen!  Sie hat große Erfolge vorzuweisen: Im Kampf gegen die Armut („Nulltoleranz gegen Hunger“) konnten etwa 40 Millionen Menschen in die Mittelschicht aufsteigen, eine  bessere Gesundheitsfürsorge und Schulbildung für alle  wurde eingeführt. Doch es wurden auch viele Fehler gemacht (hier nur exemplarisch): Mit der Ernennung neoliberaler Minister wollte Lula die Finanzmärkte beruhigen, dies gelang ihm auch. Doch wurden substantielle und strukturelle Reformen damit verhindert: Der Großgrundbesitz blieb unangetastet, ebenso die nahezu unbegrenzte Macht der Gouverneure und des von ihnen beherrschten Senats. Industrielle und landwirtschaftliche Großprojekte (z.B. Export von Soja) wurden gefördert, der Umgang mit natürlichen Ressourcen (Amazonas-Regenwald) und der indigenen Bevölkerung erfuhr keine grundlegende Änderung, usw. usw. Die neokolonialen Strukturen wurden erhalten, in den letzten Jahren sogar wieder gestärkt.

Am Beispiel Brasilien werden zwei grundsätzliche Dilematta deutlich: a) Wie können im Rahmen der bestehenden – alternativlosen? – Weltwirtschaftsordnung sowohl sehr arme als auch Schwellenländer lebenswürdige Bedingungen für ihre gesamte Bevölkerung schaffen ohne auf noch mehr Extraktivismus (Bergbau) und noch mehr exportorientierte Landwirtschaft und Ressourcenverbrauch zurückzugreifen? Und b) Arme, die in die Mittelschicht aufgestiegen sind, neigen eher dazu, ihre Erfolge abzusichern, als sich mit den „Zurückgebliebenen“ zu solidarisieren. Die obere Mittelschicht dagegen hat eine heillose Angst, ihren Status zu verlieren und geht auf die Straße, wenn ihre Privilegien in Gefahr geraten.

Das Verfahren zur Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff wird auch von kirchlichen Partnerorganisationen als seine Farce bezeichnet, als ein Putsch gegen die gewählte Regierung. Die Betreiber dieser Amtsenthebung haben buchstäblich Blut an den Händen. Gegen sie laufen Verfahren wegen illegaler Geschäfte in Milliardenhöhe, wegen Landvertreibungen mit Todesfolge, Steuerflucht, etc. Neuer Landwirtschaftsminister wird z.B. Blairo Maggi, weltgrößter Soyaanbauer und Umweltterrorist.     

Das ist auch der Grund, weshalb Misereor viele Partnerorganisationen in ihren Bemühungen für den Aufbau einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft unterstützt. Denn genau das Beharren der Eliten auf ihren teilweise jahrhundertealten Privilegien ist einer der Gründe, weshalb Brasilien immer noch von extremer Ungleichheit und weitreichenden Menschenrechtsverletzungen geprägt ist. Dies sieht auch z.B. der Projektpartner CPT, die bischöfliche Kommission für Landpastoral so: „Wir kämpfen seit Jahrzehnten für die Demokratie. Wir sehen, dass konservative und sogar diktaturfreundliche Kräfte diese Demokratie beschneiden wollen. Wir treten mit großen Teilen der brasilianischen Zivilgesellschaft dafür ein, dass es mehr Rechte, weniger Ungleichheit und die Möglichkeit für ein würdiges Leben gibt. Das kann nur in stabilen demokratischen Strukturen gelingen, deshalb lassen wir nicht nach in unseren Bemühungen, die Demokratie in Brasilien zu verteidigen!“

Dr. Willi Knecht, Misereorbeauftragter der Diözese (alle Infos aus direkten Kontakten aus Brasilien).

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„Das Recht ströme wie Wasser…“ (Amos 5, 24)  Diözesane Eröffnung der Misereor-Fastenaktion

Das ist das Leitwort der diesjährigen Misereor-Fastenaktion. Die diözesane Eröffnung der Misereor-Fastenaktion 2016 fand am 21. Februar in Holzgerlingen statt. Die Kirchengemeinde unterstützt seit 10 Jahren ein Projekt mit Straßenkindern in Fortaleza, Brasilien. Der Gottesdienst wurde gestaltet vom Missio-Ausschuss. Die Predigt hielt Pfr. Wolfgang Hermann als Vertreter der Diözese.

Einige Gedanken aus seiner Predigt: Der arme Lazarus, stellvertretend für alle Ausgestoßenen, verkündet uns das Wort Gottes. Anhand selbst erlebter Beispiele aus Mexiko: Viele Flüchtlinge als Opfer von Gewalt auf dem „Weg ins Gelobte Land“ (USA). Sie fliehen, weil sie leben wollen. In Basisgemeinden erfahren sie die Kraft der Solidarität. Wenn Menschen das tägliche Brot und das Notwendige teilen, entsteht neues Leben. Hinsehen oder wegschauen, das ist die Frage. Zitat Oscar Romero: „Wir glauben an Jesus, der zu uns kam, um uns Leben in Fülle zu bringen. Hier ist die Kirche, und mit ihr jede und jeder Einzelne, vor die fundamentale Wahl gestellt: Für das Leben oder für den Tod zu sein. Mit großer Klarheit erkennen wir, dass Neutralität in diesem Punkt unmöglich ist. Entweder dienen wir dem Leben der Menschen, oder wir machen uns mitschuldig an ihrem Tod“.

Das Evangelium fragt uns: Wo stehen wir? Von welchem Standort aus sehen, hören und deuten wir Wirtschaft, Gesellschaft und Politik? Neutralität ist für das Volk Gottes unmöglich, es ergreift Partei für ein Leben in Fülle für alle. Deswegen: Flagge zeigen, Stellung beziehen – so auch das Motto von Misereor. Wenn wir wirklich das Leben mit denen teilen, denen ein Leben in Würde vorenthalten wird, dann wird auch das Brotteilen in der Eucharistie nicht nur bloße Kultfeier bleiben. Kirche sein bedeutet auch, sich auf den Weg machen hin zu den Lazarussen vor unserer Haustür und weltweit. Das kann sich konkretisieren z.B. in einer Gemeindepartnerschaft oder in aktiver Mitarbeit bei den kirchlichen Hilfswerken.

Lazarus bietet uns die Möglichkeit zur Umkehr, die Gott uns bietet. Die Opfer der global herrschenden Wirtschaft- und Finanzordnung werden nun buchstäblich an unseren Strand gespült. Was bisher so effektiv verdrängt werden konnte, wird nun offenbar. Das, was schon längst Alltag in weiten Teilen der Welt ist, wird uns nun vor Augen geführt. 

Willi Knecht, Bericht für drs.global 2/16