Laudato Si – ein Wendepunkt
Die nachfolgenden Texte sind (in kleiner Auswahl) Zeugnis einer Option und Praxis im Geiste der Enzyklika. Sie können - am Tag nach dem Erscheinen der Enzyklika - auch als „Auslegung“ bzw. Hermeneutik dieser Enzyklika verstanden werden. Es geht um die Andine Kosmovision, TTIP, Gott oder Gold, u.a. Die Texte weisen auch auf die Ursprünge einer befreienden Pastoral seit 1963 (Kirche der Armen, Kirche der Befreiung) hin, die bei uns nicht so wahrgenommen werden konnten und die vielleicht helfen, Papst Franziskus besser verstehen zu können.
Für mich ist diese Enzyklika nicht zuerst eine ökologische, soziale, grüne, politische oder wie auch immer Enzyklika, sondern ein Glaubenszeugnis voller jesuanischer, franziskanischer Spiritualität aus der Mitte der Botschaft Jesu heraus (so würden dies auch die Campesinos verstehen wollen - und sie verstehen diese Sprache).
Sie hat das Potential, einen Wendepunkt in der Kirchengeschichte festzuschreiben: Von einer europäischen (griech.- röm.) Kirche hin zu einer wahrhaft katholischen (allumfassenden) und evangelischen Kirche (das Evangelium als Fundament) – ausgehend von den Opfern der Geschichte und den Opfern der global herrschenden Wirtschaftsordnung.
Die folgenden Artikel erscheinen im Juli 2015 (siehe unten). Sie bilden m.E. eine theologische Einheit bzw. eine Zusammenschau verschiedener Aspekte: „Gerechtigkeit - Friede - Bewahrung der Schöpfung“. Sie analysieren und deuten aus der Perspektive derer, die unter Räuber gefallen sind, die „Welt“ (Wirtschaft, Politik, Gesellschaft). Dies ist die authentisch biblische Perspektive – vom Exodus, den Propheten und letztlich bis zu Jesus dem Messias. In der Enzyklika „Laudato si – Über die Sorge um das gemeinsame Haus“ von Papst Franziskus werden dieser biblische Glaube und diese jesuanische Spiritualität erstmals „päpstlicherseits“ wieder in die Mitte unseres Glaubens gestellt. Der Schrei der Armen nach Gerechtigkeit und der Aufschrei der misshandelten Mutter Erde werden zur Leitlinie unserer Praxis, einer Praxis, die bereits viele Menschen mit ihrem Leben bezahlen mussten. Sie sind uns voraus gegangen auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der alle Kinder Gottes in Würde leben können, insbesondere diejenigen, deren Würde systembedingt und „nachhaltig“ mit Füßen getreten wird.
Die nachfolgenden Texte sind (in kleiner Auswahl) Zeugnis einer solchen Option und Praxis. Sie können - am Tag nach dem Erscheinen der Enzyklika - auch als „Auslegung“ bzw. Hermeneutik dieser Enzyklika verstanden werden. Sie wurden geschrieben für drs.global.de sowie "Der geteilte Mantel" (erscheint Juli 2015), den weltkirchlichen Veröffentlichungen der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
Willi Knecht, Ulm den 19. Juni 2015
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„Buen Vivir“ wird zunehmend als mögliche Alternative für das von Europa ausgehende „liberale“ Wirtschaftsmodell diskutiert. Leider werden in der aktuellen Diskussion um „Buen vivir“ die tieferen Zusammenhänge (kulturell, phil.- theol.) kaum verstanden oder willkürlich benutzt. Die spirituellen Grundlagen der andinen Weltsicht, wie auch anderer Jahrtausende alter Kulturen, können Auswege aus der Sackgasse aufzeigen, in die uns das „christliche Abendland“ weltweit geführt hat. Neue, bzw. vergessene Auffassungen vom Leben, eine völlig andere Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens und des Umgangs mit der Natur sind gefragt. Die Vision „Buen vivir“ beruht auf der „Cosmovisión andina“, der Weltschau der Andenvölker (Ekuador, Peru, Bolivien). „Buen vivir“ ist daher etwas völlig anderes als Wachstum und Entwicklung, wie sie in der westlichen Welt verstanden werden.
II. a) Freihandelsabkommen als das Betriebssystem und Instrument der neoliberalen Weltordnung
– aus der Perspektive einer Kirche der Armen –
Selbstverständlich ist es längst überfällig, dass zwei weltweit bestimmende Handelsblöcke viele Hindernisse untereinander aus dem Weg räumen, damit Handel und Wandel besser funktionieren. Zu viele nationale Eigenheiten, Vorschriften, Einschränkungen und staatliche Eingriffe bremsen die Dynamik des freien Handels und die Wachstumskräfte, die notwendig sind, um auch in Zukunft im Wettbewerb mit aufstrebenden Mächten bestehen zu können. Zudem sind bessere Bedingungen für den freien Handel deshalb notwendig, um das stetige Wachstum generieren zu können, ohne das diese Art des Wirtschaftens nicht funktionieren kann. Und solange die Mehrheit unserer Bevölkerung noch Spargel, Mangos und Bananen zu jeder Jahreszeit und möglichst billig auf dem täglich schon überreich gedeckten Tisch haben will, wird diese Spirale sich weiterdrehen.
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II. b) Zusätzliches Wachstum durch TTIP – und für wen?
Das Transatlantische Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen den USA und der EU erhitzt die Gemüter. Selten gingen wegen eines Handelsabkommen so viele Bürger auf die Straße, denn sie ahnen: Hier geht es um mehr als ein bloßes Handelsabkommen. Es geht um die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Es ist eine Frage nach den Werten, die uns leiten. Es geht um unser Verhältnis zu Natur und Umwelt, zur Art und Weise unseres Wirtschaftens und unseres Zusammenlebens in Gesellschaft und Staat.
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III. a) Gott oder das Gold – an wen glaubst du?
„Es geschah, dass ein Häuptling alle seine Leute zusammenrief. Jeder sollte an Gold mitbringen, was er hatte, und alles sollte dann zusammengelegt werden. Und er sagte zu seinen Indianern: Kommt, Freunde, das ist der Gott der Christen. Wir wollen vor ihm singen und tanzen, dann fahrt auf das Meer hinaus und werft es hinein. Wenn sie dann sehen, dass wir ihren Gott nicht mehr haben, werden sie uns in Ruhe lassen.“ (Bartolomé de Las Casas, 1552)
Spanische Theologen des 16. Jahrhunderts bezeichneten das Gold als ein Geschenk Gottes, der in seiner göttlichen Vorsehung die heidnischen Völker mit unvorstellbaren Goldvorkommen ausgestattet hat, damit auf diese Weise die Christen den Weg zu diesen Völkern finden, um die Heiden zu taufen und sie so vor der Hölle zu bewahren. „Dorthin, wo es sie gibt, das Evangelium im Fluge und um die Wette kommt, während dort, wo es sie nicht gibt, sondern nur Arme, dies ein Mittel der Zurückweisung ist, denn dorthin kommt das Evangelium niemals...“. (Aus dem „Gutachten von Yucay“, das entscheidenden Einfluss auf die damalige Theologie und Politik hatte).
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III. b) Gott und Gold – Wie viel ist genug? (Gedanken zum Misereor-Hungertuch)
In der Geschichte Gottes mit den Menschen geht es immer zuerst darum, an welchen Gott sie glauben: An den Gott des Lebens oder an die Götter des Todes. Von der Exodus-Geschichte – der Tanz um das Goldene Kalb - über die biblischen Propheten bis zu Paulus wird berichtet, dass die Menschen immer wieder der Versuchung erliegen, sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse zum absoluter Maßstab zu machen, mehr haben und mehr sein zu wollen als der andere. Dies ist in der Sprache der Bibel die „Ursünde“. Der Bruch mit Gott, mit den Mitmenschen und der Schöpfung.
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IV. Zum Ende des Konzils vor 50 Jahren (8. Dezember 1965)
Schriften über das Konzil, dessen Rezeption, Auswirkungen, inneren Widersprüche usw. füllen Bibliotheken. Und das ist gut so. Aber entscheidender ist die vom Konzil her entstandene Praxis. In unseren Breitengraden sind das zuerst die Liturgiereform und die Mitsprache der Laien (Räte). Die theologischen Fundamente sind die Wiederentdeckung des Volkes Gottes als Träger der Evangelisierung, die Hinwendung zur Welt (ad extra) und die Abkehr von einer „societas perfecta“, einer Gesellschaft, die aus sich heraus alles hat, was sie zum Leben braucht, also autark ist. Im 4. Jh. nach Chr. wurde dieser Begriff auf die Kirche übertragen und bis ins 20. Jh. so definiert, dass der Kirche von Gott alles gegeben wurde, was sie zu ihrer Existenz braucht. Sie braucht „die Welt“ nicht, sie ruht in sich und für sich. Sie regelt alles aus sich selbst heraus. Nach dem Konzil dürfen wir sagen:
Das war eine Sackgasse. Das war und ist nicht kompatibel mit der Botschaft von Jesus dem Christus.
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Ungerechtigkeit und Gewalt – die Kirche als Friedensstifterin
„Der Frieden ist vor allem ein Werk der Gerechtigkeit. Er erfordert die Errichtung einer gerechten Ordnung, in der sich die Menschen als Kinder Gottes verwirklichen können, in der ihre Würde geachtet wird und ihre legitimen Erwartungen befriedigt werden. Den Frieden erlangt man nur, indem man eine neue Ordnung schafft, die eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt“. So schreiben die lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín 1968 und zitieren damit das 2. Vat. Konzil (Gaudium et Spes, Nr. 78, 76).
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Nachtrag 2016: „Laudato si“: Aus der Podiumsdiskussion auf dem Katholikentag in Leipzig
Positiv
- Prophetische Sprache (Stil) des Papstes (wird gerade deswegen oft kritisiert); Zutrauen (optimistisch, nicht Kulturpessimismus): „Kehrt um, ihr könnt dies ändern“!
- Interreligiöse Basis: Gemeinsames Bemühen um ein „gutes Leben“ für alle (G-F-S), auch mit nichtkirchlichen Organisationen und Bewegungen, erstrecht ökumenisch > Eine Kirche
- Forderungen: Endlich europäische Bischofssynode zu GFS (wie Medellín?); Weltkirche (Kath.) - Ökologie, Gerechtigkeit etc. als zentrale christliche Botschaft – muss auch institutionell mehr gestärkt werden – (Trend in KG eher umgekehrt!).
- Eine Mystik, die uns antreibt, zu diesem Wandel zu kommen
Nicht gesagt wurde:
- Wird als „neu“ eingeschätzt; bisher so nicht gehört – d. h. Medellín etc. nie davon Kenntnis!
- von einer röm. – zu einer kath. Kirche (auch: griech. Philosophie und röm. Recht, Individual.
- Wir als reichste Kirche Teil und Nutznießer des globalen Unrechtssystems – was heißt da Umkehr?
- Die „Option für die Armen“ als eine zentrale biblische Aussage wurde immer noch nicht verstanden – weil nicht aus der Perspektive derer, die dies aus einer befreienden Praxis heraus erfahren und gelebt haben, nicht aus einer existentiellen Perspektive der Opfer.
- Enzyklika wird als ethisches Schreiben, nicht theol.-biblisch gesehen! Daher sind Theologen überrascht über die spirituelle, fromme Sprache des Papstes (gilt als nicht-wiss.)
- DER Maßstab: der „nackte“ Mitmensch , im gekreuzigten Nächsten Gott begegnen……