Frieden und Versöhnung
Die bundesweite Eröffnung der Adveniat-Jahresaktion 2015 fand am 29. November in Stuttgart statt. Das Thema der diesjährigen Jahresaktion lautet: „Frieden jetzt!“. Eingeladen hatte die Diözese Rottenburg-Stuttgart. Aus diese Anlass fand am Tag vorher im „Haus der katholischen Kirche“ eine Fachtagung statt, zu der Adveniat und die Diözese eingeladen haben. Als Gäste wirkten u.a. der Vorsitzende der kolumbianischen Bischofskonferenz und der nationalen Versöhnungskommission, Bischof Luis Augusto Castro und Bischof Julio Cabrera aus Guatemala mit, langjähriger Partner der Diözese Rottenburg-Stuttgart und in Guatemala entscheidend an der Versöhnungsarbeit in Guatemala beteiligt. Den Gastvortrag hielt Prof. Justenhoven. Die Bürgerkriegsländer Kolumbien (seit 1948) und Guatemala (1954 -1996, einschließlich Genozid in den 80er Jahren) standen im Mittelpunkt der Jahresaktion.
Über Geschichte und Gegenwart dieser Länder kann man – wenn man will – heute fast alles aus dem Netz abrufen. Ursachenforschung, Analysen, Deutungen, reine (?) Fakten, Folgen usw. – alles ist „abrufbar“. Doch warum soll man das alles wissen wollen? Was geht das uns an? Und vor allem: Was hat dies mit Umkehr, Beginn der Herrschaft Gottes, kurz: mit dem Glauben an Jesus den Christus zu tun? Zum Wissen: Kolumbien war bis zum Ausbruch des „Arabischen Frühlings“ das Land , das weltweit die meisten Binnenflüchtlinge hatte, zuletzt noch (2015) über 4 Millionen. Die Hälfte der Bevölkerung war und ist direkt oder indirekt (Familienangehörige) zum Opfer von Gewalt geworden.
Doch allein das „Wissen“ führt nicht zu Veränderung. Es kommt auf die Haltung an, auf den Standort, den Standpunkt. Aus welcher Perspektive und aus welchem Interesse deutet man z.B. die Zahlen und Fakten aus Kolumbien, Guatemala oder allgemein all das, was in der Welt geschieht? War z.B. der Krieg gegen die Mayas mit hunderttausenden Toten ein notwendiger Kampf für den Erhalt der „Werte der westlichen Welt“, für unsere Freiheit und für die Demokratie? Oder sind alle diese „Werte“ vielmehr auf einer Lüge aufgebaut? Welcher Mythos liegt ihnen zu Grunde“? Auf welchen Werten beruht ein Wirtschafts- und Gesellschaftmodell, das wohlwissend den Hungertod von Millionen Menschen Jahr für Jahr in Kauf nimmt, damit Reiche immer reicher werden und wir Früchte und Fleisch aus aller Welt zu Schleuderpreisen auf unseren eh schon reichlich gedeckten Tischen aufhäufen können?
Es waren getaufte Christen, die diese so eingerichtete Weltordnung (mindestens seit 500 Jahren) geschaffen haben, auf Kosten der Auslöschung ganzer Völker und Kulturen (Kolonisierung, Conquista, Sklaverei, usw.). Welchen Wert hatte und hat wohl eine solche Taufe?
Wir als Christen haben „eigentlich“ einen Standpunkt. Der erste Schritt zur Umkehr wäre die Einsicht in das eigene moralische bzw. weltanschauliche Koordinatensystem – das bedeutet: in die eigene möglicherweise falsche Kosmovision. Die Worte Jesu, seine Worte und Taten, und unserer Berufung in die Nachfolge Jesu (Taufe als Neu -Werden) ermöglichen Katharsis („Reinigung“) und Umkehr. Die Jünger*innen Jesu sind die neuen Menschen, die sich an dem neuen Wertesystem orientieren. Das bedeutet, sich für ein menschliches Zusammenleben und eine Gesellschaftsordnung einzusetzen, in der die Werte des Evangeliums zumindest nicht ständig und systembedingt mit Füßen getreten werden. (Siehe dazu u.a. „Die Sünde der Welt“ (Röm 8), der alte Mensch - der neue Mensch).
Zurück zur Fachtagung und zum Thema Versöhnung und „Frieden jetzt“: Kann ein Opfer schwerster Gewalt dem Täter je vergeben – und wenn ja, wie? Es liegt allein am Opfer selbst, ob er vergeben kann, vergeben will und wie er vergibt. Das ist seine freie Entscheidung, sie muss freiwillig sein. Es gibt keinen Zwang zum Vergebenmüssen. Erstrecht können das nicht Menschen, die selbst nie Opfer von Gewalt waren bzw. die sich allein aufgrund z.B. einer Weihe in besonderer Weise berufen fühlen, von den Opfern einfordern. Im Glauben an die „größere Liebe Gottes“, im Nachvollzug der Hingabe Jesu an die bedrängten Menschen und als Gnadengeschenk kann Vergebung aber vom Opfer verstanden werden und dann auch geschehen. (Damit soll nicht gesagt sein, dass man in diesem Sinne gläubig sein muss, um wirklich vergeben zu können).
Man kann unterscheiden (eher nur theoretisch….) zwischen einer Versöhnung um der Wahrheit willen und einer Versöhnung um der Gerechtigkeit willen. Eine wahrheitsgerechte Versöhnung, kann auch von Außenstehenden angeregt werden, indem man die Täter und Opfer an einen Tisch bringt. Hier gilt es vor allem, aber nicht nur, um Fakten. Am Ende kommt es dann meist zu einer Amnestie der Täter, gewissermaßen zu einem Tauschhandel. Die Täter räumen ihre Taten ein und erhalten dafür Straffreiheit – aber ohne notwendigerweise ihre Schuld wirklich einzusehen. Sie halten an ihrem alten Weltbild fest, was eine weitere Verhöhnung und Beleidigung für die Opfer darstellt.
Voraussetzung für eine echte Versöhnung ist, dass der Täter bekennt, dass er Teil des Systems war, das Menschen systematisch um ihr Leben gebracht hat. Und dass er durch sein Mitwirken (oder auch nur Angepasstsein) persönliche Schuld auf sich geladen hat. Eine Versöhnung um der Gerechtigkeit willen erfordert Sühne und Bestrafung, wenn auch nicht notwendigerweise. Ein solcher Versöhnungsprozess kommt in Gang, wenn die Ungerechtigkeiten und Verbrechen aufgedeckt werden. Die Opfer müssen ihre Geschichten erzählen und über ihr Leiden sprechen dürfen. Sie sind die Subjekte. (Zur sogenannten „Theologie der Versöhnung“, in der Opfer und Täter auf eine gleiche Ebene gestellt werden ohne über die Schuld der Täter zu sprechen, in einem weiteren Beitrag).
Leben wir nicht auch mit einer Systemlüge? Wir sind schuldig, ohne es (noch) wahrhaben zu wollen?
Es gab und gibt Menschen, die wirklich glaubten, dass weiße Menschen wertvoller sind als schwarze Menschen, germanische Völker allen anderen haushoch überlegen sind, usw. Oder in harmloserer Form: Dass das Gesellschaftssystem der DDR die Spitze der Menschlichkeit darstellte. Glaubten nicht auch viele gutgläubige und tief überzeugte Christen, dass es für die Afrikaner und Ureinwohner Amerikas eine Segen war, dass sie erst durch ihre Unterwerfung zum Christentum bekehrt wurden, weil sie nur so gerettet werden konnten? Dafür müssten sie eigentlich dankbar sein! Das glaubte auch noch seine Heiligkeit, als sie 2007 von Rom nach Brasilien (Aparecida) reiste.
Leben wir nicht auch mit einer Systemlüge? Wir sind schuldig, ohne es (schon) wahrhaben zu wollen?
Wie werden künftige Generationen über unsere nun zu Ende gehende Epoche urteilen, über unser moralisches Koordinaten- und Wertesystem? Wir alle ahnen oder wissen gar, dass es nicht so weitergehen kann: Es gibt kein unbegrenztes Wachstum auf einer begrenzten Erde. Eine primär (ausschließlich?) auf Vermehrung des Kapitals ausgerichtete Gesellschafts- und Wirtschaftsform wie der Kapitalismus kann aber ohne Wachstum (wie es heute noch verstanden wird) nicht existieren. Wir laufen Gefahr, unseren Enkeln eine verwüstete Erde zu hinterlassen. Wir nehmen in Kauf, dass auf der Jagd nach dem „immer mehr“ unsere „Seelen“ und das menschliche Zusammenleben in Solidarität und Gerechtigkeit zerstört werden. Und dies, obwohl heute im Unterschied zu vergangenen Zeiten, für alle Menschen ein Leben in Würde möglich wäre (ausreichende Ernährung, Zugang zu Bildung, Krankenheilung, usw.). Und unsere Nachkommen werden fragen: Warum wolltet ihr nicht sehen und hören, warum habt ihr geschwiegen und warum habt ihr keinen Widerstand geleistet? Es wird sicherlich noch manche Jahrzehnte dauern, bis sich die Überzeugung durchsetzen wird, dass die Menschheit die falschen Götter angebetet hat.
Die Einsicht in die von Europa ausgehende falsche Kosmovision mit ihren vielen Opfern wäre die Voraussetzung für eine Umkehr, für Versöhnung und für einen globalen Neuanfang (der im lokalen beginnt). Wir Christen haben die entsprechende Botschaft, auch immer wieder konkrete Beispiele einer befreienden Praxis. In der Runde fragte ich, ob diese Art von Umkehr und anstehender Versöhnungsarbeit nicht eine der zentralen Aufgaben und Herausforderungen von Theologie und Kirche wäre. Die Antwort von Prof. Justenhoven. „Das muss man so sehen. Da stehen wir aber erst völlig am Anfang!“
PS: Der Präsident der kolumbianischen Bischofskonferenz (ein Kompromisskandidat zwischen fundamentalistischen Ultras und jüngeren, offeneren Bischöfen) sprach von dem Problem der Rückführung der Binnenflüchtlinge in ihre alte Heimat, nach dem Friedensabkommen. Denn ihr bisheriges Land, wofür sie keine Eigentumstitel hatten, ist nun in der Hand von neuen Eigentümern (u.a. Konzerne, etc.) und da könne man als Kirche nicht daran rütteln. Ich schlug vor, an die kath. Soziallehre zu erinnern: „Die Erde ist uns nur geliehen. Sie ist geschaffen, dass alle Kinder der Erde, Anteil an ihren Früchten haben. Das absolute und unbeschränkte Recht auf Befriedigung fundamentaler menschlicher Bedürfnisse für alle steht über dem Recht auf maßlose Aneignung Einzelner auf Kosten des Volkes. Dies ist für uns als Christen und als Kirche nicht verhandelbar!“
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Am darauffolgenden Sonntag, der feierlichen Eröffnung der Adveniat-Jahresaktion, formulierten und sprachen Vertreter von kirchlichen Partnergemeinden die Fürbitten. Für die Kirchengemeinde St. Georg in Ulm habe ich folgende Fürbitte vorgetragen:
„In der Partnerschaft mit Campesino-Gemeinschaften in San Pedro, Cajamarca, hören und erfahren wir, was Gottes Botschaft heute für uns und diese Welt bedeutet. Wenn wir uns mit ihnen auf den Weg machen, können wir lernen, Auswege aus unserer Gefangenschaft im „Goldenen Käfig“ zu finden. Wir lernen, die Bibel und die Welt - Wirtschaft und Politik - mit den Augen derer zu betrachten und zu deuten, die ausgeschlossen werden. Diese neue Perspektive hilft uns, im gekreuzigten Mitmenschen Jesus dem Christus zu begegnen und ihm zu folgen. Wenn wir das Brot mit denen teilen, denen das tägliche Brot vorenthalten oder gar geraubt wird, werden wir als Gemeinschaft der Gläubigen zu einem Zeichen des Heils für diese Welt werden.
Als Zeichen der Partnerschaft bringen wir einen Poncho und einen Sombrero, beides das Symbol einer einheimischen Kirche („una Iglesia de poncho y sombrero“), in deren Mittelpunkt diejenigen stehen, mit denen Jesus Christus sich vorrangig identifiziert. Die Kirche von Cajamarca in Peru versteht sich seit 1962 als eine Kirche mit und inmitten der Armen.
Herr des Lebens, wir bitten dich: Gib uns den Mut und die Kraft, Jesus Christus zu folgen, um so zum Brot des Lebens für andere und für die ganze Welt zu werden.“