Die Bibel als Fundament

In Verbreitung der Guten Nachricht spielte die Bibel und die Tatsache, dass die Campesinos die Bibel selbst lesen konnten, eine entscheidende Rolle. Eigentlich eine banale Erkenntnis. Doch in Bambamarca hat diese Erkenntnis das Leben der Menschen verändert. Ältere Katecheten sprechen in diesem Zusammenhang von einer Bekehrung, die alle Bereiche des Lebens umfasste. „Seit diesem Augenblick begann ich die Bibel zu lesen und kennen zu lernen. Ich besuchte viele Kurse, bis nach Lima und die Arbeit als Katechet in allen ihren Dimensionen gefiel mir immer mehr. Meine Hauptaufgabe bestand darin, die Bibel mit meinen Brüdern, den Campesinos, zu lesen. Mein Auftrag lautete: die Gute Nachricht anzukündigen...

Seit dem ersten Bibelkurs auf der Hazienda Chala, mit 60 zukünftigen Katecheten, habe ich viele neue Dinge kennen gelernt, ich habe Zusammenhänge verstanden, ich habe das Leben kennen gelernt, das menschliche Wesen, was es heißt, Person zu sein, was Familie bedeutet... Seit 1962 hat sich die Kirche verwandelt - man knüpfte am Traditionellen an, aber Schritt für Schritt entdeckten wir die Situation, in der wir lebten. Vor 1962 war die Kirche völlig anders, es gab nichts“ (1).

Wenn Don Candelario - wie andere Teilnehmer - von einem Bibelkurs spricht, zeigt dies, dass es die Erfahrung mit der Bibel war, die alles bestimmt hat. Die Organisatoren hatten nicht daran gedacht, einen Bibelkurs zu halten, sondern sie wollten die Bibel nur als „Arbeitsinstrument“ einführen. Der Bischof und seine Mitarbeiter konnten nicht absehen - und deswegen war es auch nicht so geplant - welche Wirkung die Bibel haben würde, sie waren davon selbst überrascht. Doch durch die Erfahrungen der Campesinos wurden die pastoralen Mitarbeiter in einen Prozess mit hinein genommen, der eine eigene Dynamik gewann und in dessen Verlauf die Mehrzahl der Mitarbeiter ebenfalls eine neue Sicht von Gott und der Welt gewann.

Mit der Entdeckung der Bibel als eine „Frohe Botschaft für die Armen“, die den Beginn einer neuen Zeit verkündet, rückt sowohl das Leben und die Botschaft des Jesus von Nazareth in den Mittelpunkt, als auch dessen Verkündigung als Christus durch seine Jünger gemäß dem Zeugnis und der Praxis der ersten Christen. Jesus von Nazareth und der auferstandene Christus sind für die Campesinos eine untrennbare Einheit, die nicht zur Disposition steht. Die Geburt Jesu „draußen vor den Toren der Stadt“ unter den Indios und nicht unter den Weißen in der Stadt oder in Europa, sondern in einer Hütte und die weiteren Umstände der Geburtsgeschichten werden für die Campesinos zur aktuellen Botschaft: Jesus ist mitten unter uns geboren, in unser Elend und unsere Ausweglosigkeit hinein. Doch dieser Jesus ist für sie nicht irgendwer, er ist „Gott unter den Menschen“.

Dies ist die eigentliche Entdeckung: dass Gott genau so ist, wie ihn Jesus durch seine Botschaft und sein Zeugnis gelebt hat. „Mit der Ankunft der neuen Pastoral hat die Situation der Ausgrenzung eine neue Sinndeutung erhalten: Jesus, Gott selbst, kam auch auf den Feldern von Bambamarca zur Welt. Er wuchs mit den Windeln aus Wolle auf, so wie sie unsere Kinder tragen; er rannte über die schlammigen Wege; er schwitzte, als er in den Mais- und Kartoffelfeldern arbeite; er ging in die Stadt hinunter, um die Leute zu trösten, die im Tausch ihrer Produkte immer betrogen wurden.

Der Campesino Jesus sang und tanzte auch in froher Runde auf den Festen und Geburtstagsfeiern mit seinem Volk. Und er wurde traurig, als er von den Problemen hörte, die die Arbeit mit sich brachte. Aber vor allem teilte er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Campesinos von Bambamarca... Jesus hat sich so sehr mit seinen Leuten identifiziert, ist eins und Fleisch geworden mit ihnen, dass die Polizisten, als sie ihn gefangen nehmen wollten, ihn nicht von seinen Freunden unterscheiden konnten. Daher musste ihnen der Verräter ein Zeichen geben. Dieses Gefühl der Identifizierung hat alle, die an der Ausbildung dieser neuen Pastoral teilnahmen, überwältigt“ (2).

In diesem Bekenntnis ist das, was in der Theologie mit Inkarnation bezeichnet wird, auf eine authentische Weise ausgedrückt. Es ist die Menschwerdung Gottes inmitten der „Indios dieser Welt“, der misshandelten Kreatur und Schöpfung, die zusammen mit der sich daraus ergebenden Auferstehung das wesentlich und unterscheidend Christliche ausmacht - im Unterschied zu jeder anderen Religion. Dieses Einswerden Jesu mit seinen Leuten ist es, dass „diese Leute“ hat entdecken lassen, dass es Wege aus der Sklaverei gibt, weil der Gott des Lebens ihnen den Weg weist und sie führt.

Rudi Eichenlaub, von 1972 - 1977 Pfarrer in Bambamarca, wurde während seines ersten Besuchs in Bambamarca 1970 (noch als Gast) zu einer Weihnachtsfeier auf dem Land eingeladen, die von Tomás Herrera, dem Vater von Leonardo, geleitet wurde. „Wir wollen zuhören und sehen und im Herzen mitfühlen als wirkliche Christen, wie in jenen Zeiten in Bethlehem die Geburt des Gottessohnes gewesen ist“, erklärt Tomás, der Katechet. Und dann singen und spielen sie stundenlang. Zuerst die Verkündigung, Maria Heimsuchung, den Weg nach Bethlehem auf einem richtigen Esel, die Herbergssuche.

In dieser Umgebung bekommt selbst für mich die Bibel ein neues Leben. Maria war wirklich eine Frau aus dem Campo, aus den einfachsten Verhältnissen... Wegen der Agrarreform mussten alle in die Stadt kommen, um ihr Stück Land einschreiben zu lassen. Da sie von weit her kamen, mussten viele auch über Nacht bleiben und im Freien schlafen, weil sie nirgends unterkamen.

Es war die Frohe Botschaft herauszuhören, dass es Christus auch nicht besser ergangen ist und dass nur die einfachen Hirten die Weihnachtsbotschaft vernommen und verstanden haben. Die einfachen Hirten sind sie selbst. Sie brauchten sich auch nicht weiter zu verkleiden wie bei unseren Weihnachtsspielen. Auch das Kind war ein richtiges kleines Baby. Und zum Schluss hat noch einmal einer der Hirten spontan zum Ausdruck gebracht, wie er die Weihnachtsbotschaft verstanden hat, dass mit Christus nun das Licht da ist, an dem sich alle ausrichten können“ (3).

Im Zusammenhang mit der Geburt Jesu gewinnt auch Maria als Mutter von Jesus eine völlig neue Bedeutung. Zwar gab es auch vor 1962 Formen der Marienverehrung auf dem Land, doch waren das Bild von Maria und die Formen ihrer Verehrung stark von der spanischen Volksfrömmigkeit beeinflusst. Die Akzeptanz dieser Marienverehrung unter den Campesinos beruhte vor allem auf der für Campesinos notwendigen Vorstellung einer weiblichen Gottheit, der Mutter Erde, die den Menschen alles schenkt, was sie zum Leben brauchen. Das zusätzlich Neue ist nun aber, dass Maria als Frau vom Land entdeckt wird. Maria wird zur Campesina. Aus der Himmelskönigin Maria wird das einfache Bauernmädchen, das voller Stolz seinen Gott preist, weil er sie auserwählt hat, der Welt den Befreier zu schenken.

Im Unterschied zur bisherigen Verehrung der weißen Himmelskönigin, in der die ursprüngliche andine Vorstellung einer weiblichen Gottheit bis aufs Äußerste zweckentfremdet wurde, ist die Entdeckung von Maria als Bauernmädchen ein Beitrag zur Wiedergewinnung der eigenen Identität. Maria, als Symbol für die Mutter Erde, schenkt durch ihre Hingabe den Armen, was diese zum Leben brauchen: Gerechtigkeit und Befreiung - und Jesus, der diese Botschaft verkündet und bezeugt. Die „Menschwerdung Marias“ korrespondiert mit der Menschwerdung Gottes in Jesus und sie gewinnt dadurch ihre eigentliche Bedeutung zurück.

Die Einführung des Weihnachtsfestes auf dem Land ist ein Ergebnis der neuen Pastoralarbeit. Im Glauben der Campesinos bedeutet dies, dass ihr Schicksal als Indios nicht naturgegeben und nicht von Gott gewollt ist, sondern dass der tödliche Kreislauf von Unterdrückung, Armut und Hoffnungslosigkeit durchbrochen wird. Auferstehung ist für sie eine „logische“ (hier: eine nicht mehr näher zu begründende Erfahrung) Konsequenz der Geburt Jesu als Sohn Gottes. Die Menschwerdung und Gegenwart Gottes sprengt notwendigerweise alle scheinbar unüberwindlichen Fesseln.

Historisch gewachsene Gegebenheiten, wie Unterdrückung, Ungerechtigkeit und die Rolle der Religion, werden als solche erkannt und relativiert, d.h. sie werden entmythologisiert und nicht mehr als allmächtig und unveränderlich angesehen. Die Campesinos haben am eigenen Leib erfahren, dass über Jahrhunderte fest zementierte Zwänge überwunden werden können. Wenn der Gott des Lebens mitten unter den Menschen „wohnt“, dann ist auch die Zukunft offen und eine bessere Welt ist möglich. Wie aber Jesus selbst erfahren musste, so erfahren auch die Campesinos, dass sie auf diesem Weg verfolgt, verleumdet und eingesperrt werden. Doch weil der Weg Jesu nicht am Kreuz endete, sondern weil er heute mitten unter ihnen lebt und sie begleitet, deswegen werden das Kreuz und der Tod nicht das letzte Wort behalten - sonst wäre Gott ja tot. Das bedeutet für die Campesinos Auferstehung.

Schwierigkeiten und Erfolge der Evangelisierung

Die neue Evangelisierung stieß aber auch auf große Schwierigkeiten, zumal sie nur punktuell geschehen konnte und eine kleine Zahl von Priestern und Mitarbeitern einer scheinbar übermächtigen Tradition gegenüberstand. Auch von den Campesinos selbst gab es Widerstände, vor allem dort, wo mangels Mitarbeiter eine konstante Arbeit in den Comunidades nicht möglich war. Als ein Schlüsselproblem erwies sich der Umgang mit der Bibel - sowohl der Umstand, dass die Bibel nun auch für Katholiken ins Zentrum rücken sollte, als auch die neue Sichtweise und Deutung der Bibel.

Für die ersten Katecheten war es ja gerade die Bibel, die sie faszinierte. Doch fiel es ihnen oft schwer, in der eigenen Comunidad die Menschen zu überzeugen, dass sie deswegen nicht zu neuen „Sektenpredigern“ geworden waren, sondern dass auch für Katholiken die Bibel das Fundament des Glaubens ist. Die wenigen Priester, die mit Bischof Dammert zusammenarbeiteten, standen vor dem gleichen Problem. Die neue Rolle der Priester widersprach völlig den bisherigen Erwartungen, die Campesinos an die Priester und ihre Funktion stellten. Alois Eichenlaub schreibt zu diesem Problem: „Die Katecheten haben auch starke Widerstände zu spüren. Vor allem werden sie wegen der Hl. Schrift, die sie besitzen und lesen, als Protestanten verschrien. Dasselbe wird ja auch von uns Padres gesagt, da wir in Zivil gehen und vor allem bei der Hl. Messe, im Gegensatz zu bisher, viel in Spanisch beten. Denn wir versuchen, endlich verständlicher zu werden. Schon vor einiger Zeit waren protestantische Sekten in die Comunidades gekommen, die die Bibel benutzt haben, während die Katholiken dies nicht durften“ (4).

Hier wird das Problem angesprochen, das zu Beginn der neuen Evangelisierung im Zentrum stand. Sowohl bei den Menschen auf dem Land als auch in der Stadt führte der neue Umgang mit der Bibel zu großen Missverständnissen. Das Lesen der Bibel war das markante Kennzeichen der Sekten (5).  Bei der großen Mehrheit der Campesinos wurden die Sekten aber radikal abgelehnt. Hauptgrund für die teilweise aggressive Ablehnung ist, dass Sekten die Heiligenverehrung ablehnen und generell gegen alle Feste sind. In einem späteren Stadium der Bewusstwerdung werden die Sekten auch noch - und dann vor allem - aus einem anderen Grund abgelehnt. Denn unter Sekten verstehen diejenigen Campesinos, die bereits die Bibel neu entdeckt haben, Gruppierungen, die die irdische Wirklichkeit ausblenden, die an das baldige Ende der Welt glauben, die sich auf die eigene und exklusive Errettung vorbereiten, die nicht an die Heiligen und die Jungfrau Maria glauben und die daher keine Feste feiern.

Ein Vordringen der Sekten wird mit Spaltung der Gemeinschaft und Abkehr von gemeinschaftlichen und sozialen Aufgaben gleichgesetzt. Diese Feststellung beruht auf konkreten Erfahrungen der Campesinos, weil diese immer wieder feststellen mussten, dass bei sozialen und kommunalen Projekten die „protestantischen“ Gruppen oft heftigen Widerstand leisteten, stets auf der Seite der Obrigkeit waren und soziales Engagement generell als Teufelswerk betrachteten. Der Wille, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, bedeutet in der Lehre dieser Sekten, das eigene Elend nicht als Wille Gottes zu akzeptieren.

Eine Verbesserung der Lebensbedingungen wurde als Rebellion gegen Gott und seine von ihm eingesetzte Obrigkeit gedeutet. „Die Sekten spalten unsere Gemeinschaft und sie helfen nicht, uns zu organisieren. Sie machen die Leute noch mehr zu Individualisten und verbreiten nur Pessimismus. Sie sprechen nur vom Ende der Welt. Sie wollen die Leute verdummen. Sie boykottieren alle Gemeinschaftsaufgaben und machen alles schlecht. Sie suchen eine andere Art Gott. Sie lästern Gott und machen sich über das katholische Credo lustig (6). Da das äußere Kennzeichen der Sekten darin bestand, die Bibel zu lesen bzw. sich immer auf die Bibel zu berufen - im Unterschied zu Katholiken - stellten die katholischen Campesinos anfangs die Gleichung auf: Bibellesen bedeutete Abkehr vom wahren Glauben und von der gesamten Tradition.

Für die Stadtbevölkerung treffen im Grunde die gleichen Einschätzungen zu, doch kommt hier noch ein wesentlicher Grund für die Ablehnung einer Evangelisierung auf der Grundlage der Bibel dazu: das Unverständnis dafür, dass Campesinos die Bibel in die Hand nehmen dürfen. Wenn schon die Bibel notwendig sein sollte, dann sollte ausschließlich der Priester mit ihr arbeiten. Andererseits war in der Stadt anfangs das Verständnis für einen Bibelkurs mit den Campesinos vorhanden, weil man aus Erfahrung wusste, dass die Präsenz der Sekten unter den Armen für eine gewisse Beruhigung und Stabilisierung der Verhältnisse sorgte. Dies erwartete man nun auch von der neuen Evangelisierung unter den Campesinos.

Die genannten Schwierigkeiten und Missverständnisse waren in den Gegenden, in denen nicht mit dem gleichen massiven Einsatz wie in Bambamarca gearbeitet werden konnte, erheblich größer. Die zweite Priesterequipe, bestehend aus Alois Eichenlaub und Alfonso Castañeda, hatte zusammen mit ihren neuen Mitarbeitern in ihrem Einsatzort in der Umgebung und den Landzonen der Stadt Cajamarca mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Einfluss der städtischen Pastoral war und blieb noch sehr stark. Hauptursache dafür war, dass in der Stadt Cajamarca die Mehrheit der Pfarrer im alten und gewohnten Stil weiter arbeitete, teilweise in bewusster Opposition zu Bischof Dammert.

Bestanden z.B. Dammert und seine Mitarbeiter nun gemäß den Beschlüssen des Konzils auf einer Vorbereitung der Eltern und Paten für die Taufe, so wichen viele Städter und auch Campesinos auf die Priester aus, die dies nicht verlangten. Und diese Priester waren weit in der Überzahl. Diese vermittelten auch bewusst den Gläubigen, dass die von ihnen gespendete Taufe ebenso wie andere Sakramente und die Messe wertvoller seien als die „der neuen protestantischen Priester“, weil sie für diese Dienste nämlich einen Preis verlangten - und je höher der Preis umso wertvoller und wirksamer das Sakrament. Alois Eichenlaub: „Wir werden bei ihnen als Protestanten verschrien, weil wir beim Gottesdienst das Evangelium gelesen haben, auch weil wir keinen Talar tragen und weil wir an Allerseelen wegen der vielen Menschen die Hl. Messe auf dem Friedhof gefeiert haben. Eine weitere Gemeinde beschimpft uns als Kommunisten“ (7).

Angesichts der vorhandenen Hindernisse und der zumindest am Anfang sehr geringen materiellen und personellen Möglichkeiten, kann dennoch von einem Erfolg der neuen Pastoralarbeit gesprochen werden - nicht nur in Bambamarca, sondern auch um Cajamarca herum (8).  In einem der wenigen erhaltenen Dokumente von Sonoviso aus der Anfangszeit (1964), einer Diaserie von Alois Eichenlaub, wird noch einmal deutlich, wie dieser Umschwung geschah und sie zeigt die Absichten der Initiatoren:

„Kaum entdecken die Indios neue Wege zu einem vertieften Glauben, so sind sie bereit, ihre bisherigen Glaubensformen zu verbessern. Statt vieler Kerzen und Prozessionen finden sie langsam den Zugang zur Hl. Schrift. Gemeinsam lesen und diskutieren sie die Texte. Sie suchen die Beziehung zu ihrem Leben, lassen die Worte in Gebet und Gesang nachwirken und finden auch schon langsam den Zugang zu den sakramentalen Formen, in denen zeichenhaft greifbar und spürbar wird, was sich im Glauben eröffnet hat. Ein Katechet verteilt das Brot und spricht: ‚Willst du dieses Brot als Zeichen unserer Bruderschaft, als Zeichen unserer Einheit und Verbundenheit mit Gott’? Ist das schon Eucharistie? 

Als Kontrast das folgende Bild: ‚Drei Priester am schwarz verhüllten Altar, Totenmesse: Ihre unverstanden übernommenen religiösen Bräuche werden auf einmal als Ausbeutung verstanden. (Im Bild eine Totenmesse, die etwa 100 DM kostet, weil sie von drei Priestern zelebriert wird und angeblich teure Zutaten erhält.) Je teurer die Messe, desto größer die Gewissheit, dass der Tote in den Himmel kommt. Die Eingeborenen kauern stumm in den Bänken. Hatten sie bisher je die Möglichkeit, von ihrem Gottesbild der Angst zum wahren Gott der Liebe und Freiheit zu finden? In einem weiteren Bild: ‚Widersinnig wirkt es, bei Feierlichkeiten die kirchlichen Würdenträger (hier im Bild der Nuntius) von schwer bewaffneten Soldaten beschützt zu sehen. Muss er vor den Armen beschützt werden? Der bisher fromme und ergebene Eingeborene entdeckt diese Situation mit Erschrecken“ (9).

Die entscheidenden Gründe, warum der ersten Bibelkurse zum Startschuss für eine erneuerte Pastoral werden konnte, waren:

  1. Die bevorzugte Einladung an die Rosarieros und deren massive Teilnahme an den Kursen. Sie hatten eine große Autorität und waren völlig unverdächtig, Protestanten zu sein; im Gegenteil: sie waren oft Zielscheibe heftigster Angriffe der Protestanten. Es wurde also an bestehende Traditionen und Strukturen angeknüpft.
  2. Die Rosarieros akzeptierten die Priester, weil diese mit ihnen die alten Gesänge sangen und sie sich nun von den Priestern - im Unterschied zu den früheren Pfarrherren - respektiert fühlten. Dieser Respekt fand seine Entsprechung in dem „eingeborenen“ Selbstverständnis der Rosarieros, den Priestern gehorchen zu müssen.
  3. Den Priestern und ihren Mitarbeitern gelang es, „den religiösen Enthusiasmus zu kanalisieren und ihm eine Form zu geben. Die religiöse Sehnsucht war schon vorher da, fand aber keinen Weg ans Licht“ (Bartolini). Der Hunger nach Gott und Brot war stets vorhanden, er musste nur als solcher entdeckt und gedeutet werden.
  4. Die Glaubwürdigkeit der Verkünder und ihrer Botschaft zeigte sich darin, dass sie mit den Campesinos in deren Lehmhütte die Kartoffelbrühe teilten. Die Campesinos fühlten sich zum ersten Mal als gleichwertige Partner behandelt.
  5. Von entscheidender Bedeutung waren Inhalt und Methode der Kurse und der folgenden Evangelisierung: die Bibel und speziell das Leben Jesu im Kontext der konkreten Wirklichkeit. Die Methode war dem Verständnis der Campesinos angepasst (10). 6. Das Deuten der Situation im Lichte der Bibel führte zu einer kritischen Distanz bzw. zu einerFundamentalopposition gegen die bestehenden Verhältnisse. Anders - so die Erfahrung der Campesinos - ist die Gute Nachricht nicht als solche zu verstehen. 7. Die Fähigkeit der Campesinos, auf spielerische Art und Weise sich das Evangelium anzueignen. Bischof Dammert: „Die schöpferische Phantasie, um biblische Szenen im Gewand der Andensituation darzustellen und sie in ihrer eigenen sprachlichen Form auszudrücken, ist eine hervorragende Qualität der Zone. Ebenfalls erwähnenswert ist die große Fähigkeit, religiöse Lieder zu schaffen. Dies alles ist das Ergebnis des Kontakts mit der Bibel, der den Campesinos in sehr vielen Bibelstellen die Beschreibung ihrer eigenen Wirklichkeit aufzeigte. Dies hat eine religiöse Lebendigkeit erweckt, wie sie von den kalten Lehrtexten des christlichen Katechismus her nicht möglich war“.11 Leonardo Herrera: „Diese Erfahrungen mit Jesus haben die Leute ausgedrückt in ihren Theaterspielen, in Erzählungen, in den typischen Kleidern ihrer Zone, in Gesängen und Liedern - und vor allem in den Werken der Solidarität in all seinen verschiedenen Formen“ (12).

Kriterien der Bibelauslegung, Bibelauslegung in Deutschland

Wie das extreme Beispiel der Sekten zeigt, führt die Arbeit mit der Bibel für sich genommen noch nicht zu einer befreienden Veränderung. Vor allem dann nicht, wenn zum einen die Bibel weltfremd gelesen wird, ohne das Leben und den konkreten Menschen in seiner Situation mit einzubeziehen und zum anderen, wenn die Bibel nicht sachgerecht und unter Mithilfe moderner Exegese interpretiert wird und damit die Verkündigung und die Praxis Jesu keine Rolle spielt oder falsch verstanden wird. Die Bibelauslegung muss sich „an ihren Früchten“ erkennen lassen, d.h. zu welchem konkreten Handeln sie die Menschen tatsächlich anstiftet und leitet. Offensichtlich ist - und in Geschichte und Gegenwart gibt es unzählige Beispiele - dass die Botschaft Jesu für sehr unterschiedliche Interessen instrumentalisiert werden kann.

Dies ist letztlich auch mit Gott bzw. dem Glauben an Gott geschehen und geschieht immer wieder neu. Das Beispiel der Campesinos zeigt aber, dass eine sachgerechte Bibelauslegung, die von der konkreten Situation der Menschen ausgeht und einen befreienden Gott verkündet, wie er sich selbst seinem Volk offenbart und wie ihn Jesus durch sein Leben verkündet hat, Menschen derart verändern kann, dass sie alle Mühen auf sich nehmen, um eine neue Gemeinschaft mit Gott und den Menschen untereinander zu versuchen. Ob die Bibel sachgerecht ausgelegt wird, zeigt sich letztlich in den konkreten Auswirkungen und im Alltag der Menschen.

Um dies bewerten zu können, sind folgende Fragen entscheidend: führt die biblische Verkündigung die Menschen zu mehr Freiheit, Selbstbewusstsein, Gemeinschaftssinn, zu weniger Angst und Resignation, zu mehr sozialer Gerechtigkeit, kurz: zu einem Leben in Fülle (ansatzweise) - wozu z.B. auch gehört, dass kein Kind mehr sterben muss, weil es verschmutztes Wasser bekam und keine Medikamente? Dies bildet auch den Maßstab dafür, ob die christliche Religion als menschenfreundlich und damit im Sinne der Inkarnation als authentisch bezeichnet werden kann oder nicht.

Bringt man nun die Erfahrungen der Campesinos in Relation zu den Erfahrungen von Menschen in Deutschland, die sich zum Christentum bekennen, dann muss notwendigerweise Theologie, Bibelauslegung und religiöse Praxis in den reichen Gemeinden kritisch hinterfragt werden. So geschah dies ansatzweise 1987 in der Gemeinde St. Georg, Ulm. Eine Gemeindeerneuerung - inspiriert von der Gemeindepartnerschaft zu San Pedro in Cajamarca - wurde vorbereitet. Der Beraterstab der Diözese Rottenburg-Stuttgart stellte die Methode des Bibelteilens aus Afrika in den Mittelpunkt der Gemeindeerneuerung. Doch bald wurde klar, das diese Art von Bibelarbeit wenig mit dem zu tun hatte, was einige Mitglieder der Gemeinde in der Begegnung mit den Partnern in Peru erfahren hatten. Gemeindeintern äußerten sie folgende Bedenken (in Auszügen), die darauf hinweisen, woran es offensichtlich mangelte.

„Die Umwelt, in der die Menschen leben, darf nicht ausgeklammert werden. Es genügt nicht über Symptome zu reden, sondern deren Ursachen sind aufzudecken. Reine Selbstbespiegelung oder ‚Heilung der kranken Seele’ ist kein Spezifikum der christlichen Botschaft. Subjektwerdung heißt nicht zuerst religiöse Selbstbefriedigung, sondern Übernahme von Verantwortung, Zeugnis ablegen in dieser Welt und Nachfolge Jesu. Eine unverbindliche und beliebige Bibelauslegung, erst recht eine sachlich falsche Bibelauslegung, führt zu einem pflegeleichten, verbürgerlichten und angepassten Christentum ohne wirkliche Konsequenzen. Jesus lehrt uns zu sehen mit den Augen der Ohnmächtigen, der Armen, der Außenseiter. Ohne die prophetischen Dimensionen des Alten und Neuen Testaments, Anklage und Verkündigung, bleiben wir blind oder kreisen nur um uns selbst.

Als Wichtigstes: Die christologische Komponente darf nicht fehlen: eine Religion ohne Jesus den Christus und ohne die, mit denen er sich identifiziert, ohne seine Praxis, sein Leben, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung, ist eben nicht christlich. Die ekklesiologische Komponente darf nicht fehlen. Ein Ausklammern der Weltkirche und damit ein Ausgrenzen der Armen ist sektiererisch. Kirche ist Volk Gottes auf dem Weg in die Befreiung, auf dem Weg vom Tod zum Leben, ist Gemeinde auf der Suche nach neuen Lebensformen angesichts der Realitäten dieser Welt (Hunger durch Ungerechtigkeit, Zerstörung der Schöpfung usw.). Eine solidarische Gemeinde klagt die Ursachen des Elends an und ergreift Partei für die Opfer. Eine Religion ohne Forderungen, d.h. ohne Umkehr und Verkündigung der Frohen Botschaft von der nun anbrechenden Herrschaft Gottes, ist nicht die Botschaft, die Jesus verkündet. Eine christliche Gemeinde hat die Aufgabe, in dieser Welt lebendiges Zeichen der beginnenden Herrschaft Gottes zu sein“ (13).

Im Vergleich zu den Campesinos von Bambamarca sind für die Pastoral in Deutschland vorläufig vier Punkte festzuhalten, als Defizit formuliert:

  1. Das Leben Jesu, von der Geburt bis zu den Ursachen seines Todes und die Auferstehung, scheinen nicht den entsprechenden Stellenwert zu besitzen - außer in der Liturgie, die aber abgesondert von der Realität gefeiert wird. Dadurch wird das Christentum von anderen Religionen kaum unterscheidbar, das spezifisch Christliche kommt zu kurz.
  2. Bei den einzelnen Gläubigen wie auch in der Kirche als Institution scheint die Auffassung vorzuherrschen, dass man, initiiert durch Taufe, Kult etc., schon erlöst bzw. ein neuer Mensch und Umkehr daher nicht notwendig sei. So läuft dann die Kritik der Propheten am Götzendienst und die Kritik Jesu an der verfassten Religion seiner Zeit ins Leere oder wird auf andere bezogen, nicht aber auf den eigenen Glauben oder die eigene Kirche. Man besitzt die Urheberrechte an Gott, an Jesus Christus und dessen Botschaft.
  3. Die den Menschen bestimmenden Wirklichkeiten, z.B. wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten, werden nur wenig mit dem Glauben in Verbindung gebracht, die Wirklichkeit wird ausgeklammert und erst recht nicht im Lichte des Glaubens gedeutet. Die Frage nach dem jeweiligen Standort und der Option wird dadurch ausgeklammert.
  4. Liegt der Grund dafür nicht vielleicht doch in der „eingeborenen“ Option für die Gesellschaft, in der man herangewachsen ist und deren Vorteile - im Vergleich z.B. zu den unterentwickelten Ländern - scheinbar offen auf der Hand liegen? Moses hörte die Stimme Gottes und den Auftrag zu Befreiung erst, als er bei den Nomaden in der Wüste lebte.

Die Bibel ist das Fundament des Glaubens, sowohl für die Christen in Deutschland als auch in Peru. Der Zugang zur Bibel ist aber verschieden. Der jeweilige Zugang hängt von Unterschieden in der Tradition, der Kultur und dem Kontext ab. Wenn schon festgestellt wurde, dass für die Campesinos die Bibel zum Ausgangspunkt tief greifender und befreiender Veränderungen in ihrem Leben wurde, dann liegt es nahe, dass Christen, die mit diesen Campesinos partnerschaftlich verbunden sind, sich von ihren Partnern die Bibel deuten lassen. Für Theologie und Gemeinden in den reichen Ländern bietet sich im Hinhören auf die Erfahrungen der Campesinos die Chance, sich die Geschichte Gottes mit den Menschen aus der Perspektive der Armen neu erzählen zu lassen.

Diese Erfahrungen der Armen mit der Botschaft Jesu kann eine Brücke zu den Erfahrungen der ersten Christen und Gemeinden schlagen, die sich möglicherweise als authentischer und tragfähiger erweist, als eine nur wissenschaftliche und methodische Beschäftigung mit den Buchstaben der Bibel. Die Bibel ist nun einmal das grundlegende Kriterium, um den Willen Gottes kennen zu lernen und ihm zu folgen. Gott identifiziert sich mit den Armen und er steht ihnen nahe. Daher können die Nicht-Armen von den Armen erfahren, wer Gott ist und welchen Weg er mit den Menschen gehen will.

Carlos Mesters hat wegweisende Kriterien und Methoden der Bibellektüre aufgezeigt, die auch für die Campesinos von Bambamarca zutreffen, hier die wichtigsten Aussagen:

  • „Man liest die Bibel nicht nur als eine vergangene Geschichte, sondern auch und vor allem als einen Spiegel jener Geschichte, die sich heute ereignet, und zwar im Leben des einfachen Volkes. Gott spricht heute durch das von der Bibel erleuchtete Leben.
  • Das Hauptziel dieser Art von Bibellektüre ist es nicht, die Bibel zu interpretieren, sondern mit Hilfe der Bibel das Leben zu interpretieren. Die Armen lesen die Bibel im Kontext ihrer Unterdrückungserfahrungen. Damit werden die Armen zugleich zum hermeneutischen Schlüssel für die Interpretation des Lebens und der Bibel.
  • Das arme Volk betreibt keine neutrale Bibellektüre. Es strebt vielmehr mit Hilfe der Bibel nach Gerechtigkeit, Befreiung und Leben. Das arme Volk liest also die Bibel engagiert zugunsten seiner Befreiung.
  • Die moderne Exegese geht von einem neuen Bibelverständnis aus, das die Bibel zu einem alten Buch macht. Das arme Volk dagegen hat ein zerbrechliches Bibelverständnis, das die Bibel als ein neues Buch präsentiert, als befreiende Kraft für jene, die glauben und sich für die Befreiung einsetzen.
  • Die Gemeinden der Armen suchen in der Bibel keine Quelle für eine bessere theoretische Bildung. Sie suchen vielmehr eine Quelle des Lebens, eine Quelle der Ermutigung und der Beharrlichkeit“ (14).

Die Katecheten von Bambamarca beenden die Umfrage, die von den Frauengruppen organisiert wurde, mit einem Appell für eine authentische Verkündigung des Wortes Gottes: „Es gibt viele Verkünder des Wortes Gottes, die die Bibel nicht so verkünden, wie sie uns Jesus lehrte, sondern die sie zur Durchsetzung eigener Interessen benutzen. Aus der Guten Nachricht, die uns von Liebe, Friede und Gerechtigkeit spricht, machen sie etwas ganz anderes, das nicht diesen authentischen Zielsetzungen entspricht. Die arme Bibel wird dafür benutzt, um uns vom rechten Weg abzubringen, um das Wort Gottes zu verfälschen und uns sogar von Gott zu trennen, der mit seinem leidenden Volk unterwegs ist. Sie kehren zu den alten Methoden zurück, verschließen sich in sich selbst und glauben sich allein im Besitz der Wahrheit.

Das treffende Beispiel dafür steht in der Bibel, wenn Jesus sagt: ‚Ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, Heuchler, Schlangenbrut...’. Ändert eure Haltung und eure Taten und korrumpiert nicht weiterhin das Wort Gottes! Das Evangelium kann man auch nicht dadurch verkünden, dass man sich einen Bart wachsen lässt oder sich eine Robe anzieht oder indem man unsere andine Kultur und uns selbst schlecht macht. Das Evangelium verkündet man, indem man tut, was man sagt. Denn der Glaube ohne Werke ist nichts wert, aber auch die Werke ohne den Glauben haben keinen Wert. Es nützt nichts, wenn wir zwar das Evangelium aller Welt verkünden, wenn wir uns in unserem alltäglichen Verhalten das Gegenteil davon tun.

Als Verkünder des Wortes Gottes müssen wir eins werden mit dem leidenden Volk und mit ihm gehen, so wie es Jesus getan hat. Ihr falschen Propheten aber, benutzt nicht mehr den Namen Gottes und sprecht nicht im Namen Christi, wenn ihr den Armen betrügt! Campesinos, glaubt nicht mehr an die, die für alles eine Lösung versprechen aber in Wirklichkeit nichts tun. Denkt daran, dass nicht jeder, der sagt: ‚Herr, Herr’ in das Reich Gottes gelangen wird, sondern der, der den Willen des himmlischen Vaters erfüllt“ (15)

Die Bibel verändert das Leben

Dieser Appell der Katecheten ist deshalb glaubwürdig, weil sie in ihrem eigenen Leben diese Veränderungen erfahren und praktiziert haben. Von daher beziehen sie primär ihre Autorität und ihre Legitimation und sie sind daher - wie alle anderen, die in gleicher Weise die Botschaft Jesu aufnehmen, umkehren und von nun an den Weg Jesu gehen - die legitimen Nachfolger der ersten Zeuginnen der Auferstehung und der Apostel. Das folgende Zeugnis von Neptalí Vásquez ist repräsentativ für viele Katecheten, die in gleicher Weise von ihrer Umkehr berichten (eigene Zusammenfassung nach Rücksprache mit Neptalí Vásquez, 1999): (16)

„Neptalí, 39 Jahre alt, Sohn eines Campesino, verdingte sich lange als Gelegenheitsarbeiter an der Küste. Seine Frau, Bersella, 37 Jahre alt, Frühwaise, ist Analphabetin. Sie hat neun Kinder geboren, von denen zwei gestorben sind. Neptalí: ‚Die alte Kirche war ein richtiger Bauernfänger. Sie lehrte, wenn einer stirbt, wird er einen großen Preis bekommen, wenn er in diesem Leben viel gelitten hat. So macht es gar nichts aus, wenn man hier viel Not leidet, im Gegenteil, so gewinnt man ja den guten Platz im Himmel. Ich war da ganz zufrieden, denn ich habe in diesem Leben ja viel gelitten. Heute sehe ich klar, dass wir keinen solchen Gott haben, der da irgendwo in der Ferne thront, sondern dass Gott lebendig, sichtbar und erfahrbar ist in der Liebe zwischen den Menschen. Und von daher kam dann auch der Anstoß, mehr zu tun, mehr für die anderen zu tun, für die Gemeinschaft, aber besonders für die Familie, denn das ist die Liebe’.

Der Glaube, den Neptalí heute lebt und seinen Nachbarn verkündet, ist das Ergebnis eines langen Weges. Damals, vor 10 Jahren, war ein peruanisches Priesterteam nach Bambamarca gekommen. Das warb Männer, die in ihrer Comunidad etwas zu sagen hatten, für Katechetenkurse. Frage: was hat das in deinem Leben verändert? Bersella, seine Frau: ‚Früher war er ein Säufer. Er ging auf Feste, dann kam er nach Hause und prügelte uns. Bevor er eine Arbeit anfing, brauchte er Coca. Er brauchte für das Coca soviel Geld, dass wir nicht einmal genügend Stroh hatten, um Hüte zu flechten’.

Neptalí: ‚Wir hatten nicht genug zu essen. Ich habe die Familie ausgebeutet, acht bis neun Jahre lang. Ich verbrauchte alles Geld für Coca und rauchen und saufen. Ich habe fast Tag und Nacht gearbeitet - als Hilfsarbeiter an der Küste - aber mit Coca, das betäubt den Hunger; aber wir sind zu nichts gekommen, weil ich alles verbrauchte’. Das alles hat sich grundlegend gewandelt seitdem Neptalí, wie er sagt, von seinem ‚alten Denken’ weg kam und den ‚richtigen Glauben’ verstehen lernte und in der Gemeinde Verantwortung übernahm.

Neptalí: ‚Es mir keinen Spaß mehr, Unterdrücker zu sein. Ich hatte früher immer geglaubt, meine Frau sei gar kein richtiger Mensch, ich, der Mann, sei der wahre Mensch. Und der dürfe mit den Seinen machen, was er will. Jetzt gefällt es mir nicht mehr zu unterdrücken. Ich bin mir bewusst, dass meine Frau eine Persönlichkeit ist, wie ich selbst. Wir halten gut zusammen. Wir besprechen alles miteinander, wir teilen ehrlich, was wir verdienen. Und mit unseren sieben Kindern machen wir das gleiche. Wir wissen jetzt, dass auch die Kinder eigene Persönlichkeiten sind, dass sie ihre Freiheit brauchen und ihre Freizeit, dass sie nicht nur arbeiten müssen, sondern dass sie sich auch vergnügen und spielen können. Und den Kindern bekommt das gut, wenn sie nicht mehr unterdrückt sind’.“ (17)

Bald schon konnte man Veränderungen in den Comunidades und im Familienleben feststellen. Im sozialen Bereich gab es ein sehr heftiges und mutiges Erwachen. Man entdeckte viele Ungerechtigkeiten. Der Campesino fing an, seine Rechte einzufordern bzw. zu verteidigen. Auch die Basis für das, was dann später eine große Rolle im Bewusstsein der Campesinos spielen sollte, wurde gelegt: die gemeinsame Feier im Namen Jesu, das Teilen von Brot und des Wortes Gottes. Diese Basis war das wesentliche Element der Kirche von Bambamarca.

Das Kennen lernen der Botschaft Jesu hat zu vielen Veränderungen auch im Kleinen, im Alltag geführt. Das zeigte sich darin, dass man immer häufiger in der Folge beobachten konnte, dass die Frau auf dem Maultier saß und der Mann neben her lief. Wenn vorher beide zusammen z.B. auf den Markt gingen, war es die Regel, dass der Mann ritt und im Abstand von fünf Metern die Frau, voll bepackt mit Lasten, hinterher lief. Ebenso konnte man beobachten, dass der Mann bisher oft in seiner beidseitigen Schultertasche in der einen Tasche z.B. Brot, Salz usw. hatte, in der anderen Tasche aber seine Coca, selbst wenn er die Kurse besuchte. Nun aber hatte er statt der Cocablätter die Bibel in der Tasche.


Anmerkungen

(1) Candelario Cruzado; aus den Befragungen des IBC, 1997. Vgl. seinen Traum: „Ich träumte…“ in Kap. IV, 4.

(2) Herrera, Leonardo: „Wach auf, Campesino!“; im Sammelband „Die globale Verantwortung“. S. 81, 82.

(3) Dok. 5, V: Eichenlaub, Rudi: „Weihnachten 1970 auf dem Campo“, Rundbrief vom 11. 11. 1971. Archiv St Martin, Dortmund. Vor 1962, und in einigen Gegenden bis heute, kannte man auf dem Land das Weihnachtsfest nicht - im Unterschied zu der Stadt, in der die Geburt Jesu im Stil der europäischen Tradition und aufgepeppt mit nordamerikanischen Zutaten, gefeiert wird - quasi „verkleidet“ bzw. entfremdet und entfremdend.

(4) Dok. 3, V: Alois Eichenlaub, Rundbrief Nr. 3. Archiv St. Martin, Dortmund. Bereits 1963 konnten mit der Hilfe Adveniats 1.000 Bibeln angeschafft werden, die nach und nach an die Kursteilnehmer verteilt wurden. Ebenfalls von Adveniat wurden batteriebetriebene Diaprojektoren und allerlei didaktisches Material finanziert. Diese Diaprojektoren und die eigene Erarbeitung entsprechender Diaserien waren der Grundstein für die spätere Medienstelle der Diözese (Sonoviso), die von Alois Eichenlaub aufgebaut und zum Vorbild in ganz Peru wurde.

(5) Es wird nicht unter den einzelnen Sekten unterschieden. Alle diese Sekten sind nordamerikanischer Herkunft und werden von den USA aus finanziert. Der hier beschriebene Glaube der Sekten bezieht sich auf die Praxis in Bambamarca und kann nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. Die Anhänger der Sekten werden in Peru im alltäglichen Sprachgebrauch als Protestanten bezeichnet. Diese Bezeichnung hat nichts zu tun mit dem in Deutschland üblichen Verständnis von Protestantismus. Allerdings sollte man bis heute gültige „Dogmen“ der evangelischen Theologie wie Ablehnung der Heiligenverehrung, Zwei-Reich-Lehre, Ablehnung der Werkgerechtigkeit, Rechtfertigungslehre etc., auf ihre Wirkgeschichte hin überprüfen - zumal im Kontext anderer Kulturen und veränderter historischer Gegebenheiten. Das Ergebnis wäre unter Umständen überraschend....

(6) Dok. 2, V: Eigene Umfragen der Frauengruppen in Bambamarca. Warum fanden und finden die Sekten dennoch immer wieder Anhänger gerade unter den Armen? Die Katecheten nennen vor allem drei Gründe: es sind oft die Ehefrauen, die hoffen, dass ihr Ehemann dadurch vom Alkoholkonsum befreit wird und außerdem fallen weniger Ausgaben für die Feste an; die massiven Geschenke, verbunden mit aggressiven Werbemethoden der Prediger; das Schüren von Ängsten (z.B. vor der Hölle), sowie von Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen.

(7) Dok. 3, V: Alois Eichenlaub, Rundbrief Nr. 3. Archiv St. Martin. „Protestant“ und „Kommunist“ waren in Bambamarca und Cajamarca Schimpfwörter. Der gemeinsame Nenner der beiden Begriffe ist die Ablehnung der wahren Religion. Ein Kommunist bzw. Protestant ist ein Mensch, der die bestehende Tradition und Ordnung ablehnt und damit alles, was den Christen heilig ist.

(8) Beim Entstehen und Aufbau der Partnerschaft von St. Georg, Ulm - San Pedro, Cajamarca (1982) konnte auf Katecheten zurückgegriffen werden, die in den sechziger Jahren diözesane Kurse besucht hatten. Sie konnten aber in ihren Comunidades wenig aufbauen, weil sie allein gestellt blieben und auch von ihrem Pfarrer nicht unterstützt worden waren. Die Mitarbeiter von Alois Eichenlaub waren zwar einige Male in den Comunidades von San Pedro, doch konnte dies nicht ausreichen. Erst mit dem Beginn der Partnerschaft konnte eine kontinuierliche Arbeit in den Comunidades geleistet werden, die alten Katecheten wurden reaktiviert und neue dazu gewonnen. Pfarrer Lorenzo Vigo konnte in die neue Arbeit mit eingebunden werden. Der Erfolg ist enorm.

(9) Alois Eichenlaub, Titel unbekannt. Archiv Sonoviso, Cajamarca.

(10)  Alois Eichenlaub (mündliche Erinnerungen): „Wir hatten Erfolg, weil wir auf die Bevölkerung eingingen, durch attraktive Methoden, z.B. Lichtbilder über das eigene Dorf und das Leben auf dem Land, wo sich die Menschen selbst
wieder erkennen konnten. So was gab es noch nie vorher“.

(11) Dok. 6, IV: Dammert: Die Landpastoral in Cajamarca, 28. 7. 1979. Archiv St. Martin, Dortmund.

(12) Herrera, Leonardo: „Wach auf, Campesino!“, im Sammelband „ Die globale Verantwortung“, S. 82.

(13) Vgl. Knecht, Willi: „Die Partnerschaft der Gemeinde St. Georg, Ulm mit der Gemeinde San Pedro, Cajamarca“, im Sammelband „Die globale Verantwortung“, S. 149, 150.

(14) Da Silva Gorgulho, Gilberto: Biblische Hermeneutik. In: Mysterium liberationis, Band 1, S. 156,157. Da Silva fasst hier die wesentlichen Aussagen von Mesters zusammen (kursiv von Da Silva).

(15) Dok. 6, V. Diese Aussagen sind auch auf dem Hintergrund der aktuellen Pastoral in Bambamarca seit 1993 zu sehen und zu verstehen. Gleichzeitig zeigen sie exemplarisch, wie Verkündigung vor 1962 und nun wieder in der Gegenwart betrieben wird und welche Kriterien für eine echte Verkündigung gelten.

(16) In vielen Sekten und sich charismatisch oder pfingstlich verstehenden Gruppen stehen persönliche Bekehrungen im Mittelpunkt. Dass dies im Einzelnen und für den Einzelnen tatsächlich zu einem veränderten Lebensstil geführt hat, zu neuem Selbstbewusstsein und einem geglückteren Leben, soll nicht in Abrede gestellt werden. Aber auch hier ist auf die genannten Kriterien der Bibelauslegung und der Wirkungsgeschichte zu verweisen. Auf jeden Fall sollten sich Theologie und Kirche durch das Beispiel der Sekten nicht davon abhalten lassen, die Schlüsselbegriffe der Botschaft Jesu mit Inhalt zu füllen. Den Sekten darf nicht die Definitionshoheit dafür überlassen werden, was mit biblischer Umkehr und neuem Leben (neu geboren) im Sinne Jesu gemeint ist.

(17) Dok. 7, V: Sendung des SDR: „Orientierung“ vom 25. 12. 1974, gestaltet und übersetzt von Hildegard Lüning; mit Originalaufnahmen (Interview in Bambamarca, Kommentar von H. Lüning). Die Sendung ist ein Hinweis darauf, dass die Pastoral in Bambamarca bereits 1974 und davor in Deutschland Aufmerksamkeit erregte. In der Radiosendung kommt auch Rudi Eichenlaub als damaliger Pfarrer von Bambamarca zu Wort. Unter dem Titel: „Der neue Glaube und die alte Oberschicht“ erschien ein Artikel von H. Lüning in der Zeitschrift: Der Überblick, 2/75, in dem noch einmal die wichtigsten Punkte der Sendung zusammengefasst wurden.