Artikel in: Evangelische Zeitung - für Hamburg und Schleswig-Holstein, 19. April 2012, Ausgabe 16/2012,  von Willi Knecht

Würde statt Wut

Als ich 1976 zum ersten Mal nach Peru kam, holten mich Ordensschwestern in Lima ab. Vom Flughafen führten sie mich direkt dorthin, wo das Elend der Menschen und die herrschende Ungerechtigkeit besonders drastisch zu sehen waren. Ich sah Tausende von Hütten aus Bambus, mitten in der Wüste provisorisch errichtet, ohne Wasser ohne Straßen. Einige hundert Meter weiter eine hohe Mauer mit Stacheldraht, dahinter Villen inmitten von blühenden Parkanlagen und mit Dauerberieselung des Rasens.Ich fragte die Schwestern, warum die Menschen in den Hütten nicht die Mauer niederreißen und sich das holen, was sie zum Leben brauchen – Wasser und Brot. Ihre Antwort: „Die Wut dieser Menschen ist noch nicht groß genug! Sie fühlen sich ohnmächtig, hilflos, ohne Schutz und ohne Perspektiven. Doch wir wollen dies ändern!“

Eine solche Wut kann sich nur entwickeln, wenn man weiß, dass es nicht so sein darf, wie es ist und wenn man zudem weiß, wie es anders und besser sein müsste und könnte. Woher weiß man dies aber? Woher kommen welche Maßstäbe – z.B. für ein besseres Leben, für ein Leben in Würde?

Dann kam ich als pastoraler Mitarbeiter in die Diözese Cajamarca, in die Pfarrei Bambamarca - mein "Bestimmungsort". Es war zu jener Zeit eine Gemeinde mit 100.000 Getauften, ohne Priester, aber mit bereits über 200 ehrenamtlichen Katecheten und Katechetinnen. Diese hatten die Vollmacht zu taufen, das Wort Gottes zu verkünden und die Gemeinde zu leiten. Denn seit 1962 und in der Folge des II. Vatikanischen Konzils war eine Kirche der Armen entstanden.

In den Anden im Norden Perus begann seit den Jahren 1962/63 in den Herzen der Gedemütigten eine Hoffnung zu keimen: eine Hoffnung auf ein Leben in Würde, in Gerechtigkeit und dass alle als Kinder des Einen Vaters ein Leben in Fülle haben mögen. Durch das Evangelium, das sie zum ersten Mal hörten, entdeckten sie, dass Gott selbst, Jesus Christus, mitten unter ihnen geboren wurde, um alle ihre Leiden und Hoffnungen mit ihnen zu teilen. Aber das Wichtigste war, dass sich die seit jeher Ausgestoßenen zum ersten Mal gehört und respektiert fühlten, sie fühlten sich als Gestalter ihres eigenen Schicksals. Der erste Indigena -Katechet der Welt drückt es so aus: Bischof Dammert hat mich gelehrt, dass ich eine Person bin, dass ich Christ bin und Peruaner“.

Einer meiner engsten Mitarbeiter, ein junger Campesino, erinnert sich: „Mit Wut im Bauch erinnerten wir uns daran wie zum Beispiel ein Campesino durch die Straßen ging, während ein Städter, vor seinem Haus sitzend, ihn kommen sah. ‘He Indio, geh und hole mir einen Eimer Wasser!’ – ‘Aber, Herr…’. Der Städter gab dem Campesino ein paar Fußtritte und zwang ihn das Wasser zu holen. Der Campesino musste gehorchen, wenn nicht, diese Städter konnten ihn wegen irgendwas anklagen, niemand hätte ihn verteidigt und sie konnten ihn sogar ins Gefängnis werfen.“

"Warum hat der Campesino so viel ertragen, hat er nichts im Hirn, um zu bemerken, was los ist?  Niemals gab es jemanden, der uns begreiflich machte, dass wir auch so viel wert sind wie die in der Stadt. Niemand hatte uns erklärt, dass Väterchen Gott uns alle gleich geschaffen hat. Vielmehr predigten sie uns, dass Gott mit den Mächtigen ist, die dem Pfarrer gut zu essen geben, mit dem Besitzer der Hazienda, der sich darum kümmerte, dass wir zum Pfarrer gingen, damit er uns unsere Sünden vergebe. So waren wir überzeugt, dass wir viel weniger wert sind als ein Krawattenträger.“

Die Opfer dieser Geschichte hatten im Laufe der Jahrhunderte ihre Unterwerfung verinnerlicht. Ihres Glaubens und Identität beraubt, fühlten sie sich minderwertig und gaben sich selbst die Schuld an ihrem Schicksal. Vom theologischen Standpunkt aus betrachtet, handelt es sich um die Entdeckung einer neuen Religion, bzw. um eine Revolution: aus einer Religion, die Gewalt, Rassismus und Unterdrückung rechtfertigte, wurde eine Gemeinschaft von Christus-Gläubigen, die genau diese Mechanismen der Herrschaft aufdeckte und die bisher verkündeten Götter als Götzen entlarvte, die den Menschen den Tod bringen. Im Mittelpunkt der „neuen“ Bewegung (Kirche) steht das Volk Gottes, mit dem Gott einen Bund geschlossen hat. Dieses Volk konstituiert sich von den Menschen am Rande her. Denn diese werden von Jesus in den Mittelpunkt seiner Verheißungen gestellt.

In den biblischen Geschichten erkennen die Armen ihre eigene Geschichte bzw. sie interpretieren ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Spiegel der Erfahrungen des Volkes Gottes und der Bibel. Diese „Geschichten“ sind für sie aktuell und geschichtlich real.

Gott gibt sich seinem Volk, das in Sklaverei lebt, als der Gott zu erkennen, der sein Volk aus der Sklaverei befreit und in das Gelobte Land führt. Erst als das Volk dies auch glaubt und dem von Gott „Gesandten“ (Mose) vertraut, wagt es den Aufbruch. Doch das Volk Gottes kam vom rechten Weg ab, verehrte fremde Götter und unterdrückte Arme und Schwache. Die Propheten klagten dies an und verkündeten den Willen Gottes. Nicht Tempelpriester und Schriftgelehrte fanden den Weg zu Jesus in der Krippe, sondern die damals am meisten verachteten Menschen – die „Hirten auf dem Felde“. In ihrer Mitte „kam Gott zur Welt“, wurde Mensch und identifiziert sich vorrangig mit den „Aussätzigen“.

Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht: „Kehrt um, denn das Reich Gottes steht vor der Tür!“ Zeichen der jetzt beginnenden Herrschaft Gottes sind Tischgemeinschaften, Brot teilen etc. Jesu Solidarität mit den Opfern, seine radikale Kritik am Tempelkult, an den Schriftgelehrten und Pharisäern (u.a.) führt zur Verurteilung und zum Tod Jesu. In der Auferstehung bestätigt Gott Jesus als den Messias. Nachfolge Jesu bedeutet, diesen Weg Jesu konsequent zu gehen.

Diesen Weg zu gehen, erfordert eine tiefe Spiritualität. Spiritualität bedeutet aus der Sicht der Armen, Gott inmitten ihres Leides und ihrer Hoffnungen als ein Gott des Lebens in Fülle zu entdecken, der mit ihnen ist und sie führt. Aus der Sicht der Reichen bedeutet Spiritualität, im leidenden Nächsten, das Antlitz des Gekreuzigten zu entdecken, sich mit dem Armen auf den Weg machen und mit ihnen zusammen seine Sehnsucht nach dem Reich Gottes zu formulieren und diesem im Hier und Heute Gestalt zu verleihen.

Die Kirche Jesu Christi ist eine prophetische Kirche. Sie klagt die herrschenden Missstände an („Elend und Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreien“) und verkündet einen neuen Himmel und eine neue Erde. Kennzeichen einer solchen Kirche ist das Brotteilen (all dessen, was der Mensch zum Leben braucht) und der bedingungslose Einsatz für eine Welt, in der jeder Mensch – Ebenbild und Kind Gottes – in Würde leben kann und einen gerechten Anteil an den Gütern der Schöpfung hat.

Der Schrei der Armen nach dem täglichen Brot und nach Gerechtigkeit ist der Ruf Gottes heute an uns. Im Hungernden und unter die Räuber Gefallenen offenbart sich Gott und sagt uns, wer er ist und was er von uns erwartet. Es geht um eine authentische Interpretation dieser Frohen Botschaft, in Treue zum Zeugnis der ersten Christen und der Märtyrer bis heute.

Zeichen einer authentischen Interpretation ist ein Mehr an Fülle des Lebens und an Menschwerdung, besonders für die unter die Räuber Gefallenen. Sie können uns helfen, die eigentliche Frohe Botschaft wieder neu zu entdecken. Sie zeigen uns den Weg! Doch die Kirchen scheinen davon sehr weit entfernt oder haben dies gar ganz vergessen.


Der Theologe und Pädagoge Dr. Willi Knecht war als Religionslehrer und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der theologischen Fakultät der Uni Würzburg tätig; er lebt in Ulm.