Partnerschaft - eine Option für die Armen

Seit Papst Johannes XXIII. vor der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 zum ersten Mal von einem Vorrang der Armen sprach und dies als die große Herausforderung für die Kirche der Zukunft bezeichnete, ist die Option für die Armen (zwar noch nicht auf dem Konzil in dem Maße wie von Johannes XXIII. erhofft, aber in der Folge davon in Medellín 1968) zum Thema vieler theologischen Werke und Synodenbeschlüsse geworden. Es sollen hier darüber nicht weitere Überlegungen angestellt werden, es genügt der Hinweis, dass (frei nach G. Gutiérrez) die Option für die Armen keiner weiteren theologischer Begründung bedarf, weil es die Option Gottes selbst ist (1).

Es soll nun andeutungsweise versucht werden, was für deutsche Gemeinden eine Option für die Armen aus der Sicht der Armen bedeuten könnte. ....

Die jeweilige Option ist zuerst von ihrem jeweiligen Kontext her zu verstehen. Die Mitglieder der deutschen Partnerschaftsgruppen gehören, wie auch die überwiegende Mehrheit in der Gemeinde, der finanziell abgesicherten Mittelschicht an. Die Gemeindemitglieder wie die Gemeinde als Ganzes sind mehr oder weniger gut funktionierende Bestandteile dieser Gesellschaft. Auch die beiden Konfessionen sind als Kirchen auf regionaler und nationaler Ebene eng mit Staat und Gesellschaft verflochten. Dies zeigt sich nicht nur in der Kirchensteuer (die bekanntlich um so höher ausfällt, je höhere Gewinne die Wirtschaft erzielt), sondern auch in der Zustimmung zu den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Natürlich gibt es Bruchstellen, doch diese Bruchstellen gehen auch quer durch die Gemeinden. Gemeinde und Kirche sind nicht nur Stützen dieser Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft. Als Gemeinde und Teil dieser Gesellschaft sind sie Teil des dazugehörenden Wirtschaftssystems (oder umgekehrt) und sie haben ein existentielles Interesse an dem Erhalt und der Funktionstüchtigkeit dieses Systems, das auch ein globales System ist. Aus diesem Interesse heraus entsteht de facto eine entsprechende Option.

Die peruanischen Partnergemeinden in ihrer Strukturierung als Gemeinschaft von Basisgruppen (so möchten sie die deutschen Gruppen ja gerne verstehen) gehören hingegen nur insofern zu diesem System, als dass sie sich als vom System Ausgegrenzte erfahren. Mit anderen Worten: sie sind die Opfer eines Systems, das seit 500 Jahren so funktioniert, wie es in einer Ausstellung der Gemeinde St. Georg, Ulm (als Diaserie „Kirche der Befreiung“ übernommen in den Verleih der diözesanen Medienstelle in Stuttgart) aus dem Jahre 1984 heißt: „Die bestehende Weltordnung basiert auf dem Recht des Stärkeren und der absoluten Vorherrschaft des Kapitals. Der wirtschaftliche Kreislauf wird allein von den Interessen des Zentrums (reiche Länder) bestimmt und führt zu mehr Reichtum unsererseits und zu immer mehr Elend andererseits“.

In den peruanischen Partnergemeinden gehören 80 - 90 % der Menschen zu den Armen. Und als Arme und als Volk sind sie Opfer der von Menschen so geschaffenen Verhältnisse. Diese Verhältnisse stellen sich so dar, dass die unterschiedlichen Rollen in dem Einen System so verteilt sind, dass eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit lebt. Der Kontext, in dem die überwiegende Mehrheit der Menschen in den peruanischen Partnergemeinden lebt, ist geprägt von zunehmender Gewalt und Verelendung. Diese Menschen begreifen aber immer mehr, dass zwischen der Situation in der sie leben und dem, was sie an Überfluss und Luxus in den Medien und der Werbung sehen, ein innerer Zusammenhang besteht. Evangelisierung in den Landgemeinden und den Elendsvierteln Perus bedeutet ja gerade, auf diesen Zusammenhang (wie die Propheten) hinzuweisen, diese Situation im Lichte des Glaubens zu deuten und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Eine Option für die Armen aus deutscher Sicht bedeutet daher:

  • Hören auf die Menschen in den Partnergemeinden, sie innerhalb ihres Kontextes wahrzunehmen und sich ihrem Weg anzuvertrauen, weil ihnen ja der Weg von Jesus gezeigt wird und er mit ihnen ist. Sie sind für deutsche Gemeinden eine Brücke zum Verständnis der ursprünglichen Botschaft. Notwendige Voraussetzung dafür ist Bekehrung (kehrt machen, den eigenen Weg zumindest in Frage stellen, neue Wege suchen) bzw. Umkehr ohne Angst, etwas zu verlieren.
  • Eine Analyse des eigenen Kontextes, diesen im Lichte der Bibel zu deuten, die Aus- wirkungen des wirtschaftlichen Handelns an den Pranger zu stellen und angesichts einer Verherrlichung materieller Werte (Materialismus, Götzendienst), die zum Tode führt, den biblischen Gott des Lebens zu verkünden. Mit Hilfe peruanischer Partnergemeinden kann dies eingeübt werden. Das Mindeste: Anwalt derer zu sein, die keine Stimme haben.
  • Eine Gemeindepartnerschaft ist ein hervorragender Ort, um die beiden scheinbar nicht miteinander zu vereinbarenden Gegensätze (Pole innerhalb des gleichen Systems) von Reichtum und Armut zu überwinden. Kirche ist der Ort, wo der Bruch der Gemeinschaft der Menschen untereinander und mit Gott überwunden wird. Die Kirche wird dann zur Kirche Jesu, wenn nicht die einen auf Kosten der anderen leben, sondern wenn Gemeinden im Geiste Jesu eine Tischgemeinschaft (Kirche) bilden. Für deutsche Gemeinden ist es wesentlich schwerer, diese Einladung anzunehmen. Peruanische Gemeinden haben einen (biblisch, theologischen) „Standortvorteil“. Gott ist ihnen nahe, weil sie arm (unterdrückt) sind - nicht, weil sie „qua se“ bessere Menschen sind.

Ist es für deutsche Gemeinden schon schwer genug, die Ursachen der Verelendung in ihren Partnergemeinden zu entdecken, so ist es noch viel schwerer, den eigenen Kontext (die Ursachen des Reichtums) zu analysieren. So wie in den Partnergemeinden die Menschen über Jahrhunderte hinweg von einer bestimmtem Kultur, Religion, gesellschaftlichen Konventionen und politischen Systemen geprägt wurden, so natürlich auch die Menschen in Deutschland. Mag man auch an manchem Althergebrachtem nicht mehr festhalten wollen, so ist eine grundsätzliche Kritik sehr selten oder erscheint als nahezu unmöglich. Jede Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen von der Wurzel her stellt letztlich auch jeden Einzelnen in Frage, der dann das Gefühl hat, man wolle ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Da auch die Grenzlinien zwischen Gesellschaft und Kirche kaum auszumachen sind, eine klarere Abgrenzung auch gar nicht von der Mehrheit der Gläubigen gewünscht würde, hat die (evangelische und katholische) Kirche die Kraft verloren, Alternativen aufzuzeigen oder gar Widerstand zuu leisten und prophetische Kritik zu üben. Eine Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Kontext wird noch erschwert durch die Auffassung, dass eine solche Arbeit bzw. Beschäftigung und Auseinandersetzung mit wirtschaftspolitischen Fragen nichts mit dem persönlichen Glauben zu tun habe bzw. nicht zum Auftrag der Kirche gehöre.

In der Partnerschaft zwischen einer reichen und armen Gemeinde erfahren aber die in der Partnerschaft Engagierten, dass Alternativen möglich sind. Wenn sie sich auf die Geschichte der Armen einlassen, entdecken sie, dass selbst jahrhundertlange Unterdrückung und gewaltsame Integration in ein materialistisches und gottloses System Menschen nicht davon abhalten kann, den Aufbruch und den Auszug zu wagen. Es ist für die peruanische Gemeinden leichter aufzubrechen als für deutsche Gemeinden. Partnerschaft heißt in diesem Zusammenhang auch, die eigene Ohnmacht zu erkennen und sich von den scheinbar Schwächeren an der Hand nehmen zu lassen. Es ist keine Schande, sich von den Armen die Geschichte Gottes mit den Menschen erzählen zu lassen. Sie sind es doch, denen Gott besonders nahe steht (und umgekehrt) und mit ihnen gehen dürfen heißt, die Einladung Gottes anzunehmen und den Weg Gottes zu gehen. Es sind die „Hirten auf dem Felde“ (die Indios, Ausgegrenzten) denen sich der Himmel öffnete und denen zuerst die Botschaft von Jesus dem Messias verkündet wurde.

Deutsche Gemeinden, die sich den Standpunkt ihrer Partner zu eigen machen, werden von dem neu gewonnenen Standpunkt aus ebenfalls „den Himmel schauen“ können. Dies wird nicht möglich sein, wenn sie weiterhin eingeschlossen bleiben in einem goldenen Käfig. Wer in diesem Käfig eingeschlossen bleibt, wird nur sehr schwer das Wort Gottes, das von außerhalb kommt, hören können. Begegnungen mit den Opfern der Geschichte können zum Schlüssel werden, um diesen Käfig zu verlassen und Gott auf der Seite der Armen zu entdecken.

Für deutsche Gemeinden und die deutsche Kirche bedeutet dieser Weg, auf vieles zu verzichten. Doch bei genauerem Hinsehen (und Ausprobieren) wird man erfahren, dass es nur Ballast war, den man weggeworfen hat und nun frei ist, ohne Rücksicht auf Privilegien das Wort Got- tes zu verkünden. Eine Partnerschaft mit einer armen Gemeinde erleichtert den Aufbruch. Sie macht Umkehr möglich bzw. sie ist der erste Schritt zur Umkehr. Eine Partnerschaft ist eine praktische und praktikable Option für die Armen und mit den Armen. Sie ist Kirchen bildend, weil sie Einheit (mit den Ausgegrenzten und daher mit Jesus) stiftet.
Sie ist so das Sakrament einer wahrhaft katholischen Kirche.

Epilog

Nach den in den Welt herrschenden Maßstäben stehen deutsche Gemeinden eher im Lichte, die Partnergemeinden und mit ihnen die Mehrheit der Menschheit, stehen im Schatten. Doch in diese Nacht hinein wurde Jesus geboren. Der Himmel öffnete sich, ein Licht erhellte die Nacht und die Armen fanden den Weg. Der Stern über der Hütte erleuchtete die Nacht. Die Frommen und Mächtigen in Jerusalem konnten diesen Stern nicht sehen, denn sie ergötzten sich an ihrem eigenen Licht.
Deutsche Partnergruppen gleichen den Weisen aus dem Morgenland, die aus ihrer Heimat aufbrechen und - geleitet von dem Stern über der Hütte - sich auf den Weg zu Jesus machen. Ihr Weg führt zuerst über Jerusalem, doch dort weiß man von nichts. Dennoch finden sie Jesus in der Hütte, weil sie sich von dem Stern führen lassen. Reich beschenkt kehren sie zurück. Weil sie Jesus in der Hütte gesehen und sie die Stimme Gottes gehört haben, finden sie den Weg in die Heimat und zu sich selbst - ohne in Jerusalem zuvor um den Weg gefragt zu haben.


Anmmerkungen

(1) Die akademische und nur scheinbar wissenschaftliche Frage, ob die Theologie der Befreiung „tot“ sei, weil ja der Ost - West - Konflikt nicht mehr bestehe, ist ein Hinweis auf das Niveau der Diskussion innerhalb der deutschen Theologie und im „Bildungsbürgertum“. Ausgangspunkt der Theologie der Befreiung war und ist die Situation der 2/3 der Menschheit, deren Situation „zum Himmel schreit“. Schon vor über 3.000 Jahren haben solche Menschen erfahren, dass der Gott des Lebens sich ihrer erbarmt und sie aus der Sklaverei führt. Diese Situation - bei allem veränderten Kontext - besteht fort und ist heute drängender denn je. Wer an diesen Gott nicht mehr glauben kann, soll sagen, an was er sein Herz wirklich hängt.
Diese theologische Grundoption hat sich nicht verändert. Die Theologie der Befreiung ist nicht irgendeine „Modetheologie“, sie ist vielmehr eine Abkehr von der Theologie der abendländischen Christenheit, die im Kontext der „Sieger“ (Eroberer) formuliert und verkündet wurde. Sie ist eine Umkehr zu den biblischen Wurzeln und entstanden aus dem Glauben der Ausgegrenzten (der Opfer) an einen befreienden Gott. Sie ist nicht ohne Irrtü- mer, und sie braucht Unterstützung - aber keine Belehrungen „ex catedra“. Es ist nicht die Schuld der Ausgegrenzten, wenn sie von üppig ausgestatteten Theologiemaschinerien nicht verstanden werden bzw. sie nicht in deren vor gestanzten Formate passt. Wie kann man theologisch vorgeben, die Stimme der Armen zu hören (den Ruf Gottes), wenn die Armen, mit denen sich Jesus Christus identifiziert, selbst nicht als Subjekte in dieser Theologie vorkommen? Und wie christlich (von Jesus Christus her entwickelt) ist eine solche Theologie - und noch schlimmer: die daraus resultierende Praxis?