"Eine Kirche, die den Menschen dient, muss diese Orte der begegnung mit Gott und den Nächsten erst entdecken, sie muss aufbrechen und sich auf den Weg machen - erstrecht, wenn sie in einer „Wohlstandsgesellschaft“ derart fest verankert ist, dass sie von dieser kaum zu unterscheiden ist. Sie muss ausziehen, nach draußen gehen, vor die Tür – zu den Menschen im Straßengraben, die unter die Räuber gefallen sind, dann wird sie zur Gemeinschaft derer, für die Jesus der Messias ist. Das wäre dann echte Erneuerung!"

Gaudium et Spes: Auf der Basis eines Vortrags von Prof. DDr. H. J. Sander

Eine Beschäftigung mit dem Konzil ist nicht nur Aufgabe für Historiker. Es gibt vergangene Ereignisse, die für die Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft von entscheidender Bedeutung sind. Bei solchen Ereignissen muss man neben den Quellen die Auswirkungen und Veränderungen im Auge behalten, die von solchen Ereignissen angestoßen worden sind. Ein Merkmal solcher Ereignisse ist, dass sie einen Weg in die Zukunft gewiesen haben (rückblickend). Sie können sogar Lösungen anbieten für Probleme, die zukünftig erst noch auftreten werden.Das Dokument „Gaudium et spes“ (GS) gehört in diese Kategorie wegweisender Ereignisse. Es zeigt exemplarisch die Herausforderung der damaligen Zeit (1965), der Gegenwart und der Zukunft auf. Es ist daher in seinen Grundaussagen und Grundintentionen gültig – unabhängig von dem konkreten Anlass.

Freilich gilt es, die Herausforderungen je neu zu formulieren bzw. als solche zu entdecken. Dies ist unsere Aufgabe heute. Solche Ereignisse (GS) haben die Eigenschaft, das, was uns heute als großes Problem erscheint, was uns unter Druck setzt, was uns ratlos machen kann, in einem neuen Licht zu sehen. Von diesem neuen Blickwinkel (Standort) aus bieten sich dann möglicherweise unverhoffte Lösungen an, weil dieser neue Blick eine Kreativität frei setzt, die „Berge versetzen“ kann. Es handelt sich bei GS nicht um irgendein Dokument, sondern es hat höchste und bleibende Autorität und Verbindlichkeit. Karl Rahner nennt dieses Dokument die eigentliche Frucht des Konzils und er bezeichnet es als den „Anfang eines Anfangs“ (will heißen: es steht am Anfang eines Weges, den wir erst noch gehen müssen und dürfen).

Für uns heute bedeutet dies, erstrecht angesichts der drängenden Probleme, diesen Text neu zu entdecken. Denn er lässt die Kirche nicht los und drängt uns, uns den eigentlichen Fragen und Herausforderungen zu stellen (obwohl wir das oft gerne vermeiden würden) und einen neuen Anfang zu setzen. Daher ist die Entscheidung der Diözese, im Rahmen des Erneuerungsprozesses einen Studientag zu „Gaudium et spes“ zu machen, eine mutige und gute Entscheidung. Johannes XXIII. hat dem pastoralen (!) Aspekt des Lehramtes nach vielen Jahrhunderten wieder oberste Priorität gegeben. Er hat damit das Lehramt neu definiert: im Dienste und zum Wohl der Menschen. Er hat damit auch einen neuen Maßstab und ein grundlegendes Kriterium für Kirchesein (sowohl nach Innen als auch nach Außen, auf die Welt hin) eingeführt: die Menschenrechte. Menschenrechte und Evangelium werden in eine elementare Beziehung gesetzt.

Die Identifizierung der Kirche (wer - was ist Kirche? Entstehungsgeschichte von GS)

Kardinal Suenens (u.a.) brachte mit Zustimmung des Papstes die Vorlage der Kurie (Ottaviani) zu Fall und stellte das Thema „Kirche“ in den Mittelpunkt, in zweifacher Perspektive: „ad intra“: was sagt die Kirche über sich, wie sollte sie sein, ihre Aufgaben, etc. Und „ad extra“: was hat die Kirche der Welt und den Menschen zu sagen. Daraus entstanden dann die beiden wesentlichen Konstitutionen des Konzils: „Lumen gentium“ (ad intra) und GS (ad extra). Es standen sich auf dem Konzil – nachdem die Vorlage der Kurie ad acta gelegt worden war – zwei „Fraktionen“ gegenüber, die französische und die deutsche. Die Deutschen waren gegen GS eingestellt (u.a. Bischof Hengsbach, Rahner, Ratzinger). Begründung: „Wir verstehen nichts von Wirtschaft …etc., also sagen wir dazu nichts). Vor allem Josef Ratzinger meinte, dass in GS viel zu viel von der „Welt“ gesprochen wird und der Text insgesamt viel zu optimistisch sei. Die „Franzosen“ waren viel visionärer und trauten der „Welt“ und den Menschen viel mehr zu.

Die „Deutschen“ wollten lieber über die Kirche als „societas perfecta“ reden, im Sinn von Augustinus, wonach „die Welt“ von Grund auf verdorben sei und allein durch das Opfer des Messias gerettet werden könne und daher alles menschliche Bemühen z.B. um mehr Gerechtigkeit auf dieser Erde von vorneherein zum Scheitern verurteilt sei. Und noch mehr: nach Ratzinger ist dieser Glaube, ist der Einsatz für mehr Frieden und Gerechtigkeit eher ein Zeichen von Gottlosigkeit bzw. Hybris (sich an die Stelle Gottes setzen wollen, statt auf Gott zu vertrauen). Von hier aus lässt sich übrigens eine direkte Linie zu der „Freiburger Rede“ von Benedikt XVI. ziehen. Aus seiner Sicht ist der Weltbegriff zu wenig theologisch, vielmehr sei es Aufgabe der Theologen, sich an die göttliche Offenbarung zu halten, wie sie vom Lehramt bereits endgültig definiert worden ist.

Der Weltbegriff von GS (diese Auffassung wurde von dem franz. Theologen Chenu vorgetragen, unterstützt von Kardinal Suenens, Belgien, und Johannes XXIII.) ist aber ein anderer und nicht so wie von Ratzinger unterstellt. GS spricht von dieser Welt als Schöpfung Gottes, geschaffen für den Menschen und zu dessen Heil. GS spricht von der Aufgabe der Kirche in dieser Welt von heute, so wie sie nun mal ist. Sie spricht von ganz konkreten Menschen, von deren ganz konkreten Sorgen und Nöten, Hoffnungen und Sehnsüchten. Und sie spricht davon, wie die Kirche diesen konkreten Menschen dienen kann, ihnen helfen kann, den Weg zu Gott und den Mitmenschen zu finden. Und mit dieser Haltung kehrt sie wieder auf den Weg von Jesus dem Christus zurück, der auf die Menschen zugegangen ist, sie umarmt hat und sie so geheilt hat. Diese Welt von heute gilt es mit allen ihren Problemen, Gefährdungen etc. wahrzunehmen als Heimat dieser Menschen. Will man die Menschen wirklich ernst nehmen, muss man von ihrer Situation ausgehen, eben von der Welt, in der sie konkret leben – ob man diese Welt so mag oder nicht! Diese „Weltsicht“ des Konzils lehnt aber auch der heutige Papst entschieden ab.

GS will eine Analyse von Gesellschaft, d.h. von Kultur, Wirtschaft, Politik – von all den „Mächten“, die das Leben der Menschen bestimmen. Sie fragt nach den Ursachen z.B. von Elend, Hunger, etc. Und dies setzt sie in ein Verhältnis zu der „Rede von Gott“ bzw. zur Botschaft des Evangeliums. „Im Lichte des Evangeliums die Verhältnisse in dieser Welt, die Lebenssituationen der Menschen und Völker, zu betrachten, zu deuten und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen“ – das wurde in der Folge des Konzils vor allem in Lateinamerika zu einer Maxime des pastoralen Auftrags und Handelns der Kirche in der Welt von heute.

Die Kirche verabschiedet sich auf dem Konzil von einem Konzept, das die Kirche in Lehre und Praxis über viele Jahrhunderte geprägt hat: das Konzept einer „societas perfecta“. Das wird u.a. deutlich in dem neuen Verständnis von Pastoral. Pastoral (Praxis) und Dogma (Lehre) werden als gleichwertig gesehen, vor dem Konzil ging es nur um das Dogma, um die Reinheit der Lehre. Pastoral und Dogma bilden nun aber keinen Gegensatz, sondern sie bedingen sich einander. In der „societas perfecta“ spielt dagegen die konkrete Praxis bzw. die Auswirkungen einer Lehre, z.B. ob menschenfreundlich oder nicht, (fast) keine Rolle. Der Begriff, ein politischer Begriff, stammt von Platon (4. Jh. vor Chr.) und meint eine Gesellschaft, die aus sich heraus alles hat, was sie zum Leben braucht, also autark ist.

Im 4. Jh. nach Chr. wurde dieser Begriff auf die Kirche übertragen und bis ins 20. Jh. so definiert, dass der Kirche von Gott alles gegeben wurde, was sie zu ihrer Existenz braucht. Sie braucht „die Welt“ nicht, sie ruht in sich und für sich. Sie regelt alles aus sich selbst heraus. Sie ist ein Machtkonzept. Sie hat eigenes Recht, eigenes Territorium, eigene Bildungseinrichtungen usw. Sie sieht die weltlichen Einrichtungen, den Staat und die „Welt an sich“ bestenfalls als gleichwertig, aber sie ist nie von einer Gesellschaft abhängig. Hauptaufgabe der Dogmatik war, dies theologisch zu begründen. Diese Begründungen fanden aber ihr Fundament nicht in der Botschaft Jesu, sondern u.a. in der altgriechischen Philosophie. Mit anderen Worten: die Fundamente, von denen her sich die Kirche bestimmt, sind ihre eigenen Konstrukte. Ihr Verhältnis zur Welt ist derart, dass sie selbst zwar die Welt nicht braucht, sie zwar in ihrer „Sendung“ auf die Welt zugeht, sie aber eigentlich
als etwas ihr Fremdes ansieht. Der Welt gegenüber wird sie auf dreifache Weise „sichtbar“:

  1. durch in einheitliches Glaubensbekenntnis (man kann bestimmen, wer dazu gehört und wer nicht);
  2. durch den sichtbaren Zugang zu den Sakramenten (öffentliches Bekenntnis seines Glaubens) und
  3. durch die sichtbare Leitung der Kirche (Hierarchie) in Person des Papstes und der Bischöfe.

Dieses Konzept wurde auf dem Konzil überwunden, speziell durch GS. Nicht die Kirche bestimmt aus sich heraus, wie die Welt zu sein hat, sondern sie öffnet sich nun der Welt und lässt die Sorgen und Nöte der Welt und der Menschen herein, sie identifiziert sich sogar damit. Die Fragen der Menschen gehen ein in die Kirche und die Kirche braucht daher keine Antworten mehr zu geben auf Fragen, die niemand gestellt hat. Sie findet ihre Antworten nicht, weil sie ein unerschöpfliches und geoffenbartes Depot von Antworten hätte, sondern sie findet Antworten gemeinsam mit den Menschen auf der Suche nach der Wahrheit. Man kann das Evangelium nicht verstehen, ohne die Menschen zu verstehen und man keine Antworten geben, wenn man die Fragen der Menschen gar nicht kennt oder sie gar nicht hören will. (Die Kurie hatte dem Konzil ja noch – siehe oben – einen fertigen Katalog von Antworten vorlegen wollen, doch Johannes XXIII. hat das Papier zerrissen).

Man wechselt vom „wer“ einer selbstbestimmten Religionsgemeinschaft zum „wo“ einer ausgesetzten Pastoralgemeinschaft, d.h. von den Menschen her, die sich ganz konkreten Situationen ausgesetzt sehen. Die Kirche von heute hat ihren Ort in der Welt von heute und bei den Menschen von heute. Dieser Ort ist eine Fundstelle, wo die Kirche ihre Bestimmung findet. Und in dieser Welt gibt es nicht nur eine Fundstelle (locus teologicus), sondern es gibt viele und auch unterschiedliche. Es gab schon immer „loci propii“, Fundstellen der Rede von Gott und der Begegnung mit Gott, die aus der Kirche selbst heraus bestehen, aber die Kirche braucht auch „loci teologici alieni“ (Melchor Cano) wie Philosophie, Geschichte und andere Wissenschaften.

Die Kirche von heute muss sich auf fremde Erfahrungen einlassen, noch grundsätzlicher: dort ist Gott zu finden! Die Kirche muss sich von Fundstellen (Orte der Gottesbegegnung) her leiten lassen, die nicht in ihrer eigenen Verfügung stehen. Sie macht sich dadurch abhängig und diese Abhängigkeit (Ausgeliefertsein) gehört zu ihrem Wesen und macht sie letztlich auch „christusförmiger“. Sie nähert sich den Menschen mit „Gott auf dem Rücken“, d.h. sie erkennt ihn nicht „an sich“, sondern in der Begegnung mit dem Anderen kann ich ihm ins Auge sehen, erkennen und begegnen. Im Grunde genommen - nimmt man die Menschwerdung Gottes ernst - ist jeder Mensch ein „locus teologicus“. In jedem Menschen, dem ich begegne, kann ich Gott begegnen. Und wenn ich höre, was mir dieser Mensch zu sagen hat, höre ich Gott. Selbst das Evangelium gehört nicht exklusiv der Kirche, es „gehört“ allen Menschen, nicht nur den Christen.

Stichwort „Dialog“: Dialog mit dem Anderen heißt Dialog mit der Andersheit des Anderen, mit seinen Stärken und Schwächen. Echter Dialog besteht darin, die Stärken des Anderen zu sehen, zu fördern und die eigenen Schwächen zu erkennen. Die Stärken des Anderen legen bei mir Schwächen frei. Seine Stärken sehen und anerkennen bedeutet, meine eigenen Schwächen zu sehen, d.h. der Andere hilft mir dadurch, ein besserer Mensch zu werden. Nur so kann ich lernen und mich weiter entwickeln. Wenn ich zu hören weiß, kann ich wachsen und meinen Horizont erweitern. In der Realität sieht das aber meist anders aus. Man zielt auf die Schwächen des Anderen, um seine eigene Position und sich selbst zu stärken. Man nennt das eine „schielende Seele“ - wie der Pharisäer, der nur die Schwächen des Anderen sieht, seine eigenen Schwächen zudeckt (bzw. diese überhaupt nicht erkennen kann und will) und seine eigenen (scheinbaren) Stärken immer wieder betont.

GS hat eine prinzipielle Option: sie sieht die Stärken des Menschen und baut darauf auf. Sie kennt zwar die Schwächen des Menschen und benennt sie auch. Sie nimmt aber das, was für die Stärken der Menschen spricht, um über deren Schwächen hinwegzukommen bzw. um sie zu überwinden. Sie traut den Menschen dies zu. Gott traut dem Menschen zu, ein anderer, ein neuer Mensch zu werden. Er traut dies jedem Menschen zu. Niemand ist Ausgeschlossen. Davon geht auch GS aus. Konkret heißt dies: die Anerkennung der Rechte jeden Menschen und von all dem, was ihn umtreibt, was ihn existentiell betrifft usw. Dies alles muss in den Dialog einfließen. Wenn ich die Würde und die Rechte jedes Menschen anerkenne bedeutet dies, dass ich mich in der Begegnung mit dem Anderen existentiell betreffen lasse. Daraus ergibt sich eine „Methode“: sehen (begegnen) – urteilen – handeln > eine Position beziehen, Stellung nehmen, Partei ergreifen für den Anderen, für dessen Würde und Rechte. Tue ich das, tut die Kirche das, entsteht wahre Autorität.

Die Frage der Autorität: Im Gegensatz zur „societas perfecta“, in der die Autorität durch die Hierarchie vorgegeben ist und nicht hinterfragt werden darf, ist eine dienenden Kirche – laut GS – darauf angewiesen, von den Anderen Autorität zugesprochen zu bekommen. Im Gegensatz zur Kirche aus sich heraus, entsteht Autorität nicht von Amts wegen (Weihe). Autorität entsteht erst, wenn sie Menschen anerkennen („der hat mit etwas zu sagen“) und aus der Sache heraus. Sie wird verliehen und kommt vom Zuhören, nicht aus sich heraus. Ich habe Autorität, wenn Menschen frei anerkennen, dass ich ihnen in ihrer konkreten Lebenssituation etwas zu sagen habe und eine Orientierung und einen Halt anbieten kann. Die höchste Autorität ist die, welche unter Einsatz des eigenen Lebens erworben wird, wie z.B. die Märtyrer in der Nachfolge Jesu Christi.

Für die Kirche bedeutet dies: wenn sie etwas hat und anbietet, das den Menschen in ihrer konkreten Situation wichtig ist (in ihren Ängsten, Bedürfnissen, Hoffnungen etc.), wenn Kirche etwas zu sagen und eine Botschaft hat, die wichtig für die Menschen ist, die ihnen hilft, Mensch zu sein – dann kann sie Autorität neu gewinnen. Biblisch gesagt: wenn die Kirche in ihrer konkreten Praxis den Menschen hilft, ihre je eigene Berufung zu entdecken, Mensch zu werden und in Würde als Kind Gottes leben zu können, die Fülle des Lebens zu erfahren – dann wird sie selbst ihrem eigenen Auftrag gerecht, nämlich Zeichen des Heils für die Menschen zu werden, besonders für die „Bedrängten aller Art“, denn sie sind die ersten Adressaten der Botschaft Jesu.

Welche Autorität aber haben die Bischöfe? Haben sie den Menschen wirklich etwas zu sagen? Wie positionieren sie sich, d.h. von welchem Standort aus beziehen sie eine Position (wenn überhaupt)? Haben sie Angst, ihre (Amts-) Autorität zu verlieren? Falls sie Angst haben sollten, ihre Autorität zu verlieren (ihre „Autorität durch Weihe und Amt“), dann können sie wahre Autorität gar nicht finden. Erst wenn sie einsehen, dass sie sich falsch positioniert haben (z.B. auf wessen Seite? auf wen und was hören sie wirklich?) und dass ihre Autorität nur Fassade ist, können sie neu versuchen, Autorität zu gewinnen.

Eine Kirche, die sich im Dialog positioniert, kann dann Autorität und damit auch Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sich alle Teilnehmer in gleicher Weise ernst nehmen (siehe oben). Die Autoritäten qua Amt laufen dabei Gefahr, ihre bisherige Autorität zu verlieren. Es fällt ihnen schwer sich „auszusetzen“, sich in etwas hineinzubegeben, dessen Ausgang sie nicht kennen bzw. sie nicht selbst in der Hand haben. Aber nur so könnten sie neue und wahre Autorität (Glaubwürdigkeit) gewinnen. Doch davor scheinen sie Angst zu haben, statt dies als Chance und Befreiung (Umkehr) zu sehen.

Zeichen der Zeit (GS, Nr. 11)

Ein ganz neuer und entscheidender Begriff in GS ist „Zeichen der Zeit“. Er wurde eingebracht von Johannes XXIII. auf dem Hintergrund seiner Erfahrung als Nuntius in Frankreich. Während des 2. Weltkriegs hat er eine grundlegende Entdeckung gemacht: Frankreich („Mutter der Kirche“) ist ein Missionsland. In seiner Haltung wurde er wesentlich beeinflusst und bestärkt von Chenu. Schon in der Einberufung zum Konzil spricht der Papst von den „Zeichen der Zeit“, ebenso in seiner Enzyklika „Pacem in terris“, 1963. Als Zeichen der Zeit wurden damals gedeutet: die Arbeiterfrage, die Frauenrechte, die Befreiung der Völker (Entkolonialisierung) und die UNO als Symbol einer neu entstehenden Weltgemeinschaft mit dem Katalog der allgemein gültigen und verbindlichen
Menschenrechte. Die Zeichen der Zeit müssen im Lichte des Evangeliums gedeutet werden. Dies hat eine klare und eindeutige Positionierung und Parteinahme zur Folge, nicht nur in der Lehre, sondern vor allem in der Praxis. Denn Jesus selbst hat eine eindeutige Position bezogen, er hat Partei ergriffen und ist deswegen (!) getötet worden.

Zeichen der Zeit im Sinne des Konzils sind heute Menschen, die um die Anerkennung ihrer Würde ringen, denen man ein „Leben in Fülle“ vorenthält, die ausgegrenzt und diskriminiert werden. Sie sind „die Anderen“ und sie sind es, mit denen wir einen echten Dialog führen müssen. Wir begegnen Gott („dem ganz Anderen“) in diesen Menschen, in ihren existentiellen Bedürfnissen, in ihrem Hunger nach Brot und nach Gott, in ihrem Streben nach einem Leben in Würde. Sie sagen uns, was Gott heute uns sagen will und an uns liegt es, diese Zeichen der Zeit wahrzunehmen und als Wort Gottes zu hören und zu deuten. Die Zeichen der Zeit deuten heißt auch, dass Gott einen sehr konkreten Ort (Topos) hat. Er identifiziert sich mit den Hungernden (u.a.), von dort aus spricht er zu uns. Nicht die Frage:
wer ist Gott? sondern "WO ist Gott?" (im „zerfetzten Körper eines Kindes“?) ist die entscheidende Frage. Die Kirche (wir alle, auch Papst und Bischöfe) muss in diesem Sinne Gott erst entdecken und dies immer wieder neu, sie hat ihn nicht, erst recht kann sie ihn nicht definieren und verwalten und nicht qua Institution bzw. Amt im Namen Gottes.

U-Topoi (Utopien)

Utopie: ein Ort, den es nicht gibt. Aber er existiert - in einem Blick in die Zukunft: es soll so werden, wie es sein sollte. Christlich: die Gesellschaft und unsere Art des Zusammenlebens so zu gestalten, wie es Gott (ursprünglich) gedacht hat. Wir sind als moderne Menschen utopische Menschen. Denn wir sind auf Zustände ausgerichtet, die in der Zukunft liegen. Erstrecht gilt das für Christen. Denn Gott selbst hat uns in Jesus gezeigt, wie es sein könnte, wenn… . Und mit Jesus hat dies bereits begonnen und geht weiter. Ist Gott selbst Utopie? Er ist nicht in den „U-topoi“ zu finden (oder gar extra- oder supraterrestrisch),
sondern an konkreten Orten und konkreten Menschen, in den hetero-topoi; d.h. im „Exil“, in der Exteriorité, in der Wüste, außerhalb des Systems, im Menschen im Straßengraben, im „Aussätzigen“. Der „hetero-topoi“ ist der Hungernde, der Andere, der Ausgeschlossene. Aber warum ist er ausgeschlossen und hat er Hunger? Und hier gilt: sehen und erkennen - im Lichte der Bibel deuten und dann handeln und Position beziehen… .

Eine Kirche, die den Menschen dient, muss diese Orte erst entdecken, sie muss aufbrechen und sich auf den Weg machen - erstrecht, wenn sie in einer „Wohlstandsgesellschaft“ derart fest verankert ist, dass sie von dieser kaum zu unterscheiden ist. Sie muss ausziehen, nach draußen gehen, vor die Tür – zu den Menschen im Straßengraben, die unter die Räuber gefallen sind, dann wird sie zur Gemeinschaft derer, für die Jesus der Messias ist. Das wäre dann echte Erneuerung!

Dr. theol. Willi Knecht, auf Basis des Audio-Mitschnitts und eigener Notizen, Ulm, 11.1.12