Erste Predigt (Anfang 1982) in St. Georg zum Thema Peru und Andeutung und Vorbereitung einer Partnerschaft.

Liebe Gemeinde!

Zuerst in Stichworten etwas zu meiner Arbeit in Peru. Ich habe 4 Jahre in einer Pfarrei im Andenhochland von Peru gearbeitet. Zur Pfarrei gehören etwa 100.000 Katholiken, verstreut über ein Gebiet so groß wie die Schwäbische Alb; in der Mehrzahl rein indianische Bevölkerung; 90% Analphabeten; im Durchschnitt besitzt eine Familie etwa 1 ha steiniges Land. Das reicht kaum zum Leben. Die Hälfte aller Kinder stirbt vor dem 6. Lebensjahr. Mit staatlicher Hilfe kann nicht gerechnet werden. Die Mittel der Pfarrei sind auch begrenzt, auch personell; so waren während der 4 Jahre meiner Mitarbeit nur für 2 Jahre 1 Priester in der Gemeinde. Ansonsten war ich der einzige „Hauptamtliche“.

Was kann aber eine Pfarrei angesichts einer solchen Situation tun?

Ein 1. Schritt war es, mit den Menschen über ihre Situation zu sprechen, zu fragen: warum leben wir so? Ist das Gott gewollt, Schicksal oder durch Menschen verschuldet? Ich muss hier einfügen: als ich 1976 dorthin kam, waren die nun aufgezählten Schritte schon getan, dank eines prophetischen Bischofs auf der Seite der Armen und guter Mitarbeiter und mehrerer Priester. Anhand der Bibel kamen die Indios zu der Erkenntnis, dass auch sie vollwertige Menschen sind, dass auch sie ein Recht auf Leben haben, auf ein menschenwürdiges Leben! Ja, sie kamen zu der Erkenntnis, dass gerade sie es sind, mit denen Gott sein Werk der Befreiung und die Schöpfung vollenden möchte. So entdeckten sie, wie aktuell und befreiend heute die Botschaft Jesu ist.

Sie entdeckten, dass Jesus auf ihrer Seite steht, dass er genau so arm war wie sie selbst, genau so verspottet und verachtet wurde, geschlagen und zuletzt zu Tode gefoltert. In den letzten drei Jahren meines Aufenthalts wurden 2 Indio-Katecheten von den Militärs erschossen, mehrere teils schwer verletzt, einige - vor allem die Mitglieder des KGR - ins Gefängnis geworfen. Ihre Schuld: sie wollten im Geiste Jesu wie Menschen behandelt werden. Aber weil zum Tod Jesu die Auferstehung gehört, wissen, sie, dass er letztlich doch gesiegt hat, dass die Zukunft mit mehr Gerechtigkeit auch für sie schon begonnen hat und dass das Land der Verheißung denen gehört, die im Moment nichts haben, denen alles verweigert wird.

Ich selbst habe für mich entdeckt, dass man vielleicht nur dann die Botschaft Jesu in all seiner Fülle und ganzen Tiefe nur dann erfahren kann, wenn man die Indios ausgestoßen ist und gerade deswegen seine ganze Hoffnung auf Gott setzt. Vielleicht ist gerade das unser größtes Glaubensproblem hier in Deutschland. Wir haben und besitzen viel, wir planen, funktionieren, verwalten und organisieren und sind auch noch stolz darauf, dass wir das so gut können. Und dabei sind wir doch so arm - arm an Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen auf Gott.

Zurück zu Peru: Aufgrund ihrer Glaubenserfahrung haben die Indios begonnen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Gemeinsam werden Kanäle zur Bewässerung geplant, ebenso Schulen, eine Genossenschaft wurde gegründet und vieles mehr. Es gibt inzwischen fast 200 ausgebildete und verheiratete Katecheten, die in ihren über das Land verstreuten Gemeinden praktisch die Gemeinde leiten, Wortgottesdienste feiern, die Gemeinde um sich versammeln, so Kirche bilden, usw. Etwa 100 Katecheten haben zusätzlich die bischöfliche Erlaubnis zu taufen, Ehen zu schließen und die Eucharistie zu verwalten. Im letzten Jahr meiner Mitarbeit wurden die ersten Diakone geweiht. Meine Arbeit war damit zu Ende, eine Arbeit, die vor 20 Jahren begann (1962) und wo ich das Glück hatte, in den letzten Jahren als letzter dort tätiger Ausländer dabei sein zu dürfen. Heute steht die Pfarrei, inzwischen mit 2 einheimischen Pfarrern, auf eigenen Füßen (aber nicht finanziell).

Schön und gut - aber was hat das alles mit uns zu tun? Sehr viel, meine ich. Die Kirche, die ja die ganze Welt umspannt, kann sich nur dann mit gutem Recht die Kirche Jesu Christi nennen, wenn sie eine Gemeinschaft ist, in der alle füreinander da sind und sich füreinander verantwortlich fühlen; in der nicht die einen auf Kosten der anderen leben und in der nicht die einen, die alles haben, die anderen ausschließen dürfen. In einer Gemeinschaft, deren Fundament ja die Liebe sein sollte, ist es das Mindeste was man erwarten darf, dass alle das recht auf Leben, d.h. auf ausreichend Essen, Wohnen, Ausbildung, ärztliche Versorgung usw. haben.

Dafür muss innerhalb dieser Gemeinschaft gesorgt werden. Das heißt nicht, dass alle dasselbe besitzen sollen, aber allen steht das zu, was ein Mensch zu einem menschenwürdigen Leben braucht. Das ist Gottes Wille, ja Gottes Gesetz! Doch dieses göttliche Recht, das jedem Menschen als Kind Gottes wesensmäßig zusteht, wird der Mehrheit der Menschen verweigert, auch der Mehrheit derer, die ja zu dieser einen Kirche Jesu Christi gehören. Und es wird ihnen von Christen verweigert!

Es gibt einen Bruch in unserer Kirche, eine riesige Kluft tut sich da auf: auf der einen Seiten die arm gemachten Brüder und Schwestern, auf der anderen Seite die anderen Brüder und Schwestern, die vor lauter Überfluss nicht wissen wohin damit. Das ist unvereinbar mit der Botschaft Jesu, der sein Leben dafür hingegeben hat, dass eine neue Gemeinschaft entsteht, das neue Volk Gottes, in der jeder dem anderen in Wahrheit und in der Tat Bruder und Schwester ist. Wenn wir uns Christen nennen, dann müssen wir diese neue Gemeinschaft nicht nur wollen, sondern auch mit allen unseren Kräften anstreben.

Aber wie? Es genügt da sicher nicht, dass wir 1 oder 2 Mal im Jahr unsere Pflicht bei irgendeiner Spende erfüllen. Ich habe von dieser tiefem Abgrund gesprochen und wir, die wir auf der einen Seite stehen, werfen hin und wieder eine Münze denen auf der anderen Seite zu. So sinnvoll und notwendig das auch im Einzelnen mal sein kann - der Abgrund bleibt, im Grunde ändert sich nichts und vielleicht soll sich ja auch gar nichts ändern? Es kommt aber nicht nur darauf an, diesen Abgrund zu sehen - was schon nicht wenig ist - sondern diesen Abgrund ganz verschwinden zu lassen. Und dies erst recht innerhalb der einen Familie von Brüdern und Schwestern!

Die Indios glauben an diese gemeinsame Familie, sie glauben, dass Gott ihnen beistehen wird und dass diese Kluft verschwinden wird. Sie haben schon angefangen, daran zu arbeiten und auch daran, dass unter ihnen selbst Brüche und Abgründe verschwinden und sie immer mehr zu einzigen Familie werden. Es liegt nun an uns, uns auch auf den Weg zu machen - in der Gewissheit, dass unsere Wege sich treffen werden, denn Gott ist ja unser gemeinsames Ziel.

Ich habe hier den Eindruck, dass wir den Weg und das Ziel nicht mehr richtig erkennen. Wir haben die Orientierung verloren, tappen im Dunkeln oder lassen uns blenden von anderen Dingen, vom materiellen Wohlstand, von Karriere, Besitzdenken, vom Tanz um das Goldene Kalb und merken gar nicht, wie wir dabei langsam zugrunde gehen - und nebenbei bemerkt: die ganze Welt, die Schöpfung Gottes, damit in den Abgrund stürzen. Genau so wie beim Volk der Hebräer: Gott hat es aus der Sklaverei befreit, wollte es in das Gelobte Land führen, doch die Hebräer verloren unterwegs den Mut und den Glauben. Sie sehnten sich nach den vollen Fleischtöpfen in Ägypten zurück, sie bauten sich in der Wüste ein Goldenes Kalb und beteten es an. So versperrten sie sich selbst den Weg in die Befreiung.

Geht es uns nicht auch so? Bei dieser Jagd nach Besitz, Konsum, Karriere und Erfolg, geht da nicht das kaputt, was wir am meisten brauchen: Liebe - Vertrauen - Gemeinschaft? Denn in Wirklichkeit hungern wir alle nach mehr Verständnis, Anerkennung, Liebe. Wir, auch wir sind am Verhungern - doch lassen wir uns einreden, dass Gold satt macht. Doch Geld und Gold machen immer nur noch gieriger und schafft noch mehr Hunger - in uns und weltweit. Kein Wunder, wenn da auch unser Herz zu Stein wird und dass wir selbst unfähig werden, Liebe zu geben und Brot für andere zu sein. Und so kommt es auch dann eben zu diesen Abgründen, nicht nur weltweit, sondern es gibt diese ja nur, weil es auch bei uns viele Brüche gibt, in unserer Gemeinschaft hier und in jedem von uns.

Das Beispiel der Indios und von Jesus selbst, kann uns helfen, die Augen zu öffnen. Bei ihm standen andere Werte im Vordergrund, nicht Besitz, Erfolg und Macht. Daran brauchte er sich nicht zu klammern, er wusste sich nämlich ganz und gar in der Hand seines Vaters, der auch unser Vater ist. Und so hatte er seine Hände frei für andere. Nur ein solches Grundvertrauen, ein solcher Glaube, ermöglicht Gemeinschaft, Hingabe und damit neues Leben. Im 1. Brief des Johannes steht: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod zum Leben hinüber gegangen sind, weil wir die Brüder und Schwestern lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tode!“ Unsere Hoffnung und Zuversicht ist es nun, dass Gott uns alle, jeden einzelnen von uns, zu diesem neuen Leben berufen hat.

Diesem Ruf zu folgen wäre dann auch unser wahrer Beitrag zur Mission, d.h. zur Überbrückung und dann zur Abschaffung dieses Abgrundes, der unsere Welt und unsere Herzen spaltet. Haben wir erst einmal diese neue Einstellung gewonnen, dann können wir auch die Verhungernden und Leidenden dieser Welt als unsere Brüder und Schwestern erkennen und wahrnehmen. Dann auch wird uns deutlich werden, dass uns in den Augen verhungernder Kinder Jesus selbst ansieht und uns fragt: Warum siehst du mich nicht, warum gehst du an mir vorbei?

Erst wenn unser Herz sich aus Stein in Brot verwandelt hat, wenn uns die Augen und Herzen aufgehen und wir uns nicht von Dingen blenden lassen, werden wir auch anderen nicht nur Steine geben. Erst dann können wir selbst zu Brot des Lebens werden für alle, die nach Liebe und Gerechtigkeit hungern - sei es in unserer nächsten Umgebung, sei es einigen konkreten Menschen, die z. B. in Peru am Verhungern sind. Ich glaube an diese Verheißungen und an die Möglichkeit einer gerechteren und besseren Welt. Denn Gott hat uns versprochen, dass es so sein wird!

Noch ein wichtiger Hinweis: Die geschilderte Arbeit, der Aufbruch einer Gemeinde in Peru, wäre kaum möglich gewesen ohne die Partnerschaft - und damit auch Spenden - einer deutschen Pfarrei. Und diese Pfarrei ist dadurch nicht ärmer geworden, sondern reicher, reicher an wichtigen Glaubenserfahrungen, reicher an spirituellem Leben und Glaubwürdigkeit.

Willi Knecht