Die Dokumente von Medellín und ihre Bedeutung für die Zukunft einer erneuerten Kirche
Fazit: Ohne Umkehr läuft die Kirche Gefahr, zum nützlichen Idioten des herrschenden Götzendienstes zu werden. Stattdessen: Eine prophetische Kirche, die die „Strukturen der Sünde“ als solche benennt, sie anklagt und das verkündet, was auch das Grundanliegen Jesu ist: das Reich Gottes ist nahe! Ein gutes Leben für alle im Rahmen der planetarischen Grenzen. Das sakramentale Zeichen dafür ist die Feier der Eucharistie: Danksagung - Brotteilen - zeichenhafte Vorwegnahme der Gemeinschaft aller mit Gott.
Schon Karl Rahner sagte, dass das II. Vatikanum die “Enteuropäisierung” der Kirche und die Öffnung auf eine wahrhaft katholische Kirche bedeutete. Doch erst Medellín konnte diesen Schritt wagen und die “konstantinische Allianz” (M.-D. Chenu) mit der Macht gebrochen werden. Medellín öffnete den Weg hin zu einer Kirche auf der Seite der Ohnmächtigen, inkarniert in die Welt der Armen und als Begleiterin des Volkes auf seinem Weg der Befreiung.
Und mit Papst Franziskus, der vom äußersten Rand der Welt kommt (nicht nur geographisch), kann es gelingen, der Kirche ein neues Gesicht zu geben, um so den unerschöpflichen Reichtum des Evangeliums neu zu entdecken. Wir müssen nur noch die uns gereichte Hand ergreifen...!
Vor 50 Jahren, vom 26. 8 bis 08. 9. 1968, fand in Medellín, Kolumbien, die 2. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas statt. Die dort gefassten Beschlüsse gelten als die bisher wichtigsten Texte der Kirche in Lateinamerika und der katholischen Kirche weltweit.
Es ist ein fundamentales Vermächtnis von Medellín, eine Kirche der Armen, ebenso eine Kirche im Dienste der Menschen, besonders der „Bedrängten aller Art“ und eine „österliche Kirche“ zu werden. Aus diesem Anlass und unter diesem Motto fand das diesjährige Treffen der Fidei-Donum-Priester[1] in Medellín statt. Eingeladen als Referenten waren vier kolumbianische Theolog*innen. Neben den Priestern nahmen sechs Laientheolog*innen teil. Als der erste Laientheologe im missionarischen Dienst (1976) werde ich regelmäßig zu den Treffen eingeladen, diesmal auch als Referent.
I. Die Dokumente von Medellín (beispielhafte Auszüge)
Die Dokumente von Medellín können als “Gründungsakt” der lateinamerikanischen Kirche gedeutet werden. Sie bilden die “Magna Charta” der Kirche Lateinamerikas. Denn sie haben als Ausgangspunkt - neben dem Evangelium - die konkrete Situation vor Ort und die Kulturen der Völker Lateinamerikas.
Kap. 1, Gerechtigkeit: Über die Situation des lateinamerikanischen Menschen gibt es viele Studien. In allen wird das Elend beschrieben, viele Menschen in Randzonen des Gemeinschaftslebens drängt. Dieses Elend als Massenerscheinung ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit.
Die lateinamerikanische Kirche hat eine Botschaft für alle Menschen, die in diesem Kontinent „Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit“ haben. Derselbe Gott, der den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schafft, hat die „Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter allen zustattenkommen“.
Wir möchten unterstreichen, dass die Hauptschuldigen der wirtschaftlichen Abhängigkeit unserer Länder jene Kräfte sind, die, angetrieben von einem hemmungslosen Gewinnstreben, zu einer wirtschaftlichen Diktatur und zum „internationalen Geldimperialismus“ führen, den schon Pius XI. in „Quadragesimo anno“ und Paul VI. in „Populorum progressio“ verurteilten. Wir klagen hier den Imperialismus jedweder Prägung an, der in Lateinamerika in indirekter Form bis hin zu direkten Interventionen ausgeübt wird.
Kap. 2, Frieden:Der Frieden ist vor allem Werk der Gerechtigkeit. Er setzt voraus und erfordert die Errichtung einer gerechten Ordnung, in der sich die Menschen als Menschen verwirklichen können, in der ihre Würde geachtet wird, ihre legitimen Erwartungen befriedigt werden und ihre persönliche Freiheit garantiert wird. Eine Ordnung, in der die Menschen nicht Objekte, sondern Träger ihrer eigenen Geschichte sein sollen. Wo es ungerechte Ungleichheiten zwischen Menschen und Nationen gibt, wird gegen den Frieden verstoßen.
Der Friede mit Gott ist das tiefste Fundament des inneren Friedens und des sozialen Friedens. Darum wird überall dort, wo dieser soziale Friede nicht existiert, überall dort, wo man ungerechte soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten findet, die Friedensgabe des Herrn, mehr noch, der Herr selbst zurückgewiesen.
Kap. 14, Die Armut der Kirche:Wir Bischöfe dürfen angesichts der ungeheuren Ungerechtigkeiten in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben; Ungerechtigkeiten, die die Mehrheit unserer Völker in einer schmerzhaften Armut halten, die in sehr vielen Fällen an unmenschliches Elend grenzt. Es erhebt sich ein stummer Schrei von Millionen von Menschen, die von ihren Hirten eine Befreiung erbitten, die ihnen von keiner Seite gewährt wird.
Die gegenwärtige Situation fordert von uns allen den Geist der Armut, der die Fesseln des egoistischen Besitzes der irdischen Güter sprengend, den Christen ermuntert, die Wirtschaft und die Macht in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Die Armut der Kirche und ihrer Mitglieder muss Zeichen und Verpflichtung sein, Zeichen des unschätzbaren Wertes des Armen in den Augen Gottes, und Verpflichtung zur Solidarität mit denen, die leiden.
Kap. 15, Christliche Basisgemeinschaften: Die christliche Basisgemeinschaft ist die Kernzelle kirchlicher Strukturierung und Quelle der Evangelisierung. Wichtigstes Element für die Existenz von Basisgemeinschaften sind ihre Leiter und Führungskräfte. Diese können Priester, Ordensleute oder Laien sein. Leiter zu finden und zu bilden, muss vordringlichstes Ziel der Pfarrer und Bischöfe sein, die sich immer vergegenwärtigen sollen, dass die geistige und moralische Reife zum großen Teil von der Übernahme der Verantwortungen in einem Klima der Selbstbestimmung abhängt. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften, „würdig der Berufung, die sie empfangen haben, sollen die Ämter, die Gott ihnen anvertraut hat, ausüben: Das priesterliche, das prophetische und das königliche Amt“, und auf diese Weise ihre Gemeinschaft „zum Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt“ machen.
III. Die Bedeutung von Medellín – ein Pfingsten für die Kirche in LA (aus den gehaltenen Vorträgen)
In den Vorträgen wurden stets die oben genannten Kapitel herausgehoben: Gerechtigkeit – Frieden – Armut der Kirche und Basisgemeinschaften als Ort gelebter Gemeinschaft. Die Bischöfe brachen in Medellín mit den bisherigen Paradigmen einer europäisch-römischen (Regional-) Kirche, obwohl sie selbst in einer solchen Kirche groß geworden sind. Aber in der Begegnung mit den Ärmsten haben sie deren “Schrei nach dem täglichen Brot und nach Gerechtigkeit” gehört. Dieses Hören und als Folge davon das Eintauchen in deren Welt, hat sie die eigentliche Botschaft Jesu entdecken lassen. Sie wechselten ihren Standort, ihre Perspektive: Nicht mehr die Heilige Allianz von Thron und Altar, von der Seite der Macht und der Mächtigen auf die Seite der Ohnmächtigen; weniger pompöser Kult als vielmehr Einsatz für ein Leben in Würde vor allem für diejenigen, denen man diese Würde vorenthält oder derer man sie gar beraubt; weniger das Seelenheil Einzelner als vielmehr die Befreiung des Volkes aus der Knechtschaft. “Wir sind schließlich die Nachfolger einfacher Fischer aus Galiläa” (Bischof José Dammert, Cajamarca, Peru).
Ein Schlüsselwort heißt “Götzendienst”. Nicht der Atheismus, wie im Konzil und auch heute wieder hervorgehoben wird, ist das Hauptproblem, sondern der Götzendienst. “Ihr Gott ist das Geld, und die Gier nach immer mehr Besitz und Macht ist das Erste Gebot. So werden immer mehr Dinge produziert, doch immer mehr Menschen werden ausgegrenzt; Nahrungsmittel werden im Überschuss produziert und verschleudert, aber immer mehr Menschen hungern. Die Erde wird zur Wüste.… Diese falschen Propheten des Unheils gilt es als solche zu entlarven, denn sie führen die Welt in den Abgrund. Der Tanz um das Goldene Kalb wird zum Totentanzfür Mensch und Natur“ (Aus: Der Friede - das Werk der Gerechtigkeit, in „Der geteilte Mantel“, 2011).
Als neue Herausforderungen, die in Medellín (fast) noch keine Rolle spielten, wurden genannt:
- Der Schrei der gequälten Mutter Erde
- Die Rolle der Frauen (Gender und Sexualität)
- Zunehmende Migration (Raub der Lebensgrundlagen, Vertreibung, Gewalt, Extraktivismus
- Neokoloniale Strukturen (in verschärfter Form), beschleunigt u.a. durch die Digitalisierung.
- Die tausendjährigen Erfahrungen der indigenen Völker (Cosmovision andina – Buen vivir)
Ohne Umkehr läuft die Kirche Gefahr, zum nützlichen Idioten des herrschenden Götzendienstes zu werden. Stattdessen: Eine prophetische Kirche, die die „Strukturen der Sünde“ als solche benennt, sie anklagt und das verkündet, was auch das Grundanliegen Jesu ist: das Reich Gottes ist nahe! Ein gutes Leben für alle im Rahmen der planetarischen Grenzen. Das sakramentale Zeichen dafür ist die Eucharistie: Danksagung - Brotteilen - zeichenhafte Vorwegnahme der Gemeinschaft aller mit Gott.
Schon Karl Rahner sagte, dass das II. Vatikanum die “Enteuropäisierung” der Kirche und die Öffnung auf eine wahrhaft katholische Kirche bedeutete. Doch erst Medellín konnte diesen Schritt wagen und die “konstantinische Allianz” (M.-D. Chenu) mit der Macht gebrochen werden. Medellín öffnete den Weg hin zu einer Kirche auf der Seite der Ohnmächtigen, inkarniert in die Welt der Armen und als Begleiterin des Volkes auf seinem Weg der Befreiung.
Und mit Papst Franziskus, der vom äußersten Rand der Welt kommt (nicht nur geographisch), kann es gelingen, der Kirche ein neues Gesicht zu geben, um so den unerschöpflichen Reichtum des Evangeliums neu zu entdecken. Wir müssen nur noch die uns gereichte Hand ergreifen...!
Oscar Romero: “Lasst uns anstrengen, dass wir alles, was das Konzil und Medellín angestoßen haben, wir nicht nur lesen und theoretisch diskutieren, sondern dass wir es leben und es übersetzen in diese unsere so konfliktreiche Realität hinein” (Predigt am 23. März 1980, am Tag vor seiner Ermordung).
Willi Knecht, zur Veröffentlichung in "Der geteilte Mantel" dem weltkirchlichen Magazin der Diözese Rottenburg-Stuttgart (erscheint ab 1. Juli 2018)
[1] In der Enzyklika „Fidei Donum“ von Papst Pius XII. (21.4.1957) und im II. Vat. Konzil (LG 23) wurde die Verantwortung der Bischöfe für die Weltkirche herausgestellt und angemahnt. Von Emil Stehle, Geschäftsführer von Adveniat, stammt die Idee, die in Lateinamerika tätigen Weltpriester nach dem Rundschreiben von Pius XII. nun „Fidei-Donum-Priester“ zu nennen. Die Diözese Rottenburg entsandte 1966 die ersten Fidei-Donum-Priester nach Argentinien, Gerhard Vogt und Josef Majer.