Mein Vortrag am 13. April in Medellín

Vor 50 Jahren, vom 26. 8 - 08. 9. 1968, fand in Medellín, Kolumbien, die 2. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas statt. Die dort gefassten Beschlüsse gelten als die bisher wichtigsten Texte der Kirche in Lateinamerika und der katholischen Kirche weltweit. Es ist ein fundamentales Vermächtnis von Medellín, eine Kirche der Armen, ebenso eine Kirche im Dienste der Menschen, besonders der „Bedrängten aller Art“ und eine „österliche Kirche“ zu werden. Aus diesem Anlass und unter diesem Motto fand das diesjährige Treffen der Fidei-Donum-Priester* in Medellín statt. Eingeladen als Referenten waren vier kolumbianische Theolog*innen. Neben den Priestern nahmen sechs Laientheolog*innen teil. Als der erste Laientheologe im missionarischen Dienst (1976) werde ich regelmäßig zu den Treffen eingeladen, diesmal auch als Referent.

Lateinamerikanische Kirchenhistoriker bezeichnen die Zeit von 1965 – 68 als die Periode, in der in so kurzer Zeit auf kontinentaler Ebene so wie nie zuvor so viele Bewegungen entstanden sind (Priester und Laien), die alle ein Ziel hatten: 

a) Hören und sehen, was die Menschen bewegt, worunter sie leiden und worauf sie hoffen, 

b) dies analysieren und im Lichte des Evangeliums neu deuten und 

c) Folgerungen für die Theologie, vor allem aber für die praktische Pastoral zu ziehen. Soziokulturelle und sozioökonomische Studien sollten helfen, die Zeichen der Zeit – und letztlich das Evangelium – besser oder gar neu verstehen zu können und ein neues Bewusstsein für eine notwendige Veränderung zu schaffen.

Seit den Vierzigerjahren gab es Priester und Laien, die sich mit den unterdrückten Volksmassen vertraut machten, das schreckliche Unrecht anprangerten, deren Opfer diese Menschen waren, und im Sinne ihrer gesellschaftlichen Emanzipation arbeiteten. Von diesen Priestern wurden einige Bischöfe. Zu jener Zeit begegnete man Priestern, die sich für gesellschaftliche Fragen engagierten, noch nicht mit Misstrauen: Sie konnten sogar Bischöfe werden, selbst wenn sie dieses Amt in keiner Weise herbeisehnten. So bildete sich eine Gruppe von Bischöfen heraus, die inmitten der Armen lebten und eine erneuerte christliche Botschaft für Lateinamerika verwirklichten. Dank der Gründung des CELAM (lateinamerikanischer Bischofsrat) im Jahr 1955 hatten diese Bischöfe die Gelegenheit, einander kennenzulernen, Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. 

Und darüber hinaus hatte jeder einzelne von ihnen Gruppen von Priestern, Ordensleuten und Laien zur Seite. Das Haupt und Bindeglied der Gruppe war Manuel Larraín, der Bischof von Talca in Chile, der zusammen mit Dom Hélder Câmara den CELAM gründete. Er wurde nur deshalb nicht Erzbischof von Santiago, weil die gesamte chilenische Aristokratie dagegen opponierte. Doch er war der Vordenker der Bischofskonferenz. Er traf sich mit Dom Hélder Câmara, in dem er sofort eine außergewöhnliche Persönlichkeit erkannte. Zusammen schufen sie den CELAM, spielten eine wichtige Rolle auf dem Konzil, vor allem auf dessen Fluren und innerhalb des lateinamerikanischen Episkopates. Sie beide bereiteten die Zweite Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín vor. Neben Manuel Larraín und Hélder Câmara spielte eine Gruppe von Bischöfen eine herausragende Rolle, die die lateinamerikanische Kirche als eigene Entität gründete. Erwähnt werden müssen hier (nach: José Comblin: „Lateinamerikas Kirchenväter“): Leonidas Proaño aus Riobamba (Ecuador), der Bischof der Indios; Samuel Ruiz aus San Cristóbal de las Casas (Mexiko), ebenfalls Bischof der Indios; Gerardo Valencia Cano aus Buenaventura (Kolumbien); José Dammert aus Cajamarca (Peru), der Reformator der gesamten peruanischen Kirche; Ramón Bogarin aus San Juan Bautista de las Misiones (Paraguay); Sergio Méndez Arceo aus Cuernavaca (Mexiko); Cândido Padín aus Bauru (Brasilien); Santiago Benitez aus Asunción (Paraguay); Pironio aus La Plata (Argentinien); Marcos McGrath aus Panama-Stadt. Dies waren die herausragendsten Führungsgestalten.

Zu Dammert: Im Beispiel seiner Eltern (seine Mutter war u.a. die Gründerin der Acción Católica für Frauen in Peru) liegt der Ursprung seiner Option für die Armen. Diese Haltung wurde entscheidend beeinflusst und vertieft durch die Lektüre sämtlicher Schriften von und über Charles de Foucauld, mit deren Lektüre er bereits im Alter von 15 Jahren begann. Schon in seiner Jugend wuchs in ihm die Vorstellung von einer Kirche auf der Seite der Armen. Und im Geiste von Charles de Foucauld war es für ihn selbstverständlich, dass dies glaubwürdig nur geschehen kann, wenn die Kirche selbst arm ist und auf Reichtümer und Macht verzichtet. (Foto von 1962, im Archiv der Diözese Essen). Diese Armut lebte er als Bischof vor, sei es im Verzicht auf persönlichen Besitz, sei es, dass er den Besitz der Diözese den Armen zugänglich machte. So galt er schon als Weihbischof von Lima nicht nur als Bischof der Armen, sondern als ein „armer Bischof“, der keinen Wert auf Äußerlichkeiten legte.

Auf seine Initiative hin fand vom 1.-9. August 1959 in Lima die erste Sozialwoche Perus statt. Zusammen mit Fachleuten machte er sich Gedanken, welche Aufgaben die Kirche angesichts des zunehmenden Elends des Volkes hat. Schon damals erhob er seine Stimme zu Gunsten der Armen und Rechtlosen: „Während wir unsere Kräfte damit vergeuden, den äußeren Prunk für den Kult zu vermehren, leiden viele Kinder Gottes um uns herum an Hunger, Krankheiten und Elend. Der Prunk ist nicht vereinbar mit dem gleichzeitigen Elend des Volkes. Wir müssen verstehen, dass das Christentum den ganzen Menschen betrifft. Wir können das Leben der Frömmigkeit nicht trennen vom alltäglichen Leben. Jemand ist nicht dann ein guter Christ, wenn er zwar täglich die Sakramente empfängt, aber nicht für soziale Gerechtigkeit eintritt“. Als Weihbischof von Lima hatte er als erster Bischof mit Sandalen und zu Fuß die neu entstehenden Elendsviertel besucht und stieß damit beim älteren Klerus auf wenig Verständnis. Er trug keine Insignien bischöflicher Macht, nur einige Male konnte er es nicht vermeiden, die Mitra aufsetzen zu müssen, das „Zeichen der Pharaonen“, wie er sie nannte. Ein bischöfliches Wappen lehnte er ab, weil die Zeit der Kreuzzüge vorbei sei. „Einer Situation des Elends gegenüber müssen wir ein Zeugnis tatsächlicher Armut ablegen. Wir Kleriker müssen herausragen aufgrund einer Askese der Armut und wir müssen der Gesellschaft ein Beispiel für die Verwirklichung von großen Werken geben, ohne viel Geld dafür auszugeben. Wir wollen uns vergleichen mit staatlichen Stellen und Institutionen durch den äußeren Anschein von Büros, durch eine Multiplizierung der Versammlungen und Reisen, ohne deren tatsächliche Wichtigkeit zu evaluieren. Wir geben den Anschein, reich zu sein, aber in Wirklichkeit sind wir arm, wenn wir die bischöfliche Würde mit sozialem Prestige oder äußerem Pomp verwechseln. Denn wir sind Nachfolger von einigen armen Fischern aus Galiläa“.

A) Das Konzil:

In Zentrum standen (noch) die Themen und Sorgen der westeuropäischen Länder. Bischöfe und Theologen aus Deutschland, Holland, Frankreich und Belgien bestimmten weitgehend Tagesordnung und Thematik. Selbst in „Gaudium et Spes“ dem wohl am meisten in die Zukunft weisenden Dokument, spielt die Situation in den „unterentwickelten“ Ländern keine oder kaum eine Rolle. Man öffnet sich zwar der Welt, doch man meint die Welt der höchst entwickelten Länder, die Welt der liberalen und modernen Gesellschaften. Die Kirche suchte auf dem Konzil mit diesen Gesellschaften „Frieden“ zu schließen, bzw. sich zu versöhnen. Die Autonomie des „Weltlichen“ und die Religionsfreiheit wurden anerkannt, der Dialog mit den Religionen begann. Als großes Problem wird der zunehmende Atheismus gesehen. Doch das Thema, das Papst Johannes XXIII. vor Eröffnung des Konzils angesprochen hatte, eine Kirche der Armen, war zwar nicht ganz vergessen, spielte aber eine eher marginale Rolle.

Dennoch markiert das Konzil das Ende einer tausendjährigen Epoche (1500 bzw. 1000 Jahre) und den Beginn einer neuen Epoche - aus heutiger Sicht, rückblickend gesagt: Das Ende der Dominanz - oder gar der Verabsolutierung - der griechisch-römischen Kultur und Rechtsprechung und einer daraus resultierenden Theologie, die vor allem – je nach Betrachtungsweise - vornehmlich platonisch, aristotelisch und thomistisch geprägt war – aber weniger oder kaum „jesuanisch“. Vor allem aber: Die Kirche verabschiedet sich auf dem Konzil von einem Konzept, das die Kirche in Lehre und Praxis bisher geprägt hat: das Konzept einer societas perfecta“. Das wird u.a. deutlich in dem neuen Verständnis von Pastoral. Pastoral (Praxis) und Dogma (Lehre) werden als gleichwertig gesehen, vor dem Konzil ging es zuerst um das Dogma, um die Reinheit der Lehre. Pastoral und Dogma bilden nun aber keinen Gegensatz, sondern sie bedingen sich einander. In der „societas perfecta“ spielt dagegen die konkrete Praxis bzw. die Auswirkungen einer Lehre, z.B. ob menschenfreundlich oder nicht, (fast) keine Rolle. Der Begriff, ein politischer Begriff, stammt von Platon (4. Jh. vor Chr.) und meint eine Gesellschaft, die aus sich heraus alles hat, was sie zum Leben braucht, also autark ist.

Im 4. Jh. nach Chr. wurde dieser Begriff auf die Kirche übertragen und bis ins 20. Jh. so definiert, dass der Kirche von Gott alles gegeben wurde, was sie zu ihrer Existenz braucht. Sie braucht „die Welt“ nicht, sie ruht in sich und für sich. Sie regelt alles aus sich selbst heraus. Sie ist ein Machtkonzept. Sie hat eigenes Recht, eigenes Territorium, eigene Bildungseinrichtungen usw. Sie sieht die weltlichen Einrichtungen, den Staat und die „Welt an sich“ bestenfalls als gleichwertig, aber sie ist nie von einer Gesellschaft abhängig. Hauptaufgabe der Dogmatik war, dies theologisch zu begründen. Diese Begründungen fanden aber ihr Fundament nicht in der Botschaft Jesu, sondern u.a. in der altgriechischen Philosophie. Mit anderen Worten: die Fundamente, von denen her sich die Kirche bestimmt, sind ihre eigenen Konstrukte. Ihr Verhältnis zur Welt ist derart, dass sie selbst zwar die Welt nicht braucht, sie zwar in ihrer „Sendung“ auf die Welt zugeht, sie aber eigentlich als etwas ihr Fremdes ansieht.

Doch nun heißt es:  „Türen und Fenster auf“ > Blick auf die Welt, so wie sie ist. Erkennen der Zeichen der Zeit: Arbeiterfrage, Frauen, Weltkirche und Entkolonialisierung. Die Zeichen der Zeit müssen nun im Lichte des Evangeliums gedeutet werden. Dies hat eine klare und eindeutige Positionierung und Parteinahme zur Folge, nicht nur in der Lehre, sondern vor allem in der Praxis.

Weitere Stichworte: Volk Gottes auf dem Weg, allg. Priestertum, Demokratisierung (Räte) und Liturgiereform, u.a.

> Aufbruch, Konzilsbegeisterung; Beispiel eines „Konzilspfarrers“; heute: „Weltkirche“- ausländische Priester?

> Entstehen von Fidei Donum (Beispiel Bischof Leiprecht – Bischof Tato aus Santiago del Estero > Josef Majer, Gerhard Vogt). In der Konzilsaula saß neben dem damaligen Rottenburger Bischof Carl Joseph Leiprecht der Bischof von Santiago del Estero, Manuel Tato. Der frühere Rottenburger Generalvikar Eberhard Mühlbacher, während des Konzils Leiprechts Sekretär, erinnert sich: „Wenn Bischof Carl Joseph eintraf, stellte Tato ein Bildchen des hl. Karl Borromäus vor sich aufs Pult und betete mit lauter Stimme: ‚Heiliger Borromäus, bewege doch das Herz meines Freundes Carl, dass er mir zwei Priester schenkt‘. Das ging Tag für Tag so. Alle lachten über den Argentinier.“ Beharrlichkeit führt zum Ziel: Tato wurde erhört, die ersten beiden „geschenkten“ Priester hießen Josef Majer und Gerhard Vogt. Bis heute verpflichteten sich insgesamt neun Priester (drs) für einen längeren Dienst in Santiago.

B) Übergang zu Medellín: Eine Interpretation des Konzils (vor allem GS) – aus einer neuen Perspektive, neuem Standort: (Etablierte und berühmte deutsche Theologen - französische eher! -  konnten GS damals nur schwer in dieser Weise deuten - können sie es heute?).

Zeichen der Zeit im Sinne des Konzils sind heute Menschen, die um die Anerkennung ihrer Würde ringen, denen man ein „Leben in Fülle“ vorenthält, die ausgegrenzt und diskriminiert werden. Sie sind „die Anderen“ und sie sind es, mit denen wir einen echten Dialog führen müssen. Wir begegnen Gott („dem ganz Anderen“) in diesen Menschen, in ihren existentiellen Bedürfnissen, in ihrem Hunger nach Brot und nach Gott, in ihrem Streben nach einem Leben in Würde. Sie sagen uns, was Gott uns heute sagen will und an uns liegt es, diese Zeichen der Zeit wahrzunehmen und als Wort Gottes zu hören und zu deuten.

Die Zeichen der Zeit deuten heißt auch, dass Gott einen sehr konkreten Ort (Topos) hat. Er identifiziert sich mit den Hungernden (u.a.), von dort aus spricht er zu uns. Nicht die Frage: WER ist Gott? sondern "WO ist Gott?" (im „zerfetzten Körper eines Kindes“?) ist die entscheidende Frage. Die Kirche (wir alle, auch Papst und Bischöfe) muss in diesem Sinne Gott erst entdecken und dies immer wieder neu, sie hat ihn nicht, erst recht kann sie ihn nicht definieren und verwalten schon gar nicht qua Institution bzw. qua Amt oder Weihe. An Christus Glaubende sind grundsätzlich utopische Menschen: Utopie als ein Ort, den es (noch) nicht gibt. Aber er existiert - in einem Blick in die Zukunft: es soll so werden, wie es sein sollte. Christlich: die Gesellschaft und unsere Art des Zusammenlebens so zu gestalten, wie es Gott (ursprünglich) gedacht hat. Wir sind als moderne Menschen utopische Menschen. Denn wir sind auf Zustände ausgerichtet, die in der Zukunft liegen. Erstrecht gilt das für Christen. Denn Gott selbst hat uns in Jesus gezeigt, wie es sein könnte. Ist Gott selbst Utopie? Er ist nicht „U-topoi“  im Sinne von extra- oder supraterrestrisch, sondern zu finden, zu begegnen, an konkreten Orten und konkreten Menschen, in den hetero-topoi; d.h. im „Exil“, in der Exteriorité, in der Wüste, außerhalb des Systems, im Menschen im Straßengraben, der unter die Räber gefallen ist, im „Aussätzigen“. Der „hetero-topoi“ ist der Hungernde, der Andere, der Ausgeschlossene. Aber warum ist er ausgeschlossen und warum hat er Hunger? Auch hier gilt: sehen und erkennen - im Lichte der Bibel deuten und dann handeln und Position beziehen. Eine Kirche, die den Menschen dient, muss diese Orte erst entdecken, sie muss aufbrechen und sich auf den Weg machen - erstrecht, wenn sie in einer „Wohlstandsgesellschaft“ derart fest verankert ist, dass sie von dieser kaum zu unterscheiden ist. Sie muss ausziehen, nach draußen gehen, vor die Tür – zu den Menschen im Straßengraben, die unter die Räuber gefallen sind, dann wird sie zur Gemeinschaft derer, für die Jesus der Messias ist. Das wäre dann echte Erneuerung, ein echter Aufbruch!

Wegmarken (Historisch von 1965 - 68):

Lateinamerikanische Kirchenhistoriker bezeichnen die Zeit von 1965 – 68 als die Periode, in der in so kurzer Zeit auf kontinentaler Ebene so wie nie zuvor so viele Bewegungen entstanden sind (Priester und Laien), die alle ein Ziel hatten: a) Hören und sehen, was die Menschen bewegt, worunter sie leiden und worauf sie hoffen, b) dies analysieren und im Lichte des Evangeliums neu deuten und c) Folgerungen für die Theologie, vor allem aber für die praktische Pastoral zu ziehen. Soziokulturelle und sozioökonomische Studien sollten helfen, die Zeichen der Zeit – und letztlich das Evangelium – besser oder gar neu verstehen zu können und ein neues Bewusstsein für eine notwendige Veränderung zu schaffen. Um einige wichtige Dokumente auf diesem Weg zu nennen: die X Versammlung von CELAM 1966 in Mar del Plata, hier besonders der Beitrag von Dom Helder Camara; die Erklärung der Laien über die Kirche, Peru im Juni 1968; der Brief der Jesuiten, Chile 1967 und die Erklärung der „Bischöfe der Dritten Welt“ im August 1967. Nicht zu vergessen sind die weit verbreiteten Botschaften von Camilo Torres und die konstruktive Diskussion um die Enzyklika „Populorum Progressio“ von Paul VI., 1967. Beispielhaft ein Auszug aus  der Rede von Dom Helder Camarain Mar del Plata: „Zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas stehen wir vor fundamentalen Veränderungen. Die Kirche muss dazu beitragen, einen „neuen Menschen“ zu verkünden und ihn zu leben. Der „neue Mensch“ wird nicht ein gigantischer Produzent oder Konsument sein, nicht Teil einer gigantischen Maschinerie, die zum Ziel hat, alles – so auch die gesamte Natur – zu beherrschen. Ziel ist vielmehr, ein freier und bewusster Mensch zu werden im Kontext einer Befreiung aller, die geknechtet sind, damit das entstehen kann, was Freiheit ausmacht: frei zu sein, um sich von seiner eigenen Gier befreien zu können um so sich so dem Anderen, dem Nächsten, hingeben zu können.“ In diesem Zusammenhang spricht er auch von einer „kollektiven Sünde“, d.h. von den Verhältnissen, die den Menschen versklaven und die ihn daran hindern, zu dem zu werden, zu dem er berufen ist. In Medellín wird dann von den „Strukturen der Sünde“ die Rede sein.

Im Rahmen der letzten Session des Konzils, traf sich der CELAM zur IX. Versammlung vom 23. 9. – 16. 11. in Rom. Dabei machte Mons. Larraín den Vorschlag, den schon geplanten eucharistischen Kongress in Bogotá 1968 zu nutzen, um eine 2. lateinamerikanische Bischofskonferenz einzuberufen. Auf dieser Konferenz sollten die Beschlüsse des Konzils auf die Situation in Lateinamerika hin aktualisiert und angewendet werden. Dies wurde einstimmig beschlossen und der Papst stimmte zu. Auf der schon erwähnten X. Versammlung in Mar del Plata und dann der XI. Versammlung in Chaclacayo (November 1967) wurden dann die Themen, Leitlinien und die Organisation beschlossen. Die ernannten Kommissionen (Pastoral de conjunto, pastoral de acción social, etc.), erarbeiten auf je getrennten Treffen die Arbeitsdokumente.

Führender Theologe und Berater war seit 1966 Gustavo Gutiérrez. Seine theologischen Arbeiten waren die Grundlagen für viele bischöfliche Versammlungen. So hielt er z.B. 1967 in Montreal einen viel beachteten Vortrag mit dem Titel: „Die Kirche und die Armut“. Er bezeichnet die massenhafte Armut in Lateinamerika als skandalös, als nicht hinnehmbar und schließlich als Frucht der Ungerechtigkeit und der Sünde der Menschen. Diese Armut – als Folge himmelschreiender Ungerechtigkeit, widerspricht fundamental dem Willen Gottes. Diesen Zustand nicht nur hinzunehmen, sondern ihn gar zu rechtfertigen und zu segnen und die Menschen zu vertrösten auf eine Belohnung im Jenseits, widerspricht völlig der Botschaft Jesu. (Im Archiv von IBC). Er unterscheidet hier auch die verschiedenen Arten von Armut (u.a. geistige Armut). In Medellín wurde diese seine neue Interpretation von Armut übernommen (Kap. 14). Auf einer Konferenz in Chimbote im Juni 1968 spricht er schließlich erstmals explizit von einer Theologie der Befreiung (ist aber nicht unser Thema). In Klammer: Europäische Theologen wie Metz und Moltmann haben diese Sichtweise nie übernommen (bzw. nicht übernehmen können, weil zu tief verwurzelt im herrschenden System bzw. in der euro. Kosmovision).

C)  Die Dokumente von Medellín- Grundlegende Botschaften

Kap. 1:Gerechtigkeit:

„Die lateinamerikanische Kirche hat eine Botschaft für alle Menschen, die in diesem Kontinent „Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit“ haben. Derselbe Gott, der den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schafft, hat die „Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustattenkommen“. (II,3) 

Über die Situation des lateinamerikanischen Menschen gibt es viele Studien. In allen wird das Elend beschrieben, das große Menschengruppen in die Randzonen des Gemeinschaftslebens drängt. Dieses Elend als Massenerscheinung ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit“. (I,1)  Und in  II, 10: "Das liberal-kapitalistische System und die Versuchung durch das marxistische System schienen in unserem Kontinent die Möglichkeiten auszuschöpfen, die wirtschaftlichen Strukturen zu wandeln. Beide Systeme verstoßen gegen die Würde der menschlichen Person. Das erste System hat als Voraussetzung den Primat des Kapitals, seine Macht und seinen willkürlichen Gebrauch im Dienste des Gewinns. Das andere System, obwohl es ideologisch einen Humanismus verteidigt, sieht den Menschen mehr als Kollektivwesen und verwandelt sich in der Praxis in eine totalitäre Machtkonzentration des Staates. Wenn wir von einer Situation der Ungerechtigkeit sprechen, beziehen wir uns auf jene Realitäten, die einen Zustand der Sünde ausdrücken.“

Kap. 2: Frieden:

Wir möchten unterstreichen, dass die Hauptschuldigen der wirtschaftlichen Abhängigkeit unserer Länder jene Kräfte sind, die, angetrieben von einem hemmungslosen Gewinnstreben, zu einer wirtschaftlichen Diktatur und zum „internationalen Geldimperialismus“ führen, den Pius XI. in „Quadragesimo anno“ und Paul VI. in „Populorum progressio“ verurteilten. Wir klagen hier den Imperialismus jedweder ideologischer Prägung an, der in Lateinamerika in indirekter Form bis hin zu direkten Interventionen ausgeübt wird.

Wir beziehen uns hier besonders auf die Konsequenzen, die für unsere Länder eine Abhängigkeit von einem wirtschaftlichen Machtzentrum in sich bergen, um das sie sich gruppieren. Daraus ergibt sich, dass unsere Länder häufig weder Eigentümer ihrer Güter, noch Herren ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen sind. Es liegt auf der Hand, dass das nicht ohne Auswirkungen auf das Politische bleibt, im Hinblick auf die wechselseitige Abhängigkeit, die zwischen beiden Bereichen besteht. (I,8)

Christliche Sicht des Friedens (II,14)

„Die beschriebene Realität stellt eine Verneinung des Friedens dar, wie ihn die christliche Tradition versteht. Drei Merkmale kennzeichnen das christliche Verständnis vom Frieden:

a) Der Frieden ist vor allem Werk der Gerechtigkeit. Er setzt voraus und erfordert die Errichtung einer gerechten Ordnung, in der sich die Menschen als Menschen verwirklichen können, in der ihre Würde geachtet wird, ihre legitimen Erwartungen befriedigt werden, ihr Zugang zur Wahrheit anerkannt und ihre persönliche Freiheit garantiert wird. Eine Ordnung, in der die Menschen nicht Objekte, sondern Träger ihrer eigenen Geschichte sein sollen. Dort also, wo es ungerechte Ungleichheiten zwischen Menschen und Nationen gibt, wird gegen den Frieden verstoßen.“

b) „Friede als dauernde Aufgabe: Friede findet man nicht, man errichtet ihn“.

c) Der Friede ist letztlich Frucht der Liebe, Ausdruck einer wirklichen Brüderlichkeit unter den Menschen: … Der Friede mit Gott ist das tiefste Fundament des inneren Friedens und des sozialen Friedens. Darum wird überall dort, wo dieser soziale Friede nicht existiert, überall dort, wo man ungerechte soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten findet, die Friedensgabe des Herrn, mehr noch, der Herr selbst zurückgewiesen.

Kap. 14: Die Armut der Kirche

Der lateinamerikanische Episkopat darf angesichts der ungeheuren sozialen Ungerechtigkeiten in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben; Ungerechtigkeiten, die die Mehrheit unserer Völker in einer schmerzhaften Armut halten, die in sehr vielen Fällen an unmenschliches Elend grenzt. Es erhebt sich ein stummer Schrei von Millionen von Menschen, die von ihren Hirten eine Befreiung erbitten, die ihnen von keiner Seite gewährt wird(I,1). Wir müssen unterscheiden:

a) Die Armut als Mangel an den Gütern dieser Welt ist als solche ein Übel. Die Propheten klagen sie als gegen den Willen des Herrn gerichtet und in den meisten Fällen als Frucht der Ungerechtigkeit und der Sünde der Menschen an.
b) Die geistige Armut ist das Thema der Armen Jahwes und die Haltung der Öffnung zu Gott, die Bereitschaft dessen, der alles vom Herrn erwartet. Obwohl er die Güter dieser Welt wertet, hängt er nicht an ihnen und erkennt den höheren Wert der Güter des Reiches Gottes an.
c) Die Armut als Engagement, das die Bedingungen der Armen dieser Welt freiwillig und aus Liebe annimmt, um Zeugnis zu geben von dem Übel, das sie darstellt und von der geistigen Freiheit gegenüber den Gütern, folgt damit dem Beispiel Christi, der alle Konsequenzen der Sünde der Menschen auf sich nahm und der, da er reich war, sich arm machte, um uns zu retten. (II,4)

In diesem Zusammenhang nimmt eine arme Kirche folgende Haltung ein: (II,5)

  • Sie klagt den ungerechten Mangel der Güter dieser Welt und die Sünde an, die ihn hervorbringt.
  • Sie predigt und lebt die geistige Armut als Haltung der geistigen Kindschaft und Öffnung zu Gott.
  • Sie verpflichtet sich selbst zur materiellen Armut. Die Armut der Kirche ist eine unveränderliche Größe in der Heilsgeschichte.

Die Kirche in Lateinamerika spürt angesichts der Bedingungen der Armut und der Unterentwicklung des Kontinents die Dringlichkeit, diesen Geist der Armut in Gesten, Haltung und Normen auszudrücken, die sie zu einem leuchtenderen und echteren Zeichen ihres Herrn macht. Die Armut so vieler Brüder und Schwestern schreit nach Gerechtigkeit, Solidarität, Zeugnis, Engagement, Anstrengung und Überwindung für die volle Erfüllung des von Christus anvertrauten Heilsauftrages. Die gegenwärtige Situation fordert somit von den Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Laien den Geist der Armut, der „die Fesseln des egoistischen Besitzes der irdischen Güter sprengend, den Christen ermuntert, die Wirtschaft und die Macht in organischer Weise in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen“ (II,7).

Kap. 15: Pastoral de conjunto: Christliche Basisgemeinschaften

Die Kirche muss dieser Situation mit geeigneten pastoralen Strukturen begegnen. Das Leben der Gemeinschaft, zu dem der Christ aufgerufen wurde, muss er in seiner „Basisgemeinschaft“ finden; das heißt, in einer Gemeinschaft am Ort oder in der Umgebung, die der Wirklichkeit einer homogenen Gruppe entspricht und eine solche Dimension hat, dass sie die persönliche brüderliche Begegnung unter ihren Mitgliedern erlaubt. Daher soll die pastorale Bemühung der Kirche auf die Umwandlung dieser Gemeinschaften in eine „Familie Gottes“ ausgerichtet sein (I,2).

Die christliche Basisgemeinschaft ist so der erste und fundamental kirchliche Kern, der sich in seinem eigenen Bereich für den Reichtum und die Ausbreitung des Glaubens, wie auch für die des Kults, der sein Ausdruck ist, verantwortlich machen muss. So ist sie Kernzelle kirchlicher Strukturierung, Quelle der Evangelisierung und gegenwärtig der Hauptfaktor der menschlichen Förderung und Entwicklung. Wichtigstes Element für die Existenz von christlichen Basisgemeinschaften sind ihre Leiter und Führungskräfte. Diese können Priester, Diakone, Ordensleute oder Laien sein. Es ist zu wünschen, dass sie der von ihnen angeregten Gemeinschaft angehören (III, 10,11).

D) Folgen von Medellín – eine neue Perspektive

„Die Armen zuerst! - 12 Lebensbilder lateinamerikanischer Bischöfe“, J. Meier, (Hg), 1998. Bischöfe Medellíns: Raúl Silva Henríquez;  Enrique Angelelli;  Luis Vallejos;  José Dammert;  Leonidas Proaño;  Alberto Luna; Helder Camara;  Antonio Fragoso; Pedro Casaldáliga;  Adriano Hypolito;  Paolo Evaristo Arns;  Juan Gerardi;  Sergio Méndez Arceo;  Samuel Ruíz.  (Darin mein Beitrag über José Dammert)

In Medellín wurden wesentliche Aussagen des Konzils auf die konkrete Situation in Lateinamerika hin ausgelegt. Ursachen des Elends wurden benannt. Eine Analyse der weltwirtschaftlichen Strukturen führte zu dem Ergebnis, dass das Elend in weiten Teilen der Welt eine direkte Folge der pol.-wirtschaftlichen Strukturen sind, die von den reichen Ländern (Kolonialmächten) so eingerichtet worden sind, dass sie „zwangsläufig“ (systemimmanent logisch)  zu immer größerem Reichtum der Wenigen führen. Eine entsprechende Analyse, Ursachenforschung und Deutung im Lichte der Bibel gab es aber bis heute nicht in der europäischen Kirche. Vom Standort der Ausgegrenzten aus, von dem biblischen Standpunkt her gedeutet, ist die europäische Theologie schon seit dem 4/5. Jahrhundert eine Theologie im Kontext der „Sieger“, eine Kirche der Rechtfertigung für Kolonialismus, Sklaverei, kulturellen Rassismus bis hin zur bestehenden Rechtfertigung einer kapitalistischen Weltordnung, in der die Vermehrung des Kapitals oberstes Gebot ist. Und die „Hoftheologen des Pharao“ (oder von König Jerobeam in Israel zur Zeit des Propheten Amos) maßen sich an, über den Glauben der Menschen zu urteilen, die im Namen Jesu gegen den herrschenden Götzendienst aufstehen und ihr Leben riskieren, damit ihre Brüder und Schwestern leben können.

Einfluss einer befreienden Pastoral in Cajamarca (seit 1962) auf die Dokumente von Medellín – und umgekehrt

„Wir leben in einer Zeit der Euphorie wegen dem Konzil, denn wir spüren, dass die Be­schlüsse des Konzils zu einer fruchtbaren Erneuerung führen werden. Das Evangelium hat auch heute noch seine Dringlichkeit und Aktualität wie vor 2000 Jahren. Denn es gab immer Ungerechtigkeiten und die Sünde, aber im Herzen der Menschen brannte auch immer die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt, der Durst nach Liebe, Verständnis und Vergebung. Es war kein Zufall, dass Gott Mensch wurde inmitten eines armen Volkes, in einer armen Frau, die sicher nichts Außergewöhnliches war und wie alle armen Frauen eines armen Volkes. Gott wurde geboren noch nicht einmal in einer Herberge, sondern in einem Stall, auf dem Lehmboden bzw. in einer Futterkrippe, arm unter Armen, verachtet. So ist er mitten unter uns in der Form eines geistigen Brotes, damit dieses Brot auch ein materielles Brot für alle werde und damit dieses Brot unter allen seinen Geschwistern gerecht verteilt werde. Die Glieder des Leibes Christi sind speziell die, die leiden, die Verachteten, die Armen. Solange es sie gibt, leidet Jesus weiter. Solange wir nicht für das Reich Gottes eintreten, solange wir diese Wun­den am Leib Christi nicht heilen, werden diese Wunden ewig ans Kreuz genagelt bleiben. Wenn wir nicht für mehr Gerechtigkeit in der Welt eintreten, verraten wir Christus. Die dreißig Silberlinge als Lohn des Verrats sind heute unsere Gleichgültigkeit und die Suche nach einem bequemen Leben, während gleichzeitig zwei Drittel der Menschheit im Elend le­ben. Wenn wir die Welt analysieren, in der wir leben, so ist sie gekennzeichnet durch eine Trennung in Arme und Reiche. Der Reiche ist der, der mehr hat, als er zum Leben braucht. Die Armen sind die, die noch nicht einmal das Notwendigste zum Leben haben und deren fundamentalste Menschenrechte verletzt werden. Heute handelt es sich auch nicht mehr um Arme als Individuen, sondern um ganze Völker“.[1] In diesem Text ist bereits all das enthalten, was für seine Arbeit als Bischof von Cajamarca Maß gebend war. Die folgende Entwicklung in Cajamarca ist von daher zu verstehen.

Exemplarisch für seine Arbeit in nationalen und internationalen kirchlichen Strukturen und Gremien steht sein Einsatz für und in Medellín. Medellín sollte für Dammert ein Höhepunkt seines Wirkens werden. Für die Vorbereitung auf Medellín war für Dammert die enge Zusammenarbeit mit der Diözese Riobamba von Bedeutung. Die Bischöfe Dammert und Proaño hatten bereits während des Konzils ein sehr enges Verhältnis und über die Konferenzen des CELAM und die freundschaftlichen Kontakte hinaus kam es zu einem regen Austausch von praktischen pastoralen Erfahrungen. Bischof Proaño schließlich lud Dammert ein, in der Pastoralabteilung von CELAM mitzuarbeiten. Dammert war auch Präsident der „Kommission für Laien“ des CELAM. Daher hatte er eine besondere Verantwortung für die Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe.In der Folge oblag es beiden Bischöfen, die vorbereitenden Versammlungen zur zweiten Bischofsversammlung von Medellín zu koordinieren und auch inhaltlich zu gestalten. Die im engsten Kontakt mit den Campesinos gemachten pastoralen Erfahrungen fanden so unmittelbaren Eingang in die Dokumente von Medellín. Dammert hatte erkannt, dass nur mit den Laien die notwendige Erneuerung der Kirche geleistet werden konnte. Die Ausbildung von Laien und die Heranbildung der ersten Landkatecheten in seiner Diözese hatten bereits erste Früchte getragen. Er wurde durch die Erfahrungen in der Praxis bestärkt, dass die Mitarbeit von Laien und die Bildung von kleinen christlichen Gemeinschaften sich nicht nur aus innerkirchlichen oder strukturellen Gründen als notwendig erwies, sondern aus fundamentalen Gründen, abgeleitet aus dem Evangelium.

Diese Erfahrungen und Erkenntnisse konnte er daher glaubhaft in Medellín einbringen, unterstützt von einer starken peruanischen Fraktion. „Ich darf daran erinnern, dass ich als Präsident der Kommission für die Laien von 1963-1969 und Delegierter bei CELAM, aktiv an der Vorbereitung für Medellín beteiligt war. In Medellín selbst war der peruanische Einfluss sehr stark: Landázuri war einer der Präsidenten, Ricardo Durand, Erzbischof von Cusco, leitete die Kommission über die Armut und ich, die über die Laien. Die Beteiligung von Gustavo war wertvoll, besonders in den Abschnitten über Gerechtigkeit und Armut“ (20). Bischof Dammert trug in Medellín die entscheidende Vorlage zur Armut vor, die dann von der Konferenz approbiert wurde. „Bei dem Thema ‚Armut’ erreichte ich die lehramtliche Zustimmung. Das Thema war von Gustavo Gutiérrez ausgearbeitet worden, aber es wurde von mir als mein eigener Beitrag vorgetragen. Es war das zentrale Thema“.

Unterstützt von Kardinal Landázuri war Dammert die treibende Kraft, um die Beschlüsse von Medellín in Peru umzusetzen. Gustavo Gutiérrez: „In enger Zusammenarbeit mit Kardinal Landázuri war Pepe einer der Bischöfe, der am meisten dazu beigetragen hat, dass das Zweite Vatikanische Konzil und Medellín die pastoralen Aktivitäten der peruanischen Kirche inspiriert haben. Er hat das ernst genommen, was die bestimmende Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, Johannes XXIII., die Kirche der Armen nannte“. Wenn auch in Medellín schon die Erfahrungen Dammerts vor allem in der Landpastoral, in der Ausbildung von Laien und sein persönliches Zeugnis der Armut eingeflossen waren, so war dies für viele peruanische Bischöfe noch etwas Neues. Dammert konnte sich aber nun zu Recht von den Beschlüssen von Medellín bestätigt fühlen - auch in seiner eigenen Diözese.

Die herausragende Stellung Dammerts innerhalb des peruanischen Episkopats wurde durch Medellín gestärkt. Der Geist von Medellín bestärkte seine Arbeit in der Diözese und darüber hinaus. Dammert: „Diese Beteiligung verpflichtete den peruanischen Episkopat und dessen Engagement fand seinen ersten Ausdruck im Januar 1969 in den Dokumenten des per. Episkopats über ‚Gerechtigkeit in der Welt’ und 1973 über ‚Evangelisierung’. Dazu kommen selbstverständlich die zahlreichen Erneuerungen in den verschiedenen Diözesen. Der Einfluss von Medellín war auch sehr stark in der Erneuerung religiöser Institutionen, speziell weiblicher, die sich nun verstärkt der Arbeit mit den Marginalisierten widmeten und einer tiefen Sehnsucht, zum Geist ihrer Gründer zurückzufinden, der vielfach vergessen worden war. Der Einsatz von Bischöfen, Priestern und Laien für sozio-politische Reformen ist in gleicher Weise eine Frucht des Geistes von Medellín. Offensichtlich fehlt noch viel zu tun, zum Teil wegen der Angst einiger vor Reformen, zum Teil wegen der überstürzten Aktivitäten anderer, das zu Widerständen führte und Initiativen bremste. Ich glaube, dass das Konzil und Medellín für lange Zeit wertvolle Perspektiven eröffnet hat. Trotz der Kampagnen gegen Medellín, unter dem Vorwand eine abendländische Christenheit zu verteidigen, müssen wir auf den vom Konzil eröffneten Wegen weitergehen“.

Die Dokumente von Medellín spielten auch in der Praxis eine große Rolle. Für die bisherigen Katecheten war es eine Bestätigung und für die neuen Katecheten eine zusätzliche theoretische Grundlage, auf der in der Folge die Ausbildung basierte. Bei den Campesinos wurden die Dokumente von Medellín sehr positiv aufgenommen und sie entdeckten darin die gleichen Prioritäten, nach denen sie bisher schon gearbeitet hatten. Concepción Silva, 1968 in einer Jugendgruppe aktiv: „Ich bewahre heute noch das Dokument von Medellín auf, es ist schon zerfleddert vom häufigen Gebrauch. Ich erinnere mich, dass wir damals begeistert waren, es kennen zu lernen. Zuerst lernte ich es auf einem zweiwöchigen Diözesankurs in Cajamarca kennen. In Medellín hat sich die Mehrzahl der Bischöfe für eine Option für die Armen ausgesprochen. Das sind Worte, die sich uns einprägten. Medellín bestätigte, dass auch die Campesinos nicht nur erkennen sollten, dass sie Teil der Kirche seien, sondern dass sie Kirche sind. Kirche ist nicht nur die Hierarchie, die Kirche sind wir alle. Niemals gab es das vorher, dass ein Campesino die Sakramente spenden konnte, dies konnten nur geweihte Leute“.

Neben den genannten Prioritäten war es die Gewissheit, dass es in ganz Peru und überall auf dem Kontinent zu einem Aufbruch kommen wird. Die eigenen Erfahrungen deckten sich mit dem Anliegen und den Aussagen der Bischöfe. Man fühlte sich getragen und beflügelt von einem Aufbruch auf dem ganzen Kontinent, darin zum ersten Mal unterstützt von Priestern und Bischöfen. Es entstand das Gefühl der Einheit mit den Bischöfen und eventuell noch latente Zweifel an der Nachhaltigkeit des eingeschlagenen Weges wurden besänftigt. Im Jahre 1969 hat Paul VI. dem Bischof von Cajamarca persönlich die Vollmacht gegeben, die Katecheten zu bevollmächtigen, das Sakrament der Taufe zu spenden. Aus Rom berichtet Dammert über seine Begegnung mit dem Papst: „Er ermutigte mich von ganzem Herzen, mit meiner bisherigen Arbeit fortzufahren, trotz aller Schwierigkeiten. Er drängte mich, einige Experimente weiterzuführen, ein Ritus für die Taufe durch ländliche Katecheten auszuarbeiten, ebenso einen Katechismus, angepasst an die Mentalität und das Verständnis der Campesinos. Er hielt mich an, das Verständnis des Priestertums in einer andinen Umgebung neu zu entwickeln und zu entdecken“.

Zur Erinnerung: Gustavo Gutiérrez hätte nach eigenen Aussagen seine „Theologie der Befreiung“ - zumindest so - nicht schreiben können, ohne die Erfahrungen aus Cajamarca, das er bereits in den 60-er Jahren und danach häufig besuchte.

Zur Bedeutung der Kirche von Cajamarca: Durch seinen Bischof José Dammert Bellido (Bischof von Cajamarca von 1962 - 1992) wurde Cajamarca zum Vorbild in Peru und auch darüber hinaus bekannt. Dammert war Präsident der „Kommission für Laien“ im CELAM und als solcher maßgebend an den Beschlüssen von Medellín beteiligt. Er war „Ziehvater“ und bester, väterlicher Freund von G. Gutiérrez und hat mit ihm die „Option für die Armen“ in Medellín durchgesetzt (mit Dom Helder Camara und Leónidas Proaño). Er war Mitbegründer und bis 1992 Motor der weltweit über 600 „Kleinen Bischöfe“ und 10 Kardinäle, die sich im Geiste von Charles de Foucauld zum Abschluss des Konzils der Armut verpflichtet haben. (Katakombenpakt). In der Diözese Cajamarca gab es seit 1969 die weltweit ersten Campesino-Katecheten/Innen mit weitreichenden Vollmachten. Die Diözese wird von lateinamerikanischen Kirchenhistorikern und Theologen als die Diözese bezeichnet, in der der „Geist des Konzils“ mit am konsequentesten und erfolgreichsten in die Praxis umgesetzt wurde: Als ein „Mehr an der Fülle des Lebens“ für die Ärmsten.

Praktische, gelebte Beispiele einer „Kirche der Befreiung

Die Pfarrei Bambamarca (etwa 100.000 Katholiken, 95% Campesinos) war das Pilotprojekt der Diözese Cajamarca und wurde über Peru hinaus zum Vorbild einer befreienden Kirche und Pastoral. Sie gilt als die „Wiege der Theologie der Befreiung“ (G. Gutiérrez ging dort nach eigenen Angaben „in die Lehre“). Bereits 1969 übertrug Bischof Dammert in Absprache mit Paul VI. den ersten Campesinos u.a. die Vollmacht zu taufen und die Gemeinden zu leiten. Der erste „Indiokatechet“ der Welt war Candelario Cruzado. Zeitweise waren über 200 Katecheten (Männer und Frauen) in der Pfarrei tätig, alle ehrenamtlich. In ihrer Kleingemeinde waren sie „für alles“ zuständig und beauftragt, von der eigenen Gemeinde ausgewählt und vom Bischof nach intensiver Vorbereitung bestätigt. Vor allem in den 70/80er Jahren wurden viele Katecheten verhaftet, eingesperrt, einige gefoltert, so z.B. 1978, als fast der gesamte Pfarrgemeinderat (Vertreter*innen aller Landzonen) eingesperrt wurde. Doch ihr Glaube, dass Gott mitten unter ihnen Mensch geworden ist, mit ihnen lebt, leidet und aufersteht, gibt ihnen die Kraft, den Weg weiter zugehen.

1. Der Umgang mit der Bibel

Bambamarca 1978: Don Panchito (Francisco Huamán), der ältere Katechet der Comunidad von Chala, erwartete mich schon voller Ungeduld. Vor der Kapelle der ehemaligen Hazienda von Chala hatte sich die Gemeinde versammelt. Viele saßen auf der Erde, die aufgestellten Bänke reichten nicht für alle. Sie sangen ein Lied, das ein anderer Katechet getextet und mit einer uralten Melodie, einem Huayno, unterlegt hatte. Erst dachte ich, ich wäre zu spät gekommen. Don Panchito klärte mich auf. Sie hatten das Lied nur deswegen angestimmt, weil sie nicht mehr weiter wussten und daher auf mich warten wollten. Es war eine lebhafte Diskussion entstanden, weil der jüngere Katechet von Chala, Segundo Ventura, gesagt hatte, die Leute bräuchten zu den Versammlungen und Gottesdiensten nicht mehr die Bibel mitzubringen. Es gebe ein neues Buch, das die Campesinos selbst gemacht hätten und das zudem noch schöne Lieder und andere Geschichten aus ihrem eigenen Leben enthalte. Einige Ältere hatten widersprochen, schließlich sei die Bibel das Wort Gottes und wie sollten sie ohne das Wort Gottes leben können? Doch der Jüngere bestand darauf: Das neue Buch sei nichts anderes als eine neue Bibel, besser gesagt: Die alte Bibel wurde in unsere Zeit übersetzt. In diesem neuen Buch erzählten die Menschen, wie in ihrem eigenen Leben das Wort Gottes fruchtbar würde. Außerdem seien in dem Buch - so erklärte der jüngere Katechet - auch die wichtigsten Stellen der Bibel enthalten, es sei also eine Zusammenfassung und gleichzeitig eine Fortschreibung der Bibel. Denn so wie das Volk Gottes im Alten Testament seinen Weg mit Gott in die Befreiung und die ersten Christen im Neuen Testament ihre Erfahrungen mit dem Auferstandenen weitererzählt hätten, so erzählten auch wir unsere Erfahrungen mit dem befreienden Gott weiter. Welchen Unterschied machte es schon, ob die Geschichten nun in Galiläa oder in Bambamarca spielten? Es gehe letztlich um dasselbe, nämlich dass Jesus die Menschen zur Umkehr auffordere, den Beginn einer Neuen Zeit verkünde und dass diese Zeit schon mitten unter uns begonnen hätte.

Die meisten der Anwesenden waren von der Rede des jüngeren Katecheten begeistert. Doch Don Panchito ging diese Interpretation des neuen Buches etwas zu weit. Vor allem plagten ihn Zweifel, ob die Campesinos wirklich das Recht haben sollten, die Geschichte Gottes mit den Menschen selbst in die eigenen Hände zu nehmen, sie sogar eigenständig weiter zu schreiben. Und was würde der Bischof dazu sagen? Auf jeden Fall wollte man meine Meinung hören. Zumindest was die Meinung des Bischofs anging, konnte ich sie beruhigen. Ich sagte ihnen - obwohl sie es im Grunde schon wussten - dass Bischof Dammert das neue Buch sehr begrüßte, dass er möchte, dass überall damit gearbeitet wird und dass die Campesinos darauf stolz sein könnten. Und was die Benutzung des neuen Buches und/oder der Bibel betraf, so schlug ich in Übereinstimmung mit Bischof und Pastoralteam vor, dass es aus praktischen und didaktischen Gründen ratsam sei, bei Versammlungen und Gottesdiensten der Gemeinschaft mit dem neuen Buch „Vamos Caminando“ zu arbeiten, dass es aber kein gleichwertiger Ersatz für die Bibel sei. Vor allem bei Gottesdiensten wäre es besser, aus der Bibel zu lesen, schließlich dürfe unter keinen Umständen das Lesen aus der „richtigen“ Bibel außer Gebrauch kommen. Es stimme zwar auch, was der jüngere Katechet gesagt hatte, so fuhr ich sinngemäß fort, aber die Bibel sei deswegen einmalig, weil Gott in der Bibel in einzigartiger Weise den Menschen gesagt hätte, wer er sei, was er von den Menschen wolle und was wir tun sollten. Insofern gebe es nur die eine Bibel. Aber es liege an uns, das Wort Gottes lebendig werden zu lassen, Fleisch und Blut werden zu lassen, und dann diese Erfahrungen auch den Nachbarn und den eigenen Kindern weiterzuerzählen - durchaus auch mit eigenen Worten und Geschichten aus dem eigenen Leben. Genau dies geschehe in Vamos Caminando. Wenn wir in Vamos Caminando lesen, sehen wir wie in einem Spiegel das Wort Gottes und unsere eigene Geschichte. Beides gehöre untrennbar zusammen. Sowohl der ältere als auch der jüngere Katechet waren nun mit dieser Erklärung zufrieden. Man einigte sich, dass in normalen Versammlungen, Besprechungen, Treffen usw. mit Vamos Caminando gearbeitet wird, in den wöchentlichen Gottesdiensten aber das Evangelium aus der Bibel vorgelesen und besprochen wird.

2. Die Feier der Eucharistie: Erinnerung – Danksagung - Vorwegnahme der Herrschaft Gottes

a) Schilderung eines Gottesdienstes in einer Comunidad

In den meisten der etwa 200 Comunidades der Pfarrei Bambamarca wurden regelmäßige Versammlungen abgehalten und priesterlose Gottesdienste gefeiert, in einigen Regionen wöchentlich, in anderen monatlich und nicht notwendigerweise an einem Sonntag. Ein solcher Gottesdienst dauerte 4 - 6 Stunden. Die Familien brachten je nach Möglichkeit Essen und Trinken mit. Gesang, Begrüßung, Grund des Zusammenseins, Rückblick und Ausblick auf gemeinsame Aufgaben, Hören der Frohen Botschaft und das Sprechen über das Gehörte im Lichte der eigenen Sorgen und Hoffnungen gehörten zum „Inventar“ des Treffens. Höhepunkt war das gemeinsame Mahl. Alle hatten schon zu Beginn ihre mitgebrachten Speisen (manchmal war auch an Ort und Stelle gemeinsam gekocht worden) auf ausgebreitete Tücher oder Ponchos abgelegt. Der Leiter und Katechet der Gemeinde nahm nach einer Einführung ein Brot, zeigte es allen und sprach die Worte, die Jesus im Abendmahl sprach. wenn wir das alles miteinander teilen, auch als Zeichen für all das, was wir für ein Leben in Würde brauchen, dann ist Jesus mitten unter uns und wir werden selbst zu „Brot und Wein“ für andere, vor allem für diejenigen, die Hunger leiden. Danach ging das Fest weiter und es endete mit einem gemeinsamen Segen. Ein solcher Gottesdienst wurde als Krönung dessen verstanden, was im Alltag gelebt wurde: Leben und arbeiten, säen und ernten in Gemeinschaft, Beistand für Kranke und Bedürftige, usw. 

b) Kommentar der Campesinos von Bambamarca (Peru): „Auf den ersten Blick gibt es einen Unterschied zwischen dem Mahl Jesu mit seinen Freunden und unserem Festmahl. Auf dem Land haben wir keinen Tisch zum Essen. Der Tisch ist der Boden. Wenn die Menschen sich versammeln, wird ein Poncho oder je nach der Anzahl der Leute (meist 80 - 100 Menschen) mehrere Tücher auf den Boden gelegt, darauf werden die mitgebrachten Gaben ausgebreitet und die Leute setzen sich darum herum. Jesus trägt einen Sombrero und einen Poncho, denn Jesus ist mit den erniedrigten und den einfachen Menschen, er wird mit ihnen identifiziert. Denn Gott ist Mensch geworden inmitten der Ärmsten. Er benutzt als Kelch einen einfachen Krug aus Erde, aus der Erde, aus der wir alle stammen. In der Kirche der Weißen und der Reichen benutzt man einen Kelch aus Gold. Die Schale für das Essen ist ebenfalls aus unserem Alltag, aus Holz geschnitzt, sehr verschieden zum Hostienteller in der traditionellen Kirche. Denn Jesus ist Teil unseres Alltages, er lebt mit und unter uns, den Armen. Er ist einer von uns. Er macht sich zum Campesino. Er wählt die Ärmsten und Kleinsten aus. Wenn wir alle unsere Kraft und unsere Opfer in eine gemeinsame Arbeit einbringen, dann folgen wir Jesus, der sein Leben für uns gegeben hat. Dieses Beispiel schweißt uns zusammen. In der gemeinsamen Arbeit und diesem Festmahl in Gemeinschaft hat die Arbeit und hat das Essen keinen Preis, hier geschieht alles aus der Liebe, die uns vereint. Bei uns auf dem Land widmen wir alle unsere Kraft und Anstrengung unseren Nachbarn. Das gemeinsame Essen repräsentiert diese Liebe, die unter uns herrscht“.[2]

3. Gemeindeaufbau - Strukturen

Was im Bistum Trier (Beispiel Saarbrücken, s.o.) von vielen mit Recht als Katastrophe empfunden wird, war und ist weltweit schon lange die Regel. Und es gab und gibt Lösungen – sogar im Rahmen des bisherigen Kirchenrechts, das freilich nicht als „göttliches Gebot“ interpretiert werden darf. So berichtet z.B. Bischof Kräutler auf seinen Besuchen immer wieder von der Situation in seiner Diözese in Amazonien. Und er wird von Papst Franziskus um Vorschläge gebeten, was man angesichts dieser Situation tun müsste, um den Menschen vor Ort gerecht werden zu können. Und Bischof Kräutler macht Vorschläge. Auch Bischof Dammert aus Cajamarca bat bereits 1968 Papst Paul VI. darum, neue Wege gehen zu dürfen. Und der Papst sagte ihm: „Tue das und berichte mir!“

a) Katechet*innen

Im Jahre 1969 hat Paul VI.dem Bischof von Cajamarca persönlich die Vollmacht gegeben, die Katecheten zu be­vollmächtigen, das Sakrament der Taufe zu spenden. Aus Rom berichtet Dam­mert über seine Begegnung mit dem Papst: „Er ermutigte mich von ganzem Herzen, mit mei­ner bisherigen Arbeit fortzufahren, trotz aller Schwierigkeiten. Er drängte mich, einige Experimente weiterzuführen, ein Ritus für die Taufe durch ländliche Katecheten auszuarbei­ten, ebenso einen Katechismus, angepasst an die Mentalität und das Verständnis der Campe­sinos. Er hielt mich an,  das Verständnis des Priestertums in einer andinen Umgebung neu zu entwickeln und zu entdecken“. Die Katecheten wurden dafür vom Bischof in Übereinstimmung mit der Comunidad ausgesucht. Schließlich wurden die Katecheten auch beauftragt, in geeigneter Form die Spendung des Ehesakramentes kirchlich zu bezeugen. Kurz vor dem Tod Pauls VI. stellte der Papst Bischof Dammert mündlich in Aussicht, erfah­rene Katecheten erst zu Diakonen und dann zu Priestern weihen zu dürfen.[3] Bereits 1971 sprach Dammert von der Notwendigkeit, verheirateten Katecheten die Priesterweihe zu spen­den. Dabei ging er von dem Bedürfnis lebendiger christlicher Gemeinschaften aus, die Eucha­ristie feiern zu dürfen - als Zeichen und Höhepunkt ihres gemeinschaftlich gelebten alltägli­chen Glaubens. Dammert erreichte in Gesprächen mit Papst Paul VI., dass seine Diözese unter Missionsrecht (Ius missionale) gestellt wurde.[4] Dies ermöglichte es, dass die bestehenden Gesetze gemäß den regionalen Notwendigkeiten ausgelegt werden konnten und Laien, Männer und Frauen, zu Gemeindeleitern, Täufern und allgemein zu pastoralen Diensten beauftragt werden konnten. Kurz vor dem Tod Pauls VI. stellte der Papst Bischof Dammert mündlich in Aussicht, bald erfahrene Katecheten erst zu Diakonen und dann zu Priestern weihen zu dürfen. Bereits 1971 sprach Dammert von der Notwendigkeit, verheirateten Katecheten die Priesterweihe zu spenden. Dabei ging er von dem Bedürfnis lebendiger christlicher Gemeinschaften aus, die Eucharistie feiern zu dürfen - als Zeichen und Höhepunkt ihres gemeinschaftlich gelebten alltäglichen Glaubens. „Ich denke schon, dass es in Zukunft lebendige Comunidades geben wird, die die Eucharistie fordern werden, obwohl es keine Priester in ihrer Mitte gibt. In diesem Fall könnte man verheiratete Männer weihen, insofern sie die Voraussetzungen erfüllen, die der hl. Paulus in seinen Pastoralbriefen gefordert hat. Theologisch sehe ich keine Schwierigkeiten“.

Die Aufgabenbereiche eines Landkatecheten lassen sich in drei Bereiche gliedern. Er war vom Bischof beauftragt und handelte im Auftrag der Kirche.

  • Der Bereich der Katechese (Verkündigung) im weitesten Sinne und damit eng verbunden die Aufgabe der Erziehung innerhalb der Comunidad und der Ausbildung in allen Bereichen, gemäß den Bedürfnissen der Comunidad. Dies geschah in der Weise, um das in den zentralen Kursen Gelernte nun in der eigenen Comunidad weiterzugeben („mit denen zu teilen, die weniger wissen“).
  • Der Bereich der Repräsentation als „Sprecher“ der jeweiligen Comunidad: Der Katechet vertrat die Comunidad als Delegierter in der Zusammenarbeit mit anderen Comunidades und auf diözesaner Ebene. Diese Repräsentanz ging aber weit über den kirchlichen Rahmen hinaus. Oft waren die Katecheten die authentischen Ansprechpartner für die staatlichen Autoritäten - auch im negativen Sinne, denn sie wurden für alles verantwortlich gemacht, was die Autoritäten störte.
  • Der liturgisch-sakramentale Bereich: Der Katechet leitete die Gottesdienste und die Versammlungen, in denen die Bibel gelesen und gemeinsame Probleme im Lichte des Glaubens reflektiert wurden. Er wurde zu den Sterbenden gerufen, besuchte die Kranken und seine wichtigste sakramentale Aufgabe war die Spendung der Taufe. Die Erlaubnis zur Spendung der Taufe und des Ehesakramentes (bzw. zu dessen Assistenz) hatten nicht alle Katecheten, sondern nur die erfahrensten.

Um Katechet werden zu können, musste ein Bewerber verschiedene Voraussetzungen mitbringen. Er musste verheiratet sein, weil Ehelose als nicht beständig angesehen wurden; der Ehepartner musste einverstanden sein, weil die Aufgabe eines Katecheten massiv die Familie betraf; schließlich musste die Comunidad zustimmen oder sie hatte ihn vorher selbst ermuntert oder ausgewählt. Unter den ersten Katecheten befanden sich keine Frauen. Im Laufe der Zeit belief sich der Anteil der Frauen unter den Katecheten auf etwa 10-15% (genaue Statistiken wurden nicht geführt).

b) Gemeindestrukturen

Wie schon erwähnt umfasste die Pfarrei Bambamarca 100.000 Katholiken - wie die zukünftige Superpfarrei Saarbrücken. Sie hatte eine Fläche von etwa 3.000 km² (40 x 75 km). In der Kleinstadt selbst lebten etwa 5.000 Menschen (Händler, Kaufleute, Funktionäre, etc.), die sich von der Landbevölkerung (Campesinos) extrem abgrenzten. Im Laufe der neuen Pastoral seit 1962 wurden die 200 Comunidades in 10 Landzonen gegliedert, die je ihre eigene Infrastruktur aufbauten. In den Comunidades und dann gemeinsam in den Landzonen wurde beraten, welche Herausforderungen bestanden und welche Dienste notwendig waren, um überlieferte Formen der Abhängigkeit und die Ursachen der Armut überwinden zu können. Drei Maßnahmen stellten sich, auf der Basis der geäußerten Bedürfnisse, als besonders dringend heraus: Die Ausbildung von Katecheten (s.o.), die Ausbildung von Gesundheitshelfern („promotores de salud“, „Barfußärzte“) mit Gesundheitsstationen und die Gründung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft sowohl zur Vermarktung der eigenen Produkte als auch dem gemeinsamen Einkauf für Güter des täglichen Bedarfs auf dem Land (Salz, Speiseöl, Werkzeuge, u.a.). Zudem wurde ein großes Bildungs- und Versammlungszentrum am Rande der Kleinstadt in Eigenarbeit (mit Hilfe von Adveniat und Misereor) gebaut, u.a. mit Mustergärten, Schreinerei.

In den Comunidades wurde beraten und dann gewählt, welche Personen am ehesten geeignet waren, um für die jeweiligen Dienste ausgebildet zu werden. Sie wählten auch die Delegierten für den gemeinsamen Pfarrgemeinderat. Im Pfarrgemeinderat waren je zwei gewählte Delegierte aus den zehn Landzonen der Pfarrei vertreten, die Stadt konnte ebenfalls zwei Delegierte benennen. Der Pfarrgemeinderat traf sich jeden Monat zu einer ganztägigen Sitzung. Für Delegierte entfernt gelegener Zonen bedeutete dies einen Zeitaufwand von drei Tagen, bis zu 60 km zu Fuß auf dem Hinweg, ein Tag Versammlung, ein Tag Rückweg. Die Sitzungen waren öffentlich und die Zahl der Anwesenden übertraf bei weitem die Zahl der Delegierten. Der Pfarrgemeinderat war die oberste Instanz der Pfarrei und war verantwortlich für alle organisatorischen und inhaltlichen Aufgaben - einschließlich der Finanzen, diese aber nur im Rahmen der ihm vom Bischof übergebenen, nicht festen Summe. Alle zwei Jahre wurde der Präsident des Pfarrgemeinderates neu gewählt, ebenso seine Stellvertreter bzw. Sekretäre. Nach 1970 ging die Verantwortung endgültig in die Hände der Campesinos über, sowohl im sozialen Bereich als auch in der Pastoral und Verwaltung der Pfarrei. Dieser Prozess der Eigenständigkeit fand seine offizielle und kirchenrechtliche Bestätigung durch die Einsetzung eines Pastoralkomitees, das aus vier Katecheten, Campesinos, bestand. Dieses Komitee koordinierte in Absprache mit den jeweiligen Katecheten die anstehenden Kurse, die Tauf- und Ehevorbereitungen, Organisation der Patronatsfeste, die Aufgaben in der Kooperative, usw. Besonderes Merkmal der Pfarrei war auch das Entstehen einer Ronda („Nachtwache“) zum Schutz der Landbevölkerung vor organisierten Banden. Diese Rondas entwickelten sich auch zu einem basisdemokratischen Gegengewicht gegenüber der Willkür staatlicher Behörden, die zusammen mit den wirtschaftlich Herrschenden und ausländischen Interessen (z.B. Bergbau, Goldminen, etc.) jede Entwicklung, wie sie sich in Bambamarca abzeichnete verhindern suchte – oft mit Gewalt.

E) Reaktion auf Medellín

Von Anfang an war die römische Kurie entschlossen, die Versammlung von Medellín zunichte zu machen und entwickelte eine entsprechende Strategie. Die Schlüsselfigur für die Ausführung der großen Manöver der Kurie war der junge kolumbianische Priester Alfonso López Trujillo. Innerhalb von vier Jahren wurde er zum Bischof, dann zum Generalsekretär der kolumbianischen Bischofskonferenz und zum Generalsekretär des CELAM ernannt. Seine Aufgabe war es dabei, den CELAM in seiner bestehenden Form zu zerschlagen und aus dem neuen CELAM die Waffe zu machen, die Medellín ungeschehen machen sollte. Es gab den berühmten Bericht von Nelson Rockefeller, der die Gefahren der Neuorientierungen der Kirche in Lateinamerika beschwor. In Lateinamerika selbst waren die Reaktionen der herrschenden Klassen von Anfang an ablehnend, und sehr früh schon starteten die Medien eine Verleumdungskampagne, die viele Jahre lang anhielt. Die Militärdiktaturen grenzten sich von Medellín ab und erfuhren dabei innerhalb ihrer Länder einen unterschiedlichen Grad an Zustimmung. Der CELAM begann seine Offensive gegen Medellín, indem er die Idee verbreitete, Medellín würde falsch interpretiert. Der falschen Interpretation von Medellín wurden jene kirchlichen Bewegungen bezichtigt, die sich an den Lehren Medellíns orientierten. Der CELAM organisierte eine lateinamerikaweite Kampagne, die die kirchlichen Basisgemeinden als Form der Politisierung von Kirche und einer Auslieferung der Kirche an den Marxismus denunzierte.

Die römische Kurie verfügte noch über eine andere, langfristig wirkungsvollere Waffe – die Bischofsernennungen. Seit dem Ende des Pontifikates Pauls VI. tauchten Generationen von Bischöfen auf, die sich von den Bischöfen Medellíns radikal unterschieden. Sie wurden aufgrund ihrer vorbehaltlosen Treue zur römischen Politik – und nicht nur zur rechten Glaubenslehre – ausgewählt. Gleichzeitig brachte die Rückkehr zur alten Priesterausbildung Generationen von Priestern hervor, denen die Veränderungen der Welt fremd waren. Medellín wurde von den Zeitgenossen dieses Ereignisses bewahrt, aber von den neuen Generationen ignoriert. Nach Puebla trat wahrhaftig die Kirche des Schweigens auf den Plan. Die Kirche hatte auf einmal abgesehen von der Wiederholung der alten Diskurse nichts mehr zu sagen. Tatsächlich konnten die Kirchenväter der lateinamerikanischen Kirche nicht ersetzt werden. Entweder sie, oder die Leere.

F) Medellín und wir in Europa

Interview DBK: „Die Forderungen des Katakombenpakts von 1965 nach einer dienenden und armen Kirche sind heute noch genauso aktuell wie damals. Wo sehen sie diese Verpflichtungen in der Kirche in Deutschland umgesetzt?“

Knecht: Da sehe ich leider noch große Unterschiede. Die Kirche in Deutschland steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite ist sie die reichste Kirche der Welt. Sie hat die finanziellen Mittel, unglaublich viel Gutes zu tun – nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland. Das ist ein großer Schatz. Auf der anderen Seite bringt der Reichtum auch Gefahren mit sich. Er hat dazu geführt, dass die Hinwendung zu den Armen, wie sie die Kirche in Lateinamerika im Nachklang des Konzils vollzog, in Deutschland so nicht stattgefunden hat. Auf der zweiten Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín wurde der Geist des Konzils konkret auf die Lebenswirklichkeit der Leute angewandt. Die Bischöfe kamen zu dem Schluss: So wie die Menschen in Lateinamerika leben, als Arme, das ist nicht der Wille Gottes. Das ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit. Gott will nicht, dass Kinder verhungern, obwohl es genügend Nahrungsmittel gibt. Diese theologische und gesellschaftspolitische Analyse wurde so in Europa und speziell in Deutschland nicht durchgeführt. Wäre dem so gewesen, hätte man sich vielleicht als eine Kirche entdeckt, die selbst in ein ausbeuterisches System eingebunden ist und von den herrschenden Verhältnissen mit profitiert. Das wäre eine sehr bittere Selbsterkenntnis gewesen. Aber gerade diese Einsicht ist notwendig, sonst kann es keine Umkehr geben.

Theologisch (zusätzlich zu den schon genannten Schwerpunkten)

Es entstand eine neue Theologie, aus der Praxis heraus. Die Theologie der Befreiung ist die erste nicht-europäische und daher auch die erste nichtkoloniale Theologie, d.h. sie ist die erste authentisch biblische Theologie im weltweiten Kontext. Von einer anderen Perspektive aus, kann dann auch die Bibel wieder im ursprünglichen Sinn verstanden werden. Z.B. die Interpretation des Schöpfungsberichts: Die bisherige Interpretation - nämlich als Beherrschung der Natur - führt zur Zerstörung, da sie die ursprüngliche Aussage falsch verstanden hat. Sie wurde vom griech.- röm. Denkmodell her verstanden und entsprechend übersetzt und gedeutet. Das europäische Denkmodell (Kosmovision) übersetzt z.B. das hebräische Schlüsselwort „kabash“ entsprechend der eigenen Denkweise (!) mit erobern, unterjochen. Diese Deutung wurde dann durch die Kolonialisierung globalisiert. Im hebräischen Denken bedeutet „kabash“ zum „Bereich Gottes gehörend“, allgemeiner: Die Schöpfung Gottes gehört nicht uns, den Menschen. Wir können nicht über sie verfügen, sie ist uns nur geliehen. Das bedeutet im biblischen Denken: Wir müssen sie im Sinne des Eigentümers (Gott) gestalten: Im Dienste des Mitmenschen, besonders der Ausgegrenzten und in Beziehung mit allen Geschöpfen.

Siehe auch das Gleichnis vom anvertrauten Geld (Talente). Eigentliche Bedeutung: Einerseits die hemmungslose Vermehrung eines riesigen Vermögens als Beschreibung der herrschenden Realität (gegen alle jüdische Tradition) und als Gegenüberstellung und „Antithese“ die Rede vom Weltgericht als die eigentliche Botschaft Jesu: „Was ihr dem Geringsten….“ (Mt 25, 14-46). Talente vermehren: Riesiges Vermögen verfünffachen? Auf wessen Kosten? Mit welchen Mitteln? Im letzten Kapitel wird von Matthäus noch einmal das Zentrale der Botschaft Jesu, seine Identifikation mit den „Müllmenschen“, zusammengefasst. Es folgt als logische Konsequenz die Passionsgeschichte... bis heute. 

Gefangen in einer übergestülpten griech.- röm. Theologie und Philosophie, wurde die Botschaft Jesu oft in ihr Gegenteil verkehrt. Diese „imperiale Theologie“ konnte so zur Begründung für eine klerikale Kirche und für eine Kirche auf der Seite der Mächtigen statt der Ohnmächtigen werden; zur Rechtfertigung für Kolonialismus und Sklaverei, für den Vorrang von Kult und „Messopfern“ (Opfertheologie), zur Auffassung von der grundlegenden Verdorbenheit des Menschen (Erbsünde, sexistisch interpretiert), von der wir nur durch den Opfertod des Gottessohnes erlöst werden können (individualistische Heilsauffassung, die wohl durch Luthers Grundthese noch verstärkt wurde und bis heute sehr wirkmächtig ist). Schließlich diente - und sie ist es oft noch - eine solche imperiale Theologie zur Rechtfertigung unserer imperialen Lebensweise: Z.B.: Wie selbstverständlich verbrauchen wir Tag für Tag das Hundertfache an Energie, Ressourcen, etc. im Vergleich zu zu den Menschen etwa in Zentralafrika. 

Die Gier zum „immer Mehr“ wird zum Geschäftsmodell und weil angeblich alternativlos für absolut erklärt. Die Ursünde - das Nein zum Anderen - wurde globalisiert.

  • Antithese: Die Botschaft, das „Modell“ Jesu: der Nackte, Hungrige, die Müllmenschen  … werden zum absoluten Maßstab;
  • Kulturelle Revolution, die „Sitzordnung“ wird vom Kopf auf die Füße gestellt (beim Festmahl…)

Wie könnten also die befreienden Erfahrungen der Campesinos in einen Kontext übertragen werden, in dem über Jahrhunderte hinweg das Gegenteil dessen verkündet und praktiziert wurde, was Jesus verkündet und gelebt hat?

Doch entgegen dieser düsteren Diagnose deuten hoffnungsvolle Anzeichen daraufhin, dass diese über 15 Jahrhunderte andauernde „Formatierung“ nicht unüberwindbar ist.[5] Zum einen ermöglicht die von Europa seit Beginn der Neuzeit ausgehende Globalisierung zunehmend einen Blick auf die Ursachen und Folgen unserer Wirtschafts- und Lebensweise für große Teile der Menschheit, vornehmlich im „globalen Süden“. Spätestens seit dem II. Vat. Konzil und dann auf der II. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín „erhebt sich ein stummer Schrei von Millionen von Menschen, die sich von ihren Hirten eine Befreiung erbitten, die ihnen von keiner Seite gewährt wird“ (Kap 14, I,2). Zum anderen wächst im „globalen Norden“ die Einsicht, dass ein „weiter so“ kaum noch begründet und verantwortet werden kann. Zudem ist nun mehr als je zuvor der „globale Süden“ auch bei uns angekommen und sichtbar geworden, sei es durch die Präsenz der Vertriebenen als auch durch die zunehmende Kluft zwischen arm und reich auch innerhalb der reichsten Länder.

Schließlich knüpft nun auch Papst Franziskus wieder an die Dokumente von Medellín und die darin begründete Option für die Armen (um der Armen willen und solidarisch mit ihnen) an. Er spricht stets von einer notwendigen Umkehr. Das stößt an, denn er richtet sich ja an schon „Bekehrte“, so wie auch Jesus und alle Propheten vor ihm seinen Ruf an die „Frommen Israels“ richtete - mit der Konsequenz, dass sie zum Schweigen gebracht wurden. Eine Voraussetzung für die notwendige Umkehr ist - so Franziskus und weitere Dokumente lateinamerikanischer Bischofskonferenzen - den Schrei der Hungernden nach Brot und nach Gerechtigkeit (und neu: den „Schrei der Mutter Erde“) zu hören und ihn als Anruf Gottes an uns alle zu verstehen. Dies wäre auch die Voraussetzung zur Überwindung der Kirchenspaltung, die vorrangig darin besteht, dass die einen Christen auf Kosten der anderen Christen leben. (Und nicht darin, ob z.B. konfessionsverschiedene Ehepaare gemeinsam zur Kommunion gehen dürfen). 

Epilog

In Anlehnung an das Gleichnis vom Sämann lässt sich der Befund der sozialpastoralen Arbeit in Bambamarca seit 1963 in einem Bild ausdrücken, das vielleicht eher als eine rein analytische Betrachtung den Kern des Problems, um das es hier geht, trifft. Das biblische Gleichnis vom Sämann ist bei den Campesinos sehr populär, ebenso das Bild von dem Weizenkorn, das sterben muss, damit daraus Nahrung und Leben für eine menschliche Gemeinschaft entstehen kann. Diese biblische Sprache gleicht der alltäglichen Sprache der Campesinos und der Wahrheitsgehalt dieser Bilder erweist sich in ihren alltäglichen Erfahrungen - sei es direkt in der Natur oder im Leben jedes einzelnen Menschen.

So ist in der Diözese Cajamarca und noch mehr in Bambamarca heute die Rede von einem Sämann sehr verbreitet, der eine frohe Botschaft gebracht hat und dessen Saat sowohl auf fruchtbaren als auch auf steinigen Boden gefallen ist. In einen Topf guter Erde wurden Samenkörner gelegt. Sie wurden gehegt und gepflegt und aus den Samenkörnern wurden Pflanzen, die eine reiche Ernte verhießen. War der Topf anfangs notwendig, um die Erde und den Samen zu schützen, so erwies er sich bald als zu klein und drohte, die schnell wachsenden und blühenden Pflanzen am weiteren Wachstum zu hindern. Ein Umpflanzen in einen weit größeren und durchlässigen Topf oder am besten ein Einpflanzen in die freie und weite Erde, hätte das Wachstum der Pflanzen und das Reifen der Früchte ermöglicht. Stattdessen droht Gefahr, dass viele der noch jungen Pflanzen und Blüten verwelken, bevor sie überhaupt zur Reife gelangen konnten. Es fehlen ihnen Luft und Wasser wegen der Enge des Topfes. Einige Pflanzen aber werden überleben und noch widerstandsfähiger sein als zuvor - vielleicht gerade deswegen, weil sie die Kraft hatten, die harte Schale des Topfes zu zerbrechen und Wurzeln schlagen konnten in der Erde, die als Mutter aller Menschen diese nährt und sie wachsen und reifen lässt. Denn dafür wurde sie von Gott geschaffen. Wird der Topf aber zum Selbstzweck oder gar zum absoluten Maßstab, dann ist man aus einer Angst heraus, der Topf könnte Schaden nehmen, schnell bereit, die Pflanzen herauszureißen, um den Topf zu retten. Ist dieser Topf auch noch mit lieblichen Blumenmustern und sonstigen Schnörkeln versehen, besteht zudem die Gefahr, die Dekoration mit dem Inhalt zu verwechseln bzw. diesen als gefährliche Konkurrenz zu deuten und dann auch entsprechend zu behandeln. Die gegenwärtigen Ereignisse in der Kirche von Bambamarca und in der Diözese Cajamarca lassen den Schluss zu, dass die beschriebene Gefahr eingetreten ist und der Glaube der Armen als Unkraut definiert wird, das herausgerissen und verbrannt werden muss.

Im Blick auf die deutsche und weltweite Kirche gilt es, sieben Punkte festzuhalten:

  1.    Die Kirche besitzt aus sich selbst heraus die Kraft, ihre Strukturen, Methoden und ihre gesamte Art und Weise der Pastoral und der Verkündigung zu ändern, wenn sie die entsprechenden Prioritäten setzt - das Evangelium und die Bedürfnisse der Menschen, vorzugsweise der Armen. Innerhalb von 30 Jahren (seit dem Beginn des Konzils 1962) ist es gelungen, über 400 Jahre äußerster Entfremdung trotz heftigster Widerstände zu überwinden und einen Neuanfang zu wagen.
  2.   Das Beispiel Bambamarca zeigt, dass die Kirche die Kraft besitzt, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und zu einem wichtigen gesellschaftlichen Faktor zu werden - nicht im Sinne eines Bundes mit den Mächtigen, sondern als Anwalt und Stimme der Ohnmächtigen. Für die deutsche Kirche würde dies bedeuten, dass sie dann als ernstzunehmender Faktor in der Gesellschaft wahrgenommen werden wird, wenn sie sich auf die Verkündigung der „Guten Nachricht“, auf ihren spezifisch ureigenen Auftrag, besinnen würde - im Sinne einer Verkündigung in der Nachfolge Jesu, einem Verzicht auf alle staatlichen Privilegien und im entschiedenen Widerstand gegen die Götzen dieser Welt.
  3. Angesichts zunehmender Schwierigkeiten der christlichen Verkündigung (Glaubenslehre, Vermittlung, Glaubwürdigkeit, Bibel- und Gottesverständnis, Glaubenserfahrungen etc.), einer Erosion fundamentaler Glaubensinhalte selbst bei kirchlich Aktiven und Bedeutungsschwund christlicher Kirchen, kann ein Blick und ein Hören auf die Zeugnisse gelebten Glaubens der privilegierten Adressaten der Verkündigung Jesu den reichen Kirchen helfen, den Auszug aus dem „Goldenen Käfig“ zu wagen. Sie schreiben die Erfahrungen und die Geschichte der ersten Christen fort. Sie bilden daher für uns eine Brücke zum Zugang der Botschaft Jesu und dem Glauben der ersten Christen, zu dem wir „räumlich und zeitlich“ aus verschiedenen Gründen kaum noch einen Zugang haben (selbst wenn wir ihn suchen wollten).
  4.  „Wir sind Kirche“: Die Campesinos von Bambamarca verstehen sich als Kirche. Sie sind als Gemeinde und Gemeinschaft von Gemeinschaften das Volk Gottes. Dieses Volk wird von Christus selbst berufen und konstituiert. Jeder Getaufte sowie die Gemeinschaft der Gläubigen als Ganzes sind dazu berufen. Sie haben Anteil im vollen Sinne an allen „Ämtern Christi“: dem messianischen, priesterlichen und prophetischen Amt. Sie haben das Wort Gottes gehört und verkünden die Frohe Botschaft vom Beginn eines neuen Lebens und dem Anbruch des Reiches Gottes. Im Volk Gottes, das von Gott berufen ist, gibt es zwar unterschiedliche Aufgaben und Charismen, aber keine wesensmäßigen Unterschiede zwischen den Gliedern des einen Leibes. Mit anderen Worten: Die Kirche von Bambamarca zeigt uns, was die Umsetzung des Konzils in die alltägliche Glaubens- und Gemeindepraxis bewirkt und dass diese Botschaft bei uns (und in Rom) noch nicht ganz angekommen ist. Alle Getauften sind im vollen Sinne verantwortlich für die Inhalte, Verkündigung und die gelebte Praxis des Glaubens in der Nachfolge Christi. Sie respektieren und wünschen sich einen Bischof von Rom, der im Namen aller spricht.
  5. Solange die Option für die Armen nicht strukturell (als „Dogma“) in der Kirche verankert ist, kann jeder Bischof (Papst, Pfarrer) nach Belieben die Arbeit seines Vorgängers zerstören oder auch nicht. Solange nicht die befreienden Erfahrungen der Armen genauso viel Gewicht haben, wie römische Erlasse oder oberhirtliche Verlautbarungen (es sei denn, diese Erlasse gingen von solchen Erfahrungen aus, wie u.a. bei Dammert oder in Medellín), solange wird es nicht zu einer Kirche kommen, wie sie im Zweiten Vatikanischen Konzil und dann vor allem in Medellín sich abzuzeichnen begann: eine Kirche der Armen als „Zeichen des Heils“ und als Alternative zu den Götzen dieser Welt. Wir sind aufgerufen, uns zusammen mit den „Hirten von Bethlehem“ auf den Weg zu machen, das Konzil als Wegemarke zu beachten und es weiter zu schreiben.
  6. Es kann eine direkte Linie von den Erfahrungen der ersten Christen zu den Erfahrungen der Campesinos und den „Indios dieser Welt“ gezogen werden. Der Umweg über die europäische Theologie und europäische Art von Kirchesein - zumal im Kontext der Conquista und einer immer noch andauernden Weltherrschaft - erweist sich als Sackgasse. In der Praxis und den Erfahrungen der Diözese Cajamarca zeigen sich erstmals die Umrisse eines nichteuropäischen Christentums, ausgehend von den Rändern dieser Welt und von den Menschen, die unter die Räuber gefallen sind. Nach über 1500 Jahren besteht nun die Chance, mit Hilfe der „Hirten von Bethlehem“ den Weg zu Jesus in der Krippe zu finden und ihn als den Messias zu erkennen.  Es ist keine Schande, sich von den Armen diesen Weg zeigen und sich von ihnen die Geschichte Gottes mit den Menschen erzählen zu lassen. Sie sind es doch, denen Gott besonders nahe steht und mit ihnen gehen dürfen heißt, die Einladung Gottes anzunehmen und seiner Berufung gerecht zu werden. Es sind die Indios und Ausgegrenzten, denen sich der Himmel öffnete und denen zuerst die Botschaft von Jesus dem Messias verkündet wurde. Deutsche Gemeinden, die sich den Standpunkt ihrer Partner zu eigen machen, werden von dem neu gewonnenen Standpunkt aus ebenfalls „den Himmel schauen“ können. Wer aber in diesem Goldenen Käfig eingeschlossen bleibt, wird nur sehr schwer das Wort Gottes, das von außerhalb kommt, hören können. Begegnungen mit den Opfern der Geschichte können zum Schlüssel werden, um diesen Käfig zu verlassen und Gott auf der Seite der Armen zu entdecken.

Beispiel Gemeinde-Partnerschaft: (Fazit meiner Studien über Gemeinde-Partnerschaften)

Für deutsche Gemeinden und die deutsche Kirche bedeutet dieser Weg, auf vieles zu verzichten. Doch bei genauerem Hinsehen und Ausprobieren wird man erfahren, dass es nur Ballast war, den man weggeworfen hat und nun frei ist, ohne Rücksicht auf Privilegien das Wort Gottes zu verkünden. Gelebte Solidarität, z.B. die Partnerschaft mit einer armen Gemeinde, erleichtert den Aufbruch. Sie macht Umkehr möglich bzw. sie ist der erste Schritt zur Umkehr. Eine Partnerschaft ist eine praktische und praktikable Option für die Armen und mit den Armen. Sie ist kirchenbildend, weil sie Einheit (mit den Ausgegrenzten) stiftet. Gemeinsam auf dem Weg sein, Brotteilen und miteinander an dem Mahl teilnehmen dürfen, zu dem Jesus eingeladen hat, ist konstitutiv für das Volk Gottes, sie ist das sichtbare Zeichen einer sonst nur abstrakt gedachten (nicht wirklich erlebten) Weltkirche: einer Gemeinschaft, in der Arme und Reiche an einem Tisch sitzen und gemeinsam das Brot des Lebens essen. Eine solche Gemeinschaft in Partnerschaft ist das Sakrament einer wahrhaft universellen Kirche: Partnerschaft zwischen armen und reichen Gemeinden ist das Sakrament des Volkes Gottes, der weltweiten - d.h. wahrhaft katholischen Kirche.

Schlusswort Oscar Romero:  “No hagamos la impresión de ser dos Iglesias, sino que somos una sola Iglesia en la línea proclamada por el magisterio de esa Iglesia, sobre todo para los tiempos nuevos en el Concilio Vaticano II y en los documentos de Medellín” (Homilía 02-10-1977).

«Por eso llamó a hacer un esfuerzo para que todo lo que nos ha querido impulsar el Concilio Vaticano II, la reunión de Medellín y de Puebla, no sólo lo tengamos en las páginas y lo estudiemos teóricamente, sino que lo vivamos y lo traduzcamos en esta conflictiva realidad» (Homilia 23-03-1980). “Lasst uns anstrengen, dass wir alles, was das Konzil und Medellín angestoßen haben, wir nicht nur lesen und theoretisch diskutieren, sondern dass wir es leben und es übersetzen in diese unsere so konfliktreiche Realität hinein”.


*[In der Enzyklika „Fidei Donum“ von Papst Pius XII. (21.4.1957) und im II. Vat. Konzil (LG 23) wurde die Verantwortung der Bischöfe für die Weltkirche herausgestellt und angemahnt. Von Emil Stehle, Geschäftsführer von Adveniat, stammt die Idee, die in Lateinamerika tätigen Weltpriester nach dem Rundschreiben von Pius XII. „Fidei-Donum-Priester“ zu nennen. Die Diözese Rottenburg entsandte 1966 die ersten Fidei-Donum-Priester nach Argentinien, Gerhard Vogt und Josef Majer.

[1] Dammert: „El rol del laico cristiano en el mundo de hoy“. Vortrag anlässlich eines Besinnungstags am 22. Mai 1965 in Cajamarca.

[2] Aus „Kreuzweg der Campesinos“, 1. Station. Bilder und Text von José Espíritu, Maler und Katechet aus Bambamarca, der zusammen mit Candelario Cruzado die Kommentare zum Kreuzweg verfasste. Die Kommentare beziehen sich auf das Gemälde zur 1. Station, dem Letzten Abendmahl, auf dem der „Campesino Jesus“ inmitten seiner Freunde das Brot bricht und teilt.

[3] Sowohl in persönlichen Gesprächen als auch in seinen Briefen (u.a. an die Bischöfe des Katakombenpakts, zu deren Koordinator er geworden war) wies er des Öfteren darauf hin. Als ich dies auch in einem Artikel über ihn veröffentlichen wollte (1998) bat er mich, dies zu unterlassen, denn er wolle als emeritierter Bischof nicht in aktuelle Diskussionen eingreifen. Nun aber darf man dies wohl zitieren.

[4] Lateinamerika als Missionsgebiet – nach 400-jähriger Missionierung und fast alle getauft? Wie sieht es nun in Deutschland (Europa) aus? Wäre es nicht an der Zeit, Deutschland auch zum Missionsgebiet zu erklären, allerdings mit einer entsprechenden Botschaft?

[5] "Die Mauern des Gefängnisses scheinen unüber­windlich. Der von Gott verheißene Weg aus dem Sklavenhaus in das Gelobte Land scheint versperrt und alle Schlupflöcher bestens unter Kontrolle. Der Siegeszug der Globalisierung scheint unaufhaltsam und ohne jede Alternative. Doch nichts und niemand ist allmächtig in dieser Welt. Von den Armen her wird jede Herrschaft relativiert und dann auch gestürzt wer­den, weil Gott mitten unter ihnen Mensch geworden ist. `Die Unterdrückten richtet er auf und die Herren bringt er zu Fall` (Lobgesang der Maria von Nazareth in Vamos Caminando).“ (Aus: Willi Knecht: „Die Kirche von Cajamarca- die Herausforderung einer Option für die Armen“, Dissertation 2004).