Seit knapp 30 Jahren gibt es das "Rottenburger Modell Gemeindeerneuerung". Dieses Modell, am Schreibtisch erfunden, dann aber in der Praxis oft erprobt, galt als wegweisend und gilt es bis heute. Als Mitglied des KGR (u.a.) in der Gemeinde St. Georg, Ulm setzte ich mich sehr dafür ein, dieses Modell auch in unserer Gemeinde zu erproben. Hintergrund waren meine Erfahrungen in den Baissgemeinden von Peru (Cajamarca) und die daraus entstandene Gemeindepartnerschaft mit San Pedro in Cajamamrca (seit 1982), die in St. Georg auf große Zustimmung stieß. Die Gemeinde St. Georg galt zu Recht als sehr offen und vertrauenswürdig. Doch es zeigte sich bald, dass die Erfahrungen der Gemeinde und die befreienden Impulse, die sie von den Campesinos in Peru durch diese Partnerschaft erhalten hat, keine Rolle in den Überlegungen der Rottenburger Planer spielen konnte (durfte). Der Ausschuss "Mission, Entwicklung und Frieden" unter meiner Leitung hat daraufhin die folgenden kritischen Anmerkungen verfasst und nach Rottenburg geschickt.
Es bietet sich an, die damaligen Erfahrungen mit der heutigen Situation zu vergleichen...!
Willi Knecht, im Mai 2012. Zum Kontext siehe: "Erneuerung in Deutschland ???"
Anmerkung zum Thema "Gemeindeerneuerung 1988" in St. Georg Ulm:
"In der Gemeinde St. Georg (KGR, Pastoralteam, Ausschüsse etc.) wurde in den letzten Jahren das Bedürfnis nach einer lebendigen Gemeinde, Vertiefung des Glaubens und der Besinnung auf das Wesentliche immer stärker. Es ging und geht darum, wie in einer zunehmend ungläubigen Umgebung, Vereinzelung und Hoffnungslosigkeit neue Formen und Strukturen des gemeinsam gelebten Glaubens gefunden werden können. Neue Art des Zusammenlebens, ‚Kontrastgesellschaft‘ und Gemeinschaftsbildung über die Kirchenmauern hinaus sind dafür einige Stichpunkte. Voraussetzung dafür sind eine Abkehr von kirchlicher Service - und Konsumhaltung, persönliches Glaubenszeugnis, prophetische Zeichen, kurz: entschiedenes Christentum. Dies ist um so wichtiger in einer Welt, in der wegen des herrschenden Götzendienstes das Elend weltweit immer größer wird. Das Ziel ist eine Gemeinde (Gemeinschaft) als Heimat für alle Suchenden, als Ort der Hoffnung, als Licht auf dem Berg, als Sauerteig innerhalb der Gesellschaft. Um dieses angestrebte Ziel nicht aus den Augen zu verlieren (ein Ziel, das die Gruppen in unserer Gemeinde so geäußert haben, wenn auch immer in dem Bewusstsein, dass dieses Ziel immer größer sein wird als dessen mögliche Realisierung), ist folgendes zu beachten:
- Gemeindeerneuerung muss von der Gemeinde selbst ausgehen. Gemeindespezifische Anliegen müssen im Vordergrund stehen und dürfen nicht verdrängt werden. Die Erfahrungen anderer Gemeinden sind hilfreich, auswärtige Berater können zu Rate gezogen werden.
- Die Gemeindeerneuerung selbst sollte auf dem bisherigen Stand der gemeindeinternen Diskussion aufbauen und die Gesamtgemeinde an diesem Prozess der Glaubensvertiefung teilhaben lassen. Keinesfalls darf weit hinter den bisherigen Stand zurückgefallen werden (auch nicht hinter den Stand der eigenen Diözesansynode 1985).
- Alle Teilnehmer müssen ernst genommen werden (ernst nehmen heißt, dass man ihnen etwas zu - mutet). Teilnehmer und Gemeinde müssen Subjekt sein und nicht Objekte pastoraler Feldversuche. Deshalb ist auch ein allzu kindliches Niveau und eine vernebelnde (esoterische) Sprache zu vermeiden.
- Die Umwelt (Gesellschaft, Wirtschaft etc.), in der die Menschen leben, darf nicht ausgeklammert werden. Es genügt nicht über Symptome zu reden (z. B. Sprachlosigkeit, Einsamkeit, Spaltung der Gesellschaft), sondern deren Ursachen sind aufzudecken. Es geht um eine Deutung der Welt im Lichte des Glaubens.
- Reine Selbstbespiegelung oder ‚Heilung der kranken Seele’ ist kein Spezifikum der christlichen Botschaft. Subjektwerdung heißt nicht zuerst religiöse Selbstbefriedigung, sondern Übernahme von Verantwortung, Zeugnis ablegen in dieser Welt und Nachfolge Jesu.
- Eine unverbindliche und beliebige Bibelauslegung, erst recht eine sachlich falsche Bibelauslegung, führt zu einem pflegeleichten, total verbürgerlichten und angepassten Christentum ohne wirkliche Konsequenzen (und auch umgekehrt). Gerade eine solche Bibelauslegung wird aber von Rom befördert.
- Die Bibel lehrt uns, die Welt und unser Leben mit neuen Augen zu sehen (neue Brille). Jesus lehrt uns zu sehen mit den Augen der Ohnmächtigen, der Armen, der Außenseiter. Ohne die prophetischen Dimensionen der Frohen Botschaft (Anklage und Verkündigung), bleiben wir blind oder kreisen nur um uns selbst.
- Als Wichtigstes: Die christologische Komponente darf nicht fehlen: eine Religion ohne Jesus den Christus (und ohne die, mit denen er sich identifiziert), ohne seine Praxis, sein Leben, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung, ist eben nicht christlich. Ein bloß (griechisch) philosophisches Konstrukt gibt kein Leben.
- Die ekklesiologische Komponente darf nicht fehlen. Ein Ausklammern der Weltkirche - und damit ein Ausgrenzen der Armen - ist sektiererisch. Kirche ist Volk Gottes auf dem Weg in die Befreiung, auf dem Weg vom Tod ("übertünchte Gräber") zu neuem Leben, ist Gemeinde auf der Suche nach neuen Lebensformen angesichts der Realitäten dieser Welt wie Hunger durch Ungerechtigkeit, Zerstörung der Schöpfung usw. Eine solidarische Gemeinde klagt die Ursachen des Elends an und ergreift Partei für die Opfer.
- Eine Religion ohne Forderungen, d.h. ohne Umkehr und Verkündigung der Frohen Botschaft von der nun anbrechenden Herrschaft Gottes, ist nicht die Botschaft, die Jesus verkündet. Die Gemeinde hat die Aufgabe, lebendiges Zeichen dieser beginnenden Herrschaft Gottes in der Welt zu sein.