„Um Gottes Willen, Sie wollen für einige Jahre nach Peru, in ein abgelegenes Dorf in den Anden?“ Der Arzt erschrak und zählte mir all die Gefahren auf, die mich erwarten würden: Verschmutztes Wasser und als Folge davon u.a. Amöben, Würmer, Gelbsucht, Gelbfieber und Cholera, jede Menge von Bakterien und Mikroben, durch mangelnde Hygiene bedingte Infektions- und Ansteckungsgefahren usw. ... Und als Arzt hatte er Recht! Ich ging trotzdem nach Peru, habe diesen Entschluss nie bereut und bin augenblicklich sehr gesund. Die positiven Eindrücke überwiegen: eine unverbrauchte Herzlichkeit, Mitmenschlichkeit und Wärme in der dortigen Bevölkerung, spontane Gastfreundschaft und tiefe persönliche Begegnungen, eine ungeheure Hoffnung und Dynamik innerhalb der Kirche, ein lebendiger und engagierter Glaube. Wenn ich dennoch mit den nachfolgenden Erfahrungen vor überschwänglicher Begeisterung warne, so stütze ich mich dabei auf konkrete Erlebnisse.
Wenn Gringos zu Kletten werden
Was Peru - Besucher beachten sollten. Ein Erfahrungsbericht von Willi Knecht,
im Publik-Forum vom 7. März 1980
Einige Freunde, die mich im vergangenen Sommer in Peru besuchen wollten und sich in den ersten Junitagen nach Billigflügen nach Lima erkundigt haben, erlebten eine unangenehme Überraschung: von Ende Mai bis Ende September alles ausverkauft! Reisen nach Peru scheinen immer mehr in Mode zu kommen - nicht nur bei bildungshungrigen Oberstudienrätinnen und pensionierten Richtern, sondern auch besonders bei Leuten unter 30 Jahren. Die Gründe liegen wohl nicht nur darin, dass Peru ein so schönes und attraktives Land ist und dass man bereits nach einem Monat Ferienjob das Geld für Hin- und Rückflug (ab DM 1.400) beisammen haben kann. Die Gründe sind vielfältiger.
Neben „berufsmäßigen“ Globetrottern, „normalen“ 4-Wochentouristen, archäologisch und alpinistisch Interessierten gibt es eine stets wachsende Zahl von 19 - 30-Jährigen - und von diesen soll nun die Rede sein - die ihre Reise als einen „Ausbruch“ betrachten. Als einen Ausbruch aus einer immer bedrohlicher erscheinenden Welt, die das Individuum, die Phanta- sie, Kreativität, Lust und Freude zu verschlingen droht; einen Ausbruch aus verkrusteten Strukturen (Gesellschaft, Kirche Lebensstil) hin zu neuen Erfahrungen und Lebensweisen. Von einer solchen Reise, die zwei Monate oder mehr als zwei Jahre dauern kann, werden oft neue Impulse erwartet, sei es für die private Lebensgestaltung und den eigenen Lebensstil, sei es für ein neues Bewusstsein für Mitmensch und Umwelt oder für ein sozialpolitisches Engagement nach der Rückkehr. Also nicht nur Ausbruch oder Flucht, sondern Neuanstoß, Neu- und Umorientierung, Vertiefung eines meist schon vorhandenen Engagements oder zumindest eine Suche nach neuen Ufern, so vage dies auch noch sein mag.
Zwar noch eine Minderheit, aber doch immerhin eine stetig wachsende Zahl, möchte deshalb konsequenterweise nicht im gewohnten Tourismus stecken bleiben, sondern eine gewisse Zeit bei einer engagierten Gruppe in Peru wohnen und mitarbeiten. Oder man möchte auch die viel zitierte „Theologie der Befreiung“ vor Ort und in der Praxis kennen lernen oder aber ganz einfach auf dem Land leben, mit und bei den Campesinos.
So kamen vor der Hochsaison im Sommer wöchentlich einige Anfragen an die Diözese Ca- jamarca, ob nicht die Möglichkeit bestehe, in Cajamarca oder Bambamarca eine gewisse Zeit bleiben zu können. Abgesehen davon, dass viele plötzlich vor der Tür stehen, bringt das aber eine Menge von Problemen mit sich, die in der Bundesrepublik fast nie gesehen werden, die aber sowohl im eigenen Interesse als auch im Interesse der Arbeit hier vor Ort beachtet werden sollten, um negative Überraschungen und Enttäuschungen möglichst zu vermeiden.
Die meisten kommen mit zu großen Erwartungen und idealistischen Vorstellungen und tun oft so, als hätten die Leute hier gerade auf sie schon lange gewartet. Allzu leicht werden auf dem Hintergrund des alltäglichen Frusts daheim, die ganzen Hoffnungen in eine ferne, ro- mantische Welt projektiert. Und allzu leicht kann aus einem solchen „Ausbruch“ ein Ritual werden, an dessen Ende eine angstvolle Rückkehr in die Resignation stehen kann. Meiner Meinung nach sollte man deshalb folgendes bedenken:
- Auch in engagierten Gruppen und Gemeinden in Peru, die im Sinne der Theologie der Befreiung arbeiten, wird nur mit Wasser gekocht und gerade die dort aktiven Euroä er kommen als Ansprechpartner oder gar als verständnisvolle Begleiter wegen Zeitmangel kaum in Frage.
- Die vorkonziliaren Kräfte sind auch in Peru noch in der Überzahl und Pfarreien, in denen das christliche Engagement zu politischen Konsequenzen führt sind seltener als man erwartet - und falls doch: gerade in solchen Gemeinschaften sind Besucher nicht gerade am rechten Platz.
- Man geht von gewohnten, d.h. deutschen und sehr theoretischen Denkmodellen aus und trifft hier auf eine Praxis, Lebensart und Kultur, die ganz anders ist und etwas anderes verlangt.
- Die Lösung (!) persönlicher, vor allem aber gesellschaftlicher Probleme in der Bundesrepublik sollte man in der Bundesrepublik selbst suchen und nicht in Peru.
- Eine Flucht in die Idylle ist zwar leichter, aber der tägliche Kampf um eine andere Gesellschaft daheim, das heißt in seiner angestammten Umgebung und Kultur ist dringlicher und härter. Außerdem kann ein Verweilen in idyllischen Träumen zum Opium werden, das heißt, es kann ein konkretes Engagement in Deutschland verhindern und bestehende Verhältnisse zementieren.
- Natürlich gibt es auch Besucher, die mit einer solchen „Hurra-Begeisterung“ ankom- men, dass sie überhaupt keine Probleme hier zu sehen vermögen, sich in ihren Idealvorstellungen bestätigt fühlen, dann nach Deutschland zurückkehren, um dann aber vom Alltag daheim umso mehr frustriert zu werden - und die danach nur noch ganz weit weg möchten…
Nun zu einigen Kriterien, die beachtet werden sollten:
- Eine echte Mitarbeit hier vor Ort ist für kurze Zeit praktisch unmöglich und scheitert auch meist schon an mangelnden Sprachkenntnissen (mit englisch geht hier nichts), von sonstigen Verständnisschwierigkeiten erst gar nicht zu reden.
- Ein Leben auf dem Lande, vielleicht sogar in Indiohütten ist sehr hart und viele halten das trotz bestem Willen nicht aus. Außerdem ist ein solches Zusammenleben einer Indiofamilie nur schwer zuzumuten.
- Fast alle deutschen bzw. europäischen Gruppen und erst recht Einzelpersonen, die hier arbeiten, haben inzwischen schon fast einen Horror vor deutschen Besuchern (sei zu recht oder nicht). Es fehlt einfach auch die Zeit. So werden viele Besucher schnell zur Last. Man ist mental auch so in seine Arbeit vertieft, dass man dazu neigt, die Probleme deutscher Besucher nicht ernst nehmen zu können oder zu wollen.
- Man darf nicht von vorneherein erwarten, als ein „Bruder oder eine Schwester im Herrn“ empfangen zu werden; zuerst einmal ist man eine potentielle Melkkuh. Au- ßerdem ist das Bewusstsein, von einer wahrhaft katholischen, d.h. universellen Kirche, ziemlich unterentwickelt - nicht nur in Deutschland.
- Jeder Besucher wird auch als möglicher Ausbeuter und Geschäftemacher betrachtet - gerade in sehr politischen Gruppen. Wir tragen mit uns die Last einer langen, blutigen Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinreicht (ich meine diesmal nicht Hitler).
- Den Campesinos ist unser Interesse an ihnen erst einmal unverständlich, ja unheimlich. Sie sind daher sehr misstrauisch. Selbst fotografieren und „zweckfreie“ Spaziergänge aufs Land, sind für die Campesinos so unbegreiflich, dass dahinter ihrer Meinung nach nur unredliche Motive stecken können (Spione, Geschäfte, Drogen etc.).
- Wörtliches Zitat eines Campesinos: „Warum hängen sich die Gringos wie Kletten an uns? Sie sollen bleiben, wo sie sind. Wir wollen unsere Arbeit machen und wir wollen nicht mit den Gringos sprechen.“
- Ein Ausländer bleibt immer ein Ausländer, ein Fremder - auch nach vielen Jahren noch. Die meisten Ausländer verwirren eher, als dass sie helfen können.
- Aufgrund der politischen Situation (Militärdiktatur) können häufige Besuche von Ausländern die pastorale Arbeit sowie die Mitarbeiter selbst in Gefahr bzw. Misskredit bringen. Ausländer, die abseits von touristischen Pfaden wandeln, werden leicht als Volksaufhetzer und mögliche Ausbilder der Guerilla verdächtigt. So verbot der Bischof von Cajamarca 1978 jeden ausländischen Besuch in Bambamarca.
Es geht mir keineswegs um Abschreckung, sondern um eine besseres Verständnis der Situation sowie um eine bessere Vorbereitung der Besuche. Auch müsste einiges tiefer ausgelotet werden, als das hier möglich ist. Diese Hinweise sollten auch eher als Anstoß und Anregung dienen. Also doch keine Besuche? Doch!
Interessierte Besuche sind sehr notwendig und auch möglich. Ich will dies kurz erläutern:
- Bisher herrscht noch vorwiegend Einbahnverkehr in Richtung „Dritte Welt“. Von ei- nem Dialog kann kaum die Rede sein. Doch dieser Dialog wird in einer immer mehr zusammenwachsenden Welt dringend etabliert und geführt werden müssen.
- Viel gut gemeintes Engagement für die „Dritte Welt“ erschöpft sich oft in Sammelaktionen und Jahrmarktsrummel. Die eigene Lebensweise und die eigene Gesellschaft werden nicht grundsätzlich („von der Wurzel her“) in Frage gestellt. Bloße Geldspenden sind zumindest langfristig keine Lösung, sondern Teil des Problems.
- Mangels Anschauung, konkretem und erfahrenem Wissen und direktem Kontakt, gibt es endlose Diskussionen über die „Dritte Welt“. Dies bleibt ohne konkreten Folgen und führt nicht zum Handeln. Die Gefahr geistiger Selbstbefriedigung ist groß.
- Es wird viel über „Theologie der Befreiung“ gesprochen, aber wenige lassen sich auf eine Praxis der Befreiung ein. Dagegen könnten gezielte und gut vorbereitete Besuche ein erster Schritt sein, um die geschilderte Situation zu überwinden.
- Eine zukünftige Weltkirche kann ohne echten Dialog, persönliche Begegnung und Gedankenaustausch bei gleichzeitigem Respektieren der nationalen und kulturellen Eigenheiten nicht entstehen und leben.
- - Die Besucher werden möglicherweise in einen Lernprozess miteinbezogen, der sie ihr ganzes Leben nie mehr loslässt. Hier steckt das Potential für echte Bekehrungen!
- Dadurch könnte die deutsche, europäische Kirche die dringend notwendigen Impulse erhalten, die sie vor Verkalkung und Vergreisung schützen könnten.
- Auch den Besuchten selbst könnten sich neue Dimensionen eröffnen und die geistig-kulturelle Distanz verringert werden. Auch Arme könnten sich so leichter und auf der Basis eines gemeinsamen christlichen Glaubens als Teil einer großen, weltweiten Familie (Kirche) fühlen.
- Man kann die eigene Welt, in der man lebt, vielleicht nur dann richtig einschätzen, wenn man sie einmal von außerhalb betrachtet hat. Und vor allem: wenn man vom Standort der Armen aus die Welt betrachtet und von deren christlichen Glauben her deuten lernt.
Trotz aller Schwierigkeiten halte ich also einen solchen Austausch nicht nur für unbedingt notwendig, sondern auch für möglich. Dafür gilt es aber Voraussetzungen zu schaffen und allererste Schritte zu tun. Erste Voraussetzungen dafür sind eine gründliche Vorbereitung, Absprache mit den zu Besuchenden, weniger Illusionen, Interesse beim Zuhören, Bereit- schaft zum Lernen wollen statt zum Besserwissen. Ich würde es sogar für wünschenswert und segensreich halten, wenn insbesondere Theologiestudenten, kirchliche Mitarbeiter und (zukünftige) Priester mindestens ein halbes Jahr in einem Land der „Dritten Welt“ verbringen könnten - zur geistigen und spirituellen Rundumerneuerung! Die Kirche hätte auch die Möglichkeit, organisatorisch als auch institutionell, dafür die Voraussetzungen zu schaffen - wenn sie denn wollte und wenn sie die Dringlichkeit der Herausforderungen erkennen würde. Engagement für die so genannte Dritte Welt aber ist am wichtigsten in Deutschland selbst, damit unsere gemeinsame Welt menschlicher wird - wo immer wir auch gerade leben. Auch für die Bundesrepublik und die deutsche Kirche gibt es Hoffnung. Denn dort, wo es Menschen gibt, ist auch Hoffnung!
Ein ganz konkreter Vorschlag:
Nach meiner Meinung - und in Gesprächen mit vielen Peruanern, Deutschen, die hier arbei- ten und Besuchern wurde dies bestätigt - ist es ungemein wichtig, den Kontakt zwischen den verschiedenen Kirchen und Menschen zu fördern und auszubauen. (Dies wäre übrigens wahrhafte Ökumene, da die Spaltung der Einen Kirche Jesu Christi in Reiche und Arme, in Unterdrücker und Unterdrückte, viel skandalöser ist, als die Spaltung zwischen evangelisch und katholisch). Das würde allen Beteiligten sehr zugute kommen. Andererseits gibt es aber eine Fülle von Schwierigkeiten: junge, engagierte und zur Begeisterung fähige Leute kommen voller Hoffnungen nach Peru und werden dann oft wie vor den Kopf geschlagen, einfach aus Mangel an Zeit, mangelnder Koordination, mangelnder Geduld, unverstandener Problematik usw. … Wie viel Elan und mögliche Initiative bis hin zu echter Bekehrung kann hier verloren gehen! Und wie viel könnte man für ein gegenseitiges Verständnis und Aussöhnen innerhalb der Kirche tun, würde dieser Austausch durch Besuche und direkte Begegnungen besser funktionieren.
Ein erster Schritt könnte sein, in Lima (Peru) eine Koordinationsstelle zu schaffen und personell ausstatten, deren Aufgabe es wäre, Besucher einzuweisen, zu vermitteln (sowohl Gruppen zu finden, die bereit wären, Besucher aufzunehmen als auch Besucher vorzubereiten etc.), Kontakte herzustellen - in Koordination mit einer entsprechenden Anlaufstelle in Deutschland, z.B. bei Misereor, Adveniat oder einer Ordensgemeinschaft - zu begleiten auch vor und nach dem Besuch, usw.; eine Anlaufstelle für alle, die einen Einblick in die kirchliche und sonstige Situation in Peru gewinnen wollen. Dazu bräuchte man als ersten Schritt nicht einmal eine eigene Institution mit eigener Bürokratie, genügen würde schon für den Anfang die personelle Erweiterung der deutschen Pfarrei durch speziell geschulte und erfahrene Mitarbeiter in Lima. Mit wenig Geld könnte man so der peruanischen und deutschen Kirche einen sehr großen Dienst erweisen, einen Dienst, der in die Zukunft weißt und hin auf eine Kirche, die so immer katholischer, weil universeller wird - im Dienste der Einheit und Versöhnung zwischen armen und reichen christlichen Gemeinschaften und Gemeinden.
Bambamarca, zur Jahreswende 1979/80
Willi Knecht, Diplomtheologe, zur Zeit als pastoraler Mitarbeiter in der Pfarrei Bambamarca, Peru, tätig. Bambamarca wurde in Deutschland u.a. bekannt durch das Glaubensbuch „Vamos Caminando“ und durch seinen Bischof von Cajamarca, José Dammert.