Gedanken zum Advent und Weihnachten 2016 

Advent und Fastenzeit, Weihnachten und Ostern erinnern an das, was christlicher Glaube in seinem Kern ausmacht. Da Gott in Jesus Mensch geworden ist, finden und begegnen wir ihm in den Menschen, mit denen Jesus sich vorrangig solidarisiert, ja identifiziert (Mt 25). Und dann begegnen wir auch Gott in uns selbst und erkennen, wer wir sind und was unsere Berufung ist. „Was schaut ihr in den Himmel, wo ich doch nun mitten unter euch bin?“ Nicht der Himmel oder das Leben nach dem Tod ist das Ziel, sondern ein menschenwürdiges Leben hier und heute für alle, besonders für jene, denen diese Würde vorenthalten oder gar - auch strukturell - geraubt wird. Denn diese Würde ist unantastbar. Und auf diesem Weg werden wir erfahren, was es bedeutet, ein „Leben in Fülle“ ….

Doch was tun wir? Wir feiern Messopfer nach Messopfer, wir beten und beten! Doch wenn wir nicht zugleich radikal umkehren und den Weg zum leidenden Mitmenschen gehen, begehen wir ein Sakrileg. Wenn wir nicht bereit sind, den unter die Räuber Gefallenen wirklich zu helfen, verraten wir Christus in ihnen und in uns. Wir können auch mit unseren Gebeten und Opfern Christus kreuzigen. Bischof Fragoso aus Brasilien sagt: „Unsere Gottesdienste und Gebete können Atheismus sein, wenn wir sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber gleichgültig bleiben. Wir können mit der Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie Atheismus verkünden, wenn wir nicht für mehr soziale Gerechtigkeit einstehen. Die uns im Gotteshaus versammelt sehen, sehen sie uns auch Hand anlegen im Kampf um mehr Gerechtigkeit, damit alle unsere Brüder und Schwestern frei werden und in Würde leben können?“ (Aus: „Helder Camara: Die beiden Lastkutscher“, 1973).

Advent - Adveniat: „Dein Reich möge kommen“! Und dann kam Jesu und sagte: Dieses Reich, diese "Herrschaft" der Liebe und Gerechtigkeit hat mit Jesus begonnen. In seinen Worten und Taten wird deutlich, was damit gemeint ist. In ihm können wir erfahren, wer und was Gott ist und was er mit uns werden will. Im Glauben der Christen ist er deshalb der Messias, das Bild Gottes unter den Menschen. Wenn ich schon an einen Gott glaube, dann nur an den Gott, wie er sich in Jesus geoffenbart hat (und auch an denselben Gott, der sein Volk aus der Sklaverei befreit und in das Gelobte Land führt.

Die kompletten Artikel jeweils auch auf meinen Webseiten (Advent 2016)


Jeden Tag eine Tür öffnen (zeichenhaft im Adventskalender) - 24 Mal, dann ist es soweit!

1. Dez.  Entwicklungshilfe: was bedeutet Entwicklung?

Vortrag am 6. Januar 1970 (!) an der EWH Landau (Studium der Pädagogik), mein 1. öffentlicher Vortrag

Obwohl für jeden Menschen ein Mindestmaß an grundlegenden Voraussetzungen - gerade auch materiellen Bedürfnissen wie Nahrung - garantiert werden muss, quasi als eingeborenes Menschenrecht, bedeutet Entwicklung viel mehr als die nur materielle Entwicklung. Es geht um eine ganzheitliche Entwicklung aller menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben alle Völker Kriterien oder gar Standards entwickelt, welche Werte in ihrer jeweiligen Gesellschaft gefördert werden sollen. Besonders Christen sind Kriterien vorgegeben (auch wenn sie nicht als solche erkannt werden), die zur Grundlage menschlichen Zusammenlebens dienen: Das Leben in Gemeinschaft und meine Rolle in dieser Gemeinschaft; Solidarität, vorrangig mit den Schwächeren, Gerechtigkeit für alle, Gleichheit aller Menschen, weil alle in gleicher Weise Kinder Gottes sind, daher auch die unantastbare und einzigartige Würde jedes Menschen; das Recht, nicht nur auf Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, sondern auf ein Leben in Fülle. Solche Werte gab und gibt es auch in vor- und nicht christlichen Kulturen und Religionen, meist sogar wesentlich ausgeprägter als im „christlichen“ Abendland. Diese Werte gilt es neu zu entdecken. Von daher ist es eine Schande, wenn ausgerechnet vom christlichen Abendland (mit der USA als dessen Produkt) ein Geist und vor allem eine damit verbundene Praxis ausgeht, die genau diese Werte zerstört.

Der komplette Artikel auf meinen Webseiten: Was heißt „Entwicklung“?  


2. Dez. - Das Nein zum Anderen als Ursünde (1973)

„Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht“. „Denken und Sein sind dasselbe“. Um diese zwei Sätze des Parmenides kreist die gesamte griechische klassische Philosophie, insbesondere die Dialektik des Aristoteles. Für den gebildeten Griechen war seine Welt, seine Polis, das Sein schlechthin. Seine Kultur und seine Polis waren der Maßstab, mit dem er die ganze Welt maß. Und entsprechend diesem Maß unterteilte er die Welt und die Menschen. Was außerhalb dieser seiner Welt lebte, war das Nichts (der Nicht-Mensch). Das waren die Barbaren, die Sklaven und alles, was jenseits des griechischen Denkhorizontes lag. Auf diese Weise vergöttlichte der Grieche seine Welt und tötete damit die Anderen als Andere, bzw. er nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Eine solche Ontologie ist per se unterdrückerisch und imperialistisch – von einem Menschen der Peripherie, vom Standpunkt eines Barbaren her betrachtet. Diese Welt „außerhalb“ kann daher entweder nur völlig ignoriert (nicht existent), oder vernichtet oder völlig vereinnahmt werden. …

Von dieser Philosophie ist das gesamte abendländische Denken bis heute beeinflusst. Descartes sagte: „Ich denke, also bin ich“. Das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt seines Denkens und bis heute auch der europäischen Philosophie. So sprechen Hegel, Fichte, Goethe u.v.m. und selbst Marx von den Menschen in Afrika und den Indianern in Amerika wie selbstverständlich von den Wilden, die bestenfalls die unterste Stufe des Menschseins erreicht haben – wenn überhaupt. (Ein nützlicher Hinweis auf die Kraft der menschlichen Vernunft und dem Wissen und dem Anspruch der selbst ernannten Intellektuellen, die auch heute angesichts des Zustandes der Welt jämmerlich versagen). Der Andere wird nicht als der Andere gesehen, er wird nicht als (gleichwertiger) Mensch geachtet und respektiert. Er wird getötet, in seiner Identität ausgelöscht.
„Das Schwerwiegendste ist, dass die besagte Ontologie die europäische und auf Eroberung ausgerichtete Subjektivität vergöttlicht.

Seit der imperialistischen Ausdehnung im 15. Jh. macht sich diese „Kosmovision“ daran, die Welt zu erobern. ´Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht´. Das Sein ist die europäische Vernunft, das Nichtsein sind die anderen Menschen. Lateinamerika und die gesamte Peripherie werden deshalb als das Nichtsein definiert, als das Irrationale, das Barbarische, das Nichtexistente. Die Ontologie der Identität der Vernunft und der Vergöttlichung des „Ich“ endet darin, die imperialistischen Kriege eines Europas zu begründen, das die anderen Völker, errichtet als Kolonien und Abhängige, in allen ihren Lebensgewohnheiten beherrscht. Die naive hegelianische Ontologie endet so darin, die gelehrte Begründung des Völkermords an den Indianern, Afrikanern und Asiaten zu sein. Die Subjektivität des ´ego cogito ´verwandelt sich so in den Willen zur Macht, zum Willen, den Anderen zu vernichten.

Der komplette Artikel: Das Nein zum Anderen als Ursünde


3. Dez. Das Nein zu Abel als Geschäftsmodell - Die bestehende Situation als geschichtliche Ausfaltung dieser Ursünde

Das Nein zum Anderen ist die „Sünde der Welt“*, die Ursünde. Geschichtlich und real gesehen nimmt diese Sünde seit dem 15. Jh. die konkrete Gestalt des Neins des nordatlantischen Zentrums zum Indio, Afrikaner, Asiaten an. Der Europäer erobert die ganze Welt und sieht dies als legitime Ausfaltung seines Ich, seiner Welt und seiner Kultur an. Er leugnet damit die anthropologische Andersheit (z.B. den „Indio“) und somit die absolute Andersheit (Gott). Er bestätigt dadurch sich selbst und seine abendländische Zivilisation als „Gott“. Er erklärt seine Welt zur Welt schlechthin und erhebt die Herrschaft des Menschen über den Menschen zur „natürlichen Ordnung“ (Aristoteles). Das führt zu einer Spaltung der Welt in Herrscher und Beherrschte – in solche, die die Zivilisation und die Kultur besitzen und solche, denen man dies erst alles beibringen muss (bestenfalls). Die Anderen, andere Kulturen, andere Rassen, die „Barbaren“, schlägt man entweder tot oder man versucht sie mit Gewalt in die eigene, nämlich die europäisch-christliche Welt zu integrieren. Im Namen Gottes, der in Wirklichkeit der von den „Fürsten dieser Welt“ geschaffene Gott war, in dem sie sich selbst anbeten konnten, zogen sie aus, die “Wilden“ zu zivilisieren und zu missionieren. Und weil dies im Namen Gottes geschah, fühlten sie sich nicht schuldig, sondern im wahrsten Sinne des Wortes als „Heilsbringer“. Falls sich der Heide nicht missionieren lassen wollte, durfte man ihm den Krieg erklären und zur Hölle schicken.

Die Totalisierung des neuzeitlichen Systems und der europäisch-griechischen Religion durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Herrschaft beginnt im 15. Jh. und hat sich bis heute endgültig etabliert und stabilisiert. Nach den Eroberern und Missionaren kamen die Händler, Geschäftsleute und Bankiers, die sich mit Erfolg bemühten, die Kolonien Europas in gewinnträchtige Quellen für den Reichtum des Zentrums zu verwandeln. Der Reichtum Europas beruhte und beruht weiterhin auf der systematischen Ausbeutung und Verelendung seiner Kolonien. Dieser Zustand wird bis heute gewaltsam aufrechterhalten und von der herrschenden Religion, Kultur und Philosophie abgesegnet und legitimiert. US-Präsident Johnson sagte 1966 zu Soldaten auf dem Weg nach Vietnam: „Vergesst nicht, dass wir 200 Millionen sind in einer Welt von drei Milliarden. Die wollen haben, was wir haben, aber wir denken nicht daran, es ihnen zu geben“.
Die reichen Länder hören und respektieren nicht die armen Länder und deren Andersheit (andere Kulturen, andere Werte, die Armen und Unterdrückten). Sie fahren fort, sie zu verneinen und handeln nur gemäß ihren eigenen Interessen. Es gelingt ihnen sogar, dieses Handeln als Wohltat oder gar Ausdruck christlicher Nächstenliebe zu verkaufen. Es ist ihnen tatsächlich fast ganz gelungen, diese ihre Ideologie weltweit zu verbreiten. Besonders die USA fühlen sich immer mehr berufen, denn sie haben noch mehr Kraft und Vitalität als der alte Kontinent, ihren Lebensstil weltweit als Maßstab zu etablieren, den „american way of life“.

Exkurs zur Religion der US-Puritaner (Calvinisten, u.a.): Ausgebeutete Menschen scheinen nichts anderes zu wünschen, als die gleichen Güter konsumieren zu können wie ihre Unterdrücker. Sie küssen ihren Unterdrückern aus Dankbarkeit die Hände, sie geben ihre eigene primitive Kultur auf um zu werden wie die Herren. Gott scheint auf der Seite dieser Herren zu stehen. Denn wie sonst könnten sie so erfolgreich, reich und allmächtig sein? Ausgebeutete Menschen geben sich selbst die Schuld an ihrem traurigen Schicksal, sie glauben an die von den Weißen erfundenen Mythen, ihr elendes Leben sei von Gott so gewollt und sie hätten nichts Besseres verdient. Die Armen, verführt von den angeblichen Segnungen der globalen Konsumgesellschaft ziehen in die Städte und werden dort noch ärmer und entwurzelter. Sie übernehmen die Religion ihrer Herrscher, wonach der Starke, der Clevere und Rücksichtslose alles erreichen kann. Dies scheint glaubwürdig, weil doch alles im Namen der Zivilisation, der Freiheit und des Fortschritts geschieht. Mitmenschen werden immer mehr als Konkurrenten z.B. im Kampf um einen Arbeitsplatz angesehen, im Kampf um einen Platz an der Sonne. Die Vielen wollen wie die Wenigen werden. Unterentwickelte Länder wollen entwickelt werden und wie Europa sein.

Die Totalisierung des neuzeitlichen Systems ist nahezu abgeschlossen. Es mag zwar noch einige „Wilde im Busch“ geben, die noch nicht wissen, wie Coca-Cola schmeckt, aber selbst deren Wildheit wird inzwischen erfolgreich vermarktet. Heute sind keine Kolonialkriege oder direkte militärische Aggressionen, wie dies bis vor kurzem noch der Fall war, notwendig, um das System aufrechterhalten zu können. Denn die weltweit herrschende und von Europa ausgehende Wirtschaftsform reguliert – quasi automatisch – die Herrschaft des Zentrums über die Peripherie mit einer dem System immanenten Logik.

Dieses Herrschaftsverhältnis reproduziert sich innerhalb der einzelnen Völker in der Hauptstadt, die das Landesinnere und die Provinzen ausbeutet, usw. Eine oligarchische Elite, die in den abhängigen Nationen das unterdrückte Volk beherrscht, erfüllt so schließlich die Parolen der Universalität der Kultur des Zentrums. Die Mehrheit der Bevölkerung, ausgebeutet und verführt von den „Fürsten dieser Welt“, leidet so unter einer doppelten Herrschaft. Unvorstellbares Elend für 2-3 Milliarden Menschen ist das Ergebnis. Die Praxis der Herrschaft ist die Praxis des Nein zu Abel und sie beginnt da, wo der Andere verneint und das Ich verherrlicht wird. Und sie endet in der Herrschaft der Starken über die Schwachen. Die Praxis der Herrschaft, die Ursünde der Menschheit, herrscht heute weltweit – nicht zuletzt dank der christlich-abendländischen Zivilisation. Und es wird immer schwerer, sowohl für einzelne Länder als auch besonders für den Einzelnen, sich aus dieser Praxis der Herrschaft zu befreien.

Der komplette Artikel: Das Nein zu Abel als Geschäftsmodell der „Moderne

*„Die Sünde der Welt“ (Röm 8, 4-17): Dieser Artikel erhielt bisher die meisten Klicks – 72.400 auf meiner Homepage


4. Dez. Die beiden Lastkutscher (über ein Gleichnis von Dom Helder Camara)

Der Mensch, wir allein haben zu verantworten, was auf der Welt geschieht. Und wir bewältigen diese Aufgabe nicht, wenn wir alles auf Gott abladen wollen oder wenn wir uns mit einem besseren Leben danach trösten. Denn Gott hat keine anderen Hände als die unseren und wenn wir nichts tun, dann geschieht nichts. Wir müssen also schon selber versuchen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen – oder er wird für immer darin stecken bleiben und wir werden mit ihm alle zusammen im Dreck versinken. Nun ist es aber nicht nur ein Karren, der im Dreck steckt, sondern es ist der Mensch, der im Dreck liegt bzw. in Dreck und Schmutz hineingestoßen wird. Es ist der größte Teil der Menschheit – nicht nur in der so genannten Dritten Welt – sondern auch bei uns, oder wir sind es vielleicht auch selbst, die im Schlamm feststecken. Ich möchte an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter erinnern. Der Samariter war sicher das, was wir heute vielleicht einen Ungläubigen nennen würden, zumindest aber würde man ihn nicht gerade zu den „Guten Katholiken“ zählen wollen. Diese „Guten Katholiken“ aber, vornehmlich Würdenträger, gehen an dem Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, vorbei. Es sind Menschen, die sich selbst als vorbildliche Gläubige gesehen haben und sehen, Menschen gar, die sich in besonderer Weise von Gott berufen fühlen und daher das selbstverständliche Recht für sich in Anspruch nehmen, Gott näher zu stehen und ihre Mitmenschen beurteilen und verurteilen zu dürfen.

Heute liegt nicht nur ein Einzelner im Straßengraben, sondern ganze Völker und Erdteile sind unter die Räuber und Mörder gefallen – und wir schauen zu oder gehen vorbei. Aber wir beten vielleicht für das Opfer. Ein derartiges Gebet aber wäre eine Beleidigung Gottes. Dies gilt umso mehr, wenn wir selbst die Räuber und Mörder sind, die ganze Völker in den Hungertod treiben, weil wir immer mehr haben wollen. Und gleichzeitig huldigen wir unserem Kult…!

Wer aber hilft und wie kann man überhaupt helfen und etwas Sinnvolles tun? Nun, es käme darauf an, nicht nur dem ausgeraubten Menschen im Straßengraben Bruder und Schwester zu werden, sondern wir müssen uns dafür einsetzen, dass es solche Straßen nicht mehr gibt, Straßen, die uns zwar direkt zum Tempel, aber die uns an den Opfern der Geschichte und der Gegenwart „sicher und unbeschadet“ vorbeiführen.

Diese Straßen sind ja von uns gerade deswegen so geplant worden! Die Straße nach Jericho, zu einer gerechteren Gesellschaft, muss aber völlig anders beschaffen sein. Die Straße nach Jericho darf nicht an den Ausgeschlossenen und den Ausgeraubten vorbeiführen, sondern zu ihnen hin und ohne sie wird es keinen Weg weiter nach Jericho geben. Aber wo sind die Christen bei einem solchen neuen Straßenbau zu finden? Die Ingenieure sind sie sicher nicht, die Hilfsarbeiter vereinzelt, in der Masse aber stehen sie abseits oder verhindern sogar den Bau neuer Wege. Vielleicht haben sie aber einfach auch keine Zeit, denn sie sind voll mit ihrem Kult und mit ihrem eigenen Seelenheil beschäftigt (Letzteres gilt vielleicht im besonderen Maße für unsere evangelischen Weggefährten). Neue Straßen müssen aber gebaut werden, von uns, weil es sonst niemand gibt, der sie baut und wenn wir sie nicht bauen, wird es bis in Ewigkeit solche Schlamm- und Räuber-Wege geben. Und, wir wissen es eigentlich gar nicht mehr: wir hätten diese Wegepläne, denn wir nennen uns nach einem gewissen Jesus von Nazareth, dem Christus, der uns den Weg gezeigt hat und der ihn mit uns geht. Diesen Weg zu erkennen und vor allem die Bereitschaft ihn auch zu gehen, wäre echte Spiritualität!

Der komplette Artikel: Helder Camara: Die beiden Lastkutscher


5. Dez. Ausgangspunkt und Anfänge einer Theologie der Befreiung

Ausgangspunkt einer Theologie die frei macht ist das Evangelium, die gute und befreiende Botschaft für alle Menschen, besonders aber für die 2/3 der Menschheit, die das Opfer der Gewalt, das Opfer der Reichen und Mächtigen dieser Erde sind. Das Evangelium ist die Grundlage unseres Glaubens an Jesus den Christus. Jesus Christus und sein Leben, sein Leiden, Tod und Auferstehung, sind der Ausgangspunkt jeder christlichen Theologie. Das ist eigentlich selbstverständlich, muss aber dennoch gelegentlich betont werden. Ist aber das Evangelium vorrangig eine frohe Botschaft zuerst für die Armen und Unterdrückten dieser Erde, und wenn es stimmt, dass das Evangelium den Menschen auch für das diesseitige Leben etwas zu sagen hat, so muss jede Art von Theologie und Verkündigung von der Situation ausgehen, in der diese 2/3 der Menschheit leben. Wenn die historische Situation der Abhängigkeit und Beherrschung von 2/3 der Menschheit mit ihren 30 Millionen Toten, die jährlich an Hunger und Unterernährung sterben, nicht zum Ausgangspunkt jedweder christlichen Theologie von heute wird, so wird die Theologie ihre fundamentalen Themen nicht in die Geschichte einbringen und konkretisieren können. Ihre Fragen werden keine wirklichen Fragen sein. Sie werden am wirklichen Menschen vorbei gehen. Alle mir bekannten Vertreter der Theologie der Befreiung stimmen der Aussagen von Assmann zu: „Es gibt fast eine Einstimmigkeit in den bisher veröffentlichten Texten: der Ausgangspunkt der Theologie der Befreiung ist die historische Situation der Abhängigkeit und Beherrschung, in der sich die Völker der Dritten Welt befinden“.

Aus meiner Seminararbeit im WS 73/74 in St. Georgen, SJ): Von einer Praxis der Herrschaft zu einer Praxis der Befreiung - eine "barbarische Theologie" (weil ausgehend von den "Barbaren").

Aber auch das eine Drittel der Menschheit, das weniger arm ist oder das auf Kosten der Armen weltweit immer reicher wird, muss von der herrschenden Situation ausgehen, die sie ja selbst nach ihren Interessen gestaltet haben. Wenn diese Menschen zudem noch Christen sein wollen, so können sie dies nur, wenn sie ihre Situation und ihren Standpunkt als unvereinbar mit der Botschaft Jesu erkennen und umkehren. Gerade sie bedürfen der Befreiung, denn sonst verfehlten sie ihr Menschsein und erst recht ihre Berufung, Kinder Gottes zu sein.
Die bisherige europäische Theologie (und es gab ja nie eine andere Theologie, die hellenistische Theologie in Alexandria und anderswo war ja auch europäisch) ging und geht nicht von den Armen aus, geschweige dass sie sich ihren Standpunkt zu Eigen machen kann. Sie kann das so lange nicht, wie Theologie und „Wahrheit“ von denen gemacht werden, die in dem reichen und herrschenden Teil der Welt wohnen, der die Mehrheit der Menschheit beherrscht und aussaugt. Mehr noch: sie wohnen nicht nur in diesem Teil der Welt, sondern sie sind tragendes und stützendes Teil dieses unmenschlichen Systems. Sie profitieren selbst davon und sind wie die europäische Kirche als Institution Garant und „Schutzpatron“ eines wirtschaftlichen und militärischen Systems, das spätestens seit Beginn der Neuzeit die ganze Erde erobert und dabei viele Völker vollkommen ausgerottet hat.

Die Theologie der Befreiung dagegen ist der erste größere Versuch, in dem sowohl die Vertreter der armgemachten und unterdrückten Völker selbst zu Wort kommen, als auch in dem die Lebenssituation und die geschichtliche Realität, in diese Menschen leben müssen, ausreichend berücksichtigt wird. Die Untersuchung und Analyse der bestehenden Situation in Lateinamerika, der Dritten Welt allgemein und gleichzeitig in den reichen Ländern – da zusammengehörende Pole derselben Entwicklung – wird mit Hilfe der Humanwissenschaften durchgeführt, ist aber bereits Bestandteil der Theologie. Das Elend in der Welt, zumindest so wie es ist, ist keine unveränderliche Naturgegebenheit und erst recht kein Zufall, sonders das geschichtliche Ergebnis ganz bestimmter und so gewollter wirtschaftlich-politischer-sozialer Prozesse, so geplant und gemacht von Menschen mit ganz bestimmten Interessen.

Um keine Sisyphos – Arbeit zu leisten, was weiterhin den gewaltsamen Tod von Millionen Menschen bedeuten würde, müssen Menschen, die sich aus ihrem Elend befreien wollen, die wahren Gründe ihres Elends und die Funktionsweise der Unterdrückung kennen lernen. Ohne Analyse der bestehenden Verhältnisse geht das nicht. Weiterhin bloße „europäische Theologie“ treiben zu wollen, wäre blanker Zynismus gegenüber dem zum Himmel schreienden Elend der Menschen – und gegenüber Gott in den Menschen.

PS: Im SS 1972 hatte sich in St. Georgen der erste "Studienkreis Theologie der Befreiung" in Deutschland gebildet, noch vor Erscheinen der deutschen Ausgabe des Buches "Theologie der Befreiung" von Gustavo Gutiérrez. Er wurde von lateinamerikanischen Mitstudenten (Doktoranden, mit konkreten Erfahrungen aus LA) initiiert und getragen. Einzige deutsche Mitarbeiter waren Christian Herwartz und ich. Pater Semmelroth und Pater Grillmeier waren kritische Begleiter.

Der komplette Artikel: Ursprünge und Anfänge einer Theologie der Befreiung


6. Dez. Kritik an der europäischen Theologie (hier Moltmann und Metz)

Es kann hier nicht um eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der europäischen Theologie gehen. Ausgewählt sind einige Vertreter, die sich mit der TdB etwas intensiver beschäftigt haben, die aber entsprechend ihres eigenen Standortes gar nicht anders können, als die TdB als irgendeine zusätzliche „modische“ Erscheinung zu betrachten, als eine unter vielen anderen Theologien. Von der Mehrzahl der Theologen (ausgenommen Theologen wie Rahner SJ, Schillebeeckx OP u.a.) ganz zu schweigen...!

1. Gutiérrez an Metz:

Metz setzt sich zu wenig (wenn überhaupt) mit dem wirtschaftlichen, sozialen und politischen System des weltweiten Kapitalismus und der BRD als wichtiger Player innerhalb des Weltwirtschaftssystems auseinander. Mangelnde Situationsanalyse führt zu mangelnder Konkretheit. Metz selbst gibt zu, von Ökonomie, Soziologie und Politik wenig zu verstehen. Dies ist aber für die TdB eine Voraussetzung, um die gegenwärtige Zeitsituation (Kairos) theologisch angemessen analysieren zu können. Denn eine solche Analyse ist unbedingt notwendig, um wirksam und zeitgemäß das Evangelium verkünden zu können. Adressat des Evangeliums und von Jesus selbst sind die Menschen, die in einer bestimmten Situation leben, zur Zeit Jesu eben in einer Situation massiver politischer Unterdrückung, wirtschaftlicher Ausbeutung (seitens der Römer und der eigenen Oberschicht) und einer Religion, deren Führer an denen vorbei gingen, die unter die Räuber gefallen sind.

Zu heute: Wer nicht erkennt (erkennen will), wozu ein liberal-kapitalistisches System führt, noch wie es funktioniert, bleibt logisch innerhalb dieses Systems gefangen (oder fühlt sich gar sehr wohl), da er es nicht durchschaut. Ein solches Gefangensein in einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit seinen Werten, Idolen, Glaubenssätzen und Ideologien (Illusionen und Opium für das Volk) verhindert aber eine adäquate Verkündigung der befreienden Botschaft von der Ankunft der Herrschaft Gottes. Es verhindert ein wirkliches Verstehen der christlichen Botschaft und missachtet den Glauben an die Menschwerdung Gottes inmitten seines geschundenen Volkes und an die – trotz allem, weil Gott es so will – Auferstehung und Überwindung dieser dem Menschen unwürdigen Verhältnissen.

Von all dem ist von Metz (und fast allen europäischen Theologen) aber nichts zu hören. Denn Metz lebt wie alle (west-) europäischen Theologen in einer Wohlstandsgesellschaft und kennt aus eigener Erfahrung weder Hunger, (im und nach den Weltkriegen schon, dies war aber nicht ausweglos und „nur“ temporär, wenn auch schlimm genug), keine schreiende Ungerechtigkeit und keine Unterdrückung. Daher ist es ihm kaum oder nur sehr schwer möglich, je in seiner Fülle zu verstehen, was es heißt arm, ausgebeutet und verfolgt zu sein - etwas zynisch ausgedrückt: die Nazi-Zeit wäre ein gutes Übungsfeld gewesen, siehe Dietrich Bonhoeffer. (Positiv herauszuheben ist aber sein zumindest theoretisch formuliertes Verständnis für das Leid und die „Leidenden“ – Com-pasión).

Umgekehrt und abhängig davon ist er deshalb nicht in der Lage, richtig erfassen zu können, was Befreiung bedeutet. Er kennt nicht die Sehnsüchte der Menschen nach integraler Befreiung, den Hunger nach dem täglichen Brot und nach Gerechtigkeit. Er kann den Wunsch nach elementarer Befreiung, wie ihn viele Menschen in der Welt (und auch zur Zeit Jesu) haben, nicht mit ihnen teilen. Logischerweise fehlt ihm auch die bittere und positive Erfahrung, die bestimmte Menschen in ihrem Aufstand gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Elend machen (müssen).

Als weiteres geht Metz von der Situation in Wohlstandgesellschaften und der herrschenden Länder aus, so dass ihm zwangsweise der Blick durch die Brille der Menschen in den beherrschten Ländern fehlt. Man könnte natürlich sich von diesen Menschen erzählen lassen, was angesichts dieser Situation christlicher Glaube, Hoffnung und Liebe bedeutet. Doch die europäische Theologie hatte und hat immer Recht…. Man kreist stattdessen lieber permanent um sich selbst, weil man sonst nichts hat, um das man sich drehen kann. All dies trägt dazu bei, dass der Begriff des Politischen, auf den Metz so großen Wert legt (eigentlich mit Recht) stets auf der Ebene des Abstrakten bleibt. Es ist Theologie nach dem alten Muster, wenn auch mit einigen neuen Inhalten, die aber verpuffen, weil der Ausgangspunkt (Standort) sich nicht ändert; biblisch gesprochen: es gibt keine Umkehr. Dennoch bewertet Gutiérrez die politische Theologie von Metz als fruchtbaren Versuch einer neuen Theologie, die sich positiv von der traditionellen Theologie abhebt.

Meine persönliche Meinung dazu ist, dass die Befreiungstheologen sich noch viel zu sehr an den Vorgaben der europäischen Theologie abarbeiten. Sie müssten sich eigentlich nicht rechtfertigen, sondern mehr darauf bestehen, dass hier zum ersten Mal in der Kirchengeschichte (von den ersten „Vätern“ abgesehen) eine nicht europäische Theologie entstanden ist, die aus der Perspektive der Opfer die Bibel liest und deutet. Diese Art und Weise Theologie zu betreiben ist der urchristlichen (Gemeinde-) Theologie und Praxis viel näher als der der Weg der europäischen Theologie, in der griechisch-heidnische Vorstellungen und Begriffe wichtiger zu sein scheinen als die Worte Jesu und die zudem sich selbst durch ihre Geschichte der Eroberung und der Rechtfertigung autoritärer Systeme (auch der Kapitalismus gehört dazu) sich selbst disqualifiziert. Dennoch: gerade deswegen ist ein Dialog mit Europa bzw. der römischen und evangelischen Kirche notwendig, damit das Evangelium auch den Europäern zum Heil gereiche – Umkehr inbegriffen.)

2. Gutiérrez an Moltmann (Theologie der Hoffnung)

Auf Moltmann trifft das oben Genannte ebenfalls zu. Moltmann redet zudem noch weniger als Metz von Unterdrückung und Ausbeutung. Für Moltmann ist Hoffnung etwas Transzendentales, weil sie sich auf keine bestimmte geschichtliche Situation bezieht. Sich auf etwas Konkretes zu beziehen, wäre in den Augen dieser Theologen reine Subjektivität, nicht übertragbar etc., meinen sie doch, ewige Wahrheiten abgetrennt von einer bestehenden Wirklichkeit formulieren zu können, mehr noch: sie glauben sich im Besitz dieser einen Wahrheit. Ob dies die Menschen berührt oder nicht, ist letztlich egal, es ist auch egal, ob sie dies verstehen oder nicht. Das alles ändert nichts an der Wahrheit. Daher ist es auch egal, welches Schicksal die Menschen erleiden und warum sie dies erleiden.

Ohne näher darauf einzugehen sei festgehalten, dass dies in seiner Konsequenz eine Leugnung der Menschwerdung Gottes ist, eine Leugnung des Todes und der Auferstehung Jesu. Gott wird bei Moltmann zwar als Motor der Geschichte gesehen, ohne aber im Geringsten darauf einzugehen, was das konkret bedeuten könnte. Vor allem aber ist es in dieser Sichtweise nicht notwendig oder gar gefährlich, sich als Mensch in der Geschichte zu engagieren. Dies könnte als Misstrauen in die Vorsehung Gottes ausgelegt werden, als ob der Mensch alles selbst richten könnte. Moltmann operiert mit „antizipatorischen Begriffen, die die Wirklichkeit nicht radikal hinterfragen“, so Gutiérrez. Doch ähnlich wie bei Metz sieht er bei Moltmann viele neue und hoffnungsvolle Ansätze.

Ein persönliches Erlebnis meinerseits: Moltmann war eingeladen, vor Studenten über die Menschenrechte zu sprechen. Bereits nach 2 Sätzen kam er auf das Thema „Kuba“ zu sprechen. Dann versuchte er über eine Stunde hinweg zu erklären, dass in Kuba die Menschenrechte mit Füßen getreten würden, weil keine Religionsfreiheit, Pressefreiheit, keine Demokratie etc. etc. und er endete mit einem Bekenntnis zur westlichen Demokratie bei gleichzeitiger Verurteilung atheistischer Systeme wie z.B. in Kuba.

Vor wenigen Wochen wurde die einzige Demokratie in Südamerika (Chile) unter Anleitung der USA gestürzt und der Versuch eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, im Blut erstickt. In Vietnam und Kambodscha treibt der systematische Völkermord „im Namen der Demokratie“ seinem finalen Höhepunkt zu, blutrünstige Militärdiktatoren überall werden von USA unterstützt, Millionen Menschen verhungern jährlich, weil man ihnen die Lebensgrundlagen raubt, während in Kuba seit der Revolution 1959 kein Kind mehr an Hunger gestorben ist… . Doch der Herr Professor regt sich darüber auf, dass es in Kuba keine Versammlungsfreiheit gäbe. Dies ist ein typisches Beispiel intellektueller Verkommenheit, von Moral und Verantwortung ganz zu schweigen. Solche Theologen kann man hier gut gebrauchen, solche Theologen machen sich bereitwillig zu „Hoftheologen des Pharao“, etwas liebevoller ausgedrückt: sie machen sich zum Affen, ohne zu merken, wem sie in Wirklichkeit dienen. Das sind eben die praktischen Folgen einer weltfremden Theologie und dem Verkünden einer „objektiven Wahrheit“.

3. Assmann an Metz

a) Die politische Theologie ließ sich nach Assmann zu sehr von der konservativen Kritik, die sie hervorrief, verwirren. Man ließ sich danach zu sehr in sekundäre und abstrakte Gelehrtendiskussionen ein, und blieb dabei unter sich. Die politische Theologie verlor so viel von ihrer ursprünglichen Aussagekraft und Eindeutigkeit. (Dasselbe könnte ich zur aktuellen Diskussion mit der TdB sagen. Allerdings hängt diese Wahrnehmung wohl damit zusammen, dass bei uns zuerst die Theologen Lateinamerikas wahrgenommen werden, während die Basis, aus der heraus diese Theologie entsteht, zu sehr im Dunkeln bleibt).

b) Assmann wirft den europäischen Theologen vor, aus Angst die Dinge nicht beim Namen zu nennen, z.B. die Mechanismen der Herrschaft genau zu benennen. Stattdessen wird endlos darum herumgeredet. Intellektuelle Sektiererei und gelehrt klingende aber umso hohlere Phrasen sind die Folge. Man redet in allgemeiner und abstrakter Form, vielleicht um des lieben Friedens willen (oder sich selbst und seine gute Position nicht allzu sehr zu „gefährden“) oder um niemanden auf die Füße zu treten. Ein Grund dafür ist meines Erachtens, dass „unsere Theologen“ meinen, von ihrem hohen Lehrstuhl herunter die Welt deuten zu können („ex cathedra“). Vor allem aber stehen sie nicht in einem existentiellen Kampf um ihr eigenes Leben und ihre eigene Würde, wie z.B. die ersten Christen und heute viele Christen in Lateinamerika. Die Standorte sind völlig verschieden.

c) Trennung von Dogmatik und Ethik: Eine solche Trennung verhindert eine Beschäftigung mit der historischen Praxis: Man sucht „ruhige Meere“ oder sonstige beschauliche Orte, wie die Dogmatik, die angeblich nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat, und schiebt die Beschäftigung mit der Welt und ihren Problemen der Sozialethik bzw. Sozialmoral zu (z.B. hier in St. Georgen: unter 23 notwendigen Seminarscheinen befindet sich 1 Schein, bei dem es um soziale Probleme und die Wirklichkeit der Menschen geht, die anderen 22 Scheine haben höchstens entfernt bzw. gar nichts damit zu tun.

Doch hier werden Seelsorger ausgebildet, die sich - laut Vatikanum II - zuerst mit den Menschen mit ihren Freuden und Ängsten beschäftigen bzw. ihnen dienen sollten. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Daher wendet sich das Zweite Vatikanische Konzil an alle Menschen in der Absicht, allen darzulegen, wie es Gegenwart und Wirken der Kirche in der Welt von heute versteht. … Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“. Wie und wo aber sollen die Seminaristen dies je lernen können?

Schlusswort

Die Liebe als Grundlage des Lebens und des Evangeliums und als geschichtlich befreiende Praxis, kann nicht auf eine einfache ethische Kategorie reduziert werden. Sie ist vielmehr die Basis jeder Theologie, jeder Praxis und sogar jeder Dogmatik. Liebe hat notwendigerweise eine soziale, eine politisch - öffentlich - gesellschaftliche Dimension. Sie drängt auf gesellschaftliche Veränderung, findet sich nicht ab mit ungerechten Verhältnissen, drängt auf Überwindung der Kluft zwischen Armen und Reichen. Wie könnte ich meinen Nächsten, der unter die Räuber gefallen ist, lieben, ohne gleichzeitig mit aller Macht darauf zu drängen, dass so etwas nie mehr passieren darf, dass die „Wege nach Jerusalem“ sicherer gemacht oder ganz umgebaut werden? Liebe heißt daher zuerst Solidarität mit den Opfern, den Verfolgten und Ausgebeuteten und als Folge ein Kampf gegen von Menschen gemachte Strukturen, die auf Ausbeutung beruhen.

Unter bestimmten historischen Umständen kann Liebe in seiner bedingungslosen Hingabe dazu führen, dass man mit seiner eigenen Klasse und Herkunft brechen muss (Sicherheit, Wohlstand, Bequemlichkeit) um als Armer unter Armen und mit den Armen für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Nachfolge Jesu bedeutet, genau dies zu tun.

Priestersein bedeutet dann, diese Nachfolge in seiner radikalsten Form und Hingabe an die Menschen zu leben, die unter die Räuber gefallen sind. Das Besondere des Priestertums besteht nicht darin, durch eine exklusive Weihe Gott näher zu sein, das „Opfer des Zölibats“ auf sich zu nehmen und sich einem Bischof zu unterwerfen, sondern in der Nachfolge Jesu den Menschen Bruder und Schwester zu sein, der Nächste zu sein, denen man alles geraubt hat, um als Mensch und Kind Gottes in Würde leben zu können.

Anmerkung: Im SS 1972 hat sich in Frankfurt, St. Georgen, der erste „Studienkreis Theologie der Befreiung“ in Deutschland gebildet, noch vor Erscheinen von „Theologie der Befreiung“ von Gustavo Gutiérrez in Deutsch.

Der komplette Artikel: Kritik an der europäischen Theologie (hier Moltmann, Metz), 1973


7. Dez. Gaudium et spes - Grundaussagen des Konzils

"Eine Kirche, die den Menschen dient, muss diese Orte der Begegnung mit Gott und den Nächsten erst entdecken, sie muss aufbrechen und sich auf den Weg machen - erst recht, wenn sie in einer „Wohlstandsgesellschaft“ derart fest verankert ist, dass sie von dieser kaum zu unterscheiden ist. Sie muss ausziehen, nach draußen gehen, vor die Tür – zu den Menschen im Straßengraben, die unter die Räuber gefallen sind, dann wird sie zur Gemeinschaft derer, für die Jesus der Messias ist. Das wäre dann echte Erneuerung!"

Für uns heute bedeutet dies, erst recht angesichts der drängenden Probleme, diesen Text neu zu entdecken. Denn er lässt die Kirche nicht los und drängt uns, uns den eigentlichen Fragen und Herausforderungen zu stellen (obwohl wir das oft gerne vermeiden würden) und einen neuen Anfang zu setzen. Daher ist die Entscheidung der Diözese, im Rahmen des Erneuerungsprozesses einen Studientag zu „Gaudium et spes“ zu machen, eine mutige und gute Entscheidung. Johannes XXIII. hat dem pastoralen (!) Aspekt des Lehramtes nach vielen Jahrhunderten wieder oberste Priorität gegeben. Er hat damit das Lehramt neu definiert: im Dienst und zum Wohl der Menschen. Er hat damit auch einen neuen Maßstab und ein grundlegendes Kriterium für Kirchesein (sowohl nach Innen als auch nach Außen, auf die Welt hin) eingeführt: die Menschenrechte. Menschenrechte und Evangelium werden in eine elementare Beziehung gesetzt.

Die Identifizierung der Kirche - wer - was ist Kirche?

Kardinal Suenens (u.a.) brachte mit Zustimmung des Papstes die Vorlage der Kurie (Ottaviani) zu Fall und stellte das Thema „Kirche“ in den Mittelpunkt, in zweifacher Perspektive: „ad intra“: was sagt die Kirche über sich, wie sollte sie sein, ihre Aufgaben, etc. Und „ad extra“: was hat die Kirche der Welt und den Menschen zu sagen. Daraus entstanden dann die beiden wesentlichen Konstitutionen des Konzils: „Lumen gentium“ (ad intra) und GS (ad extra). Es standen sich auf dem Konzil – nachdem die Vorlage der Kurie ad acta gelegt worden war – zwei „Fraktionen“ gegenüber, die französische und die deutsche. Die Deutschen waren gegen GS eingestellt (u.a. Bischof Hengsbach, Rahner, Ratzinger). Begründung: „Wir verstehen nichts von Wirtschaft …etc., also sagen wir dazu nichts). Vor allem Josef Ratzinger meinte, dass in GS viel zu viel von der „Welt“ gesprochen wird und der Text insgesamt viel zu optimistisch sei. Die „Franzosen“ waren viel visionärer und trauten der „Welt“ und den Menschen viel mehr zu.

Die „Deutschen“ wollten lieber über die Kirche als „societas perfecta“ reden, im Sinn von Augustinus, wonach „die Welt“ von Grund auf verdorben sei und allein durch das Opfer des Messias gerettet werden könne und daher alles menschliche Bemühen z.B. um mehr Gerechtigkeit auf dieser Erde von vorneherein zum Scheitern verurteilt sei. Und noch mehr: nach Ratzinger ist dieser Glaube, ist der Einsatz für mehr Frieden und Gerechtigkeit eher ein Zeichen von Gottlosigkeit bzw. Hybris (sich an die Stelle Gottes setzen wollen, statt auf Gott zu vertrauen). Der Weltbegriff von GS (diese Auffassung wurde von dem franz. Theologen Chenu vorgetragen, unterstützt von Kardinal Suenens, Belgien, und Johannes XXIII.) ist aber ein anderer und nicht so wie von Ratzinger unterstellt. GS spricht von dieser Welt als Schöpfung Gottes, geschaffen für den Menschen und zu dessen Heil. GS spricht von der Aufgabe der Kirche in dieser Welt von heute, so wie sie nun mal ist. Sie spricht von ganz konkreten Menschen, von deren ganz konkreten Sorgen und Nöten, Hoffnungen und Sehnsüchten. Und sie spricht davon, wie die Kirche diesen konkreten Menschen dienen kann, ihnen helfen kann, den Weg zu Gott und den Mitmenschen zu finden. Und mit dieser Haltung kehrt sie wieder auf den Weg von Jesus dem Christus zurück, der auf die Menschen zugegangen ist, sie umarmt hat und sie so geheilt hat. Diese Welt von heute gilt es mit allen ihren Problemen, Gefährdungen etc. wahrzunehmen als Heimat dieser Menschen. Will man die Menschen wirklich ernst nehmen, muss man von ihrer Situation ausgehen, eben von der Welt, in der sie konkret leben – ob man diese Welt so mag oder nicht! Diese „Weltsicht“ des Konzils lehnt aber auch der heutige Papst Benedikt XVI. entschieden ab.

GS will eine Analyse von Gesellschaft, d.h. von Kultur, Wirtschaft, Politik – von all den „Mächten“, die das Leben der Menschen bestimmen. Sie fragt nach den Ursachen z.B. von Elend, Hunger, etc. Und dies setzt sie in ein Verhältnis zu der „Rede von Gott“ bzw. zur Botschaft des Evangeliums. „Im Lichte des Evangeliums die Verhältnisse in dieser Welt, die Lebenssituationen der Menschen und Völker, zu betrachten, zu deuten und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen“ – das wurde in der Folge des Konzils vor allem in Lateinamerika zu einer Maxime des pastoralen Auftrags und Handelns der Kirche in der Welt von heute.
Die Kirche verabschiedet sich auf dem Konzil von einem Konzept, das die Kirche in Lehre und Praxis über viele Jahrhunderte geprägt hat: Das Konzept einer „societas perfecta“. Das wird u.a. deutlich in dem neuen Verständnis von Pastoral. Pastoral (Praxis) und Dogma (Lehre) werden als gleichwertig gesehen, vor dem Konzil ging es nur um das Dogma, um die Reinheit der Lehre. Pastoral und Dogma bilden nun aber keinen Gegensatz, sondern sie bedingen sich einander. In der „societas perfecta“ spielt dagegen die konkrete Praxis bzw. die Auswirkungen einer Lehre, ob menschenfreundlich oder nicht, (fast) keine Rolle. Der Begriff, ein politischer Begriff, stammt von Platon (4. Jh. vor Chr.) und meint eine Gesellschaft, die aus sich heraus alles hat, was sie zum Leben braucht, also autark ist.

Im 4. Jh. nach Chr. wurde dieser Begriff auf die Kirche übertragen und bis ins 20. Jh. so definiert, dass der Kirche von Gott alles gegeben wurde, was sie zu ihrer Existenz braucht. Sie braucht „die Welt“ nicht, sie ruht in sich und für sich. Sie regelt alles aus sich selbst heraus. Sie ist ein Machtkonzept. Sie hat eigenes Recht, eigenes Territorium, eigene Bildungseinrichtungen usw. Sie sieht die weltlichen Einrichtungen, den Staat und die „Welt an sich“ bestenfalls als gleichwertig, aber sie ist nie von einer Gesellschaft abhängig. Hauptaufgabe der Dogmatik war, dies theologisch zu begründen. Diese Begründungen fanden aber ihr Fundament nicht in der Botschaft Jesu, sondern vorrangig in der altgriechischen Philosophie. Mit anderen Worten: die Fundamente, von denen her sich die Kirche bestimmt, sind ihre eigenen Konstrukte.

Dieses Konzept wurde auf dem Konzil überwunden, speziell durch GS. Nicht die Kirche bestimmt aus sich heraus, wie die Welt zu sein hat, sondern sie öffnet sich nun der Welt und lässt die Sorgen und Nöte der Welt und der Menschen herein, sie identifiziert sich sogar damit. Die Fragen der Menschen gehen ein in die Kirche und die Kirche braucht daher keine Antworten mehr zu geben auf Fragen, die niemand gestellt hat. Sie findet ihre Antworten nicht, weil sie ein unerschöpfliches und geoffenbartes Depot von Antworten hätte, sondern sie findet Antworten gemeinsam mit den Menschen auf der Suche nach der Wahrheit. Man kann das Evangelium nicht verstehen, ohne die Menschen zu verstehen und man keine Antworten geben, wenn man die Fragen der Menschen gar nicht kennt oder sie gar nicht hören will

Die Kirche von heute muss sich auf fremde Erfahrungen einlassen, noch grundsätzlicher: dort ist Gott zu finden! Die Kirche muss sich von Fundstellen (Orte der Gottesbegegnung) herleiten lassen, die nicht in ihrer eigenen Verfügung stehen. Sie macht sich dadurch abhängig und diese Abhängigkeit (Ausgeliefertsein) gehört zu ihrem Wesen und macht sie letztlich auch „christusförmiger“. Sie nähert sich den Menschen mit „Gott auf dem Rücken“, d.h. sie erkennt ihn nicht „an sich“, sondern in der Begegnung mit dem Anderen kann ich ihm ins Auge sehen, erkennen und begegnen. Im Grunde genommen - nimmt man die Menschwerdung Gottes ernst - ist jeder Mensch ein „locus teologicus“. In jedem Menschen, dem ich begegne, kann ich Gott begegnen. Und wenn ich höre, was mir dieser Mensch zu sagen hat, höre ich Gott. Selbst das Evangelium gehört nicht exklusiv der Kirche, es „gehört“ allen Menschen, nicht nur den Christen.

Stichwort „Dialog“: Dialog mit dem Anderen heißt Dialog mit der Andersheit des Anderen, mit seinen Stärken und Schwächen. Echter Dialog besteht darin, die Stärken des Anderen zu sehen, zu fördern und die eigenen Schwächen zu erkennen. Die Stärken des Anderen legen bei mir Schwächen frei. Seine Stärken sehen und anerkennen bedeutet, meine eigenen Schwächen zu sehen, d.h. der Andere hilft mir dadurch, ein besserer Mensch zu werden. Nur so kann ich lernen und mich weiterentwickeln. Wenn ich zu hören weiß, kann ich wachsen und meinen Horizont erweitern. In der Realität sieht das aber meist anders aus. Man zielt auf die Schwächen des Anderen, um seine eigene Position und sich selbst zu stärken. Man nennt das eine „schielende Seele“ - wie der Pharisäer, der nur die Schwächen des Anderen sieht, seine eigenen Schwächen zudeckt (bzw. diese überhaupt nicht erkennen kann und will) und seine eigenen (scheinbaren) Stärken immer wieder betont.

Die Frage der Autorität: Im Gegensatz zur „societas perfecta“, in der die Autorität durch die Hierarchie vorgegeben ist und nicht hinterfragt werden darf, ist eine dienenden Kirche – laut GS – darauf angewiesen, von den Anderen Autorität zugesprochen zu bekommen. Im Gegensatz zur Kirche aus sich heraus, entsteht Autorität nicht von Amts wegen (Weihe). Autorität entsteht erst, wenn sie Menschen anerkennen („der hat mit etwas zu sagen“) und aus der Sache heraus. Sie wird verliehen und kommt vom Zuhören, nicht aus sich heraus. Ich habe Autorität, wenn Menschen frei anerkennen, dass ich ihnen in ihrer konkreten Lebenssituation etwas zu sagen habe und eine Orientierung und einen Halt anbieten kann. Die höchste Autorität ist die, welche unter Einsatz des eigenen Lebens erworben wird, wie z.B. die Märtyrer in der Nachfolge Jesu Christi. Für die Kirche bedeutet dies: wenn sie etwas hat und anbietet, das den Menschen in ihrer konkreten Situation wichtig ist (in ihren Ängsten, Bedürfnissen, Hoffnungen etc.), wenn Kirche etwas zu sagen und eine Botschaft hat, die wichtig für die Menschen ist, die ihnen hilft, Mensch zu sein – dann kann sie Autorität neu gewinnen.

Biblisch gesagt: wenn die Kirche in ihrer konkreten Praxis den Menschen hilft, ihre je eigene Berufung zu entdecken, Mensch zu werden und in Würde als Kind Gottes leben zu können, die Fülle des Lebens zu erfahren – dann wird sie selbst ihrem eigenen Auftrag gerecht, nämlich Zeichen des Heils für die Menschen zu werden, besonders für die „Bedrängten aller Art“, denn sie sind die ersten Adressaten der Botschaft Jesu. Welche Autorität aber haben die Bischöfe? Haben sie den Menschen wirklich etwas zu sagen? Wie positionieren sie sich, d.h. von welchem Standort aus beziehen sie eine Position (wenn überhaupt)? Haben sie Angst, ihre (Amts-) Autorität zu verlieren? Falls sie Angst haben sollten, ihre Autorität zu verlieren (ihre „Autorität durch Weihe und Amt“), dann können sie wahre Autorität gar nicht finden. Erst wenn sie einsehen, dass sie sich falsch positioniert haben (z.B. auf wessen Seite? auf wen und was hören sie wirklich?) und dass ihre Autorität nur Fassade ist, können sie neu versuchen, Autorität zu gewinnen.

Zeichen der Zeit (GS, Nr. 11)

Ein ganz neuer und entscheidender Begriff in GS ist „Zeichen der Zeit“. Er wurde eingebracht von Johannes XXIII. auf dem Hintergrund seiner Erfahrung als Nuntius in Frankreich. Schon in der Einberufung zum Konzil spricht der Papst von den „Zeichen der Zeit“, ebenso in seiner Enzyklika „Pacem in terris“, 1963. Als Zeichen der Zeit wurden damals gedeutet: die Arbeiterfrage, die Frauenrechte, die Befreiung der Völker (Entkolonialisierung) und die UNO als Symbol einer neu entstehenden Weltgemeinschaft mit dem Katalog der allgemein gültigen und verbindlichen Menschenrechte. Die Zeichen der Zeit müssen im Lichte des Evangeliums gedeutet werden. Dies hat eine klare und eindeutige Positionierung und Parteinahme zur Folge, nicht nur in der Lehre, sondern vor allem in der Praxis. Denn Jesus selbst hat eine eindeutige Position bezogen, er hat Partei ergriffen und ist deswegen (!) getötet worden.

Zeichen der Zeit im Sinne des Konzils sind heute Menschen, die um die Anerkennung ihrer Würde ringen, denen man ein „Leben in Fülle“ vorenthält, die ausgegrenzt und diskriminiert werden. Sie sind „die Anderen“ und sie sind es, mit denen wir einen echten Dialog führen müssen. Wir begegnen Gott („dem ganz Anderen“) in diesen Menschen, in ihren existentiellen Bedürfnissen, in ihrem Hunger nach Brot und nach Gott, in ihrem Streben nach einem Leben in Würde. Sie sagen uns, was Gott heute uns sagen will und an uns liegt es, diese Zeichen der Zeit wahrzunehmen und als Wort Gottes zu hören und zu deuten. Die Zeichen der Zeit deuten heißt auch, dass Gott einen sehr konkreten Ort (Topos) hat. Er identifiziert sich mit den Hungernden (u.a.), von dort aus spricht er zu uns. Nicht die Frage: wer ist Gott? sondern "WO ist Gott?" (im „zerfetzten Körper eines Kindes“?) ist die entscheidende Frage. Die Kirche (wir alle, auch Papst und Bischöfe) muss in diesem Sinne Gott erst entdecken und dies immer wieder neu, sie hat ihn nicht, erst recht kann sie ihn nicht definieren und verwalten und nicht qua Institution bzw. Amt im Namen Gottes.

U-Topoi (Utopien)

Utopie: ein Ort, den es nicht gibt. Aber er existiert - in einem Blick in die Zukunft: es soll so werden, wie es sein sollte. Christlich: die Gesellschaft und unsere Art des Zusammenlebens so zu gestalten, wie es Gott (ursprünglich) gedacht hat. Wir sind als moderne Menschen utopische Menschen. Denn wir sind auf Zustände ausgerichtet, die in der Zukunft liegen. Erstrecht gilt das für Christen. Denn Gott selbst hat uns in Jesus gezeigt, wie es sein könnte, wenn… . Und mit Jesus hat dies bereits begonnen und geht weiter. Ist Gott selbst Utopie? Er ist nicht in den „U-topoi“ zu finden (oder gar extra- oder supraterrestrisch), sondern an konkreten Orten und konkreten Menschen, in den hetero-topoi; d.h. im „Exil“, in der Exteriorité, in der Wüste, außerhalb des Systems, im Menschen im Straßengraben, im „Aussätzigen“. Der „hetero-topoi“ ist der Hungernde, der Andere, der Ausgeschlossene. Aber warum ist er ausgeschlossen und hat er Hunger? Und hier gilt: sehen und erkennen - im Lichte der Bibel deuten und dann handeln und Position beziehen… .

Der komplette Artikel: Gaudium et spes - Grundaussagen des Konzils


8. Dez.: Der Katakombenpakt: Aus dem Brief (von Willi Knecht) an Bischof Luigi Bettazzi vom 10. Oktober 1999 

„Über den Kontakt mit Prälat Hüssler aus Freiburg haben wir mit großer Freude erfahren, dass Sie als guter Freund von Bischof Dammert bereit sind, an einer Studie über dessen Arbeit und Werk mitzuarbeiten. Prälat Hüssler, ehemaliger Präsident von Caritas Deutschland, hat von unserer Studie erfahren und hält diese für sehr wichtig und interessant. Er berichtete uns, dass Sie Bischof Dammert seit den Tagen des Konzils sehr gut kennen. Sie haben nicht nur mit Bischof Dammert zusammengearbeitet, sondern Sie gehörten auch zu einer Gruppe von Bischöfen, die sich, inspiriert vom Geiste von Charles de Foucauld, regelmäßig trafen, um das Thema der Armut und einer Option für die Armen gründlicher zu behandeln. Dies geschah auch durch den Impuls des Hl. Vaters Juan XXIII., der bereits vor der Eröffnung des Konzils zum ersten Mal von einer Präferenz zugunsten der Armen sprach, ein Thema, das Kardinal Lercaro in der ersten Konzilsperiode vertiefte und das schließlich in Medellín zum zentralen Thema wurde.

Es wäre für unsere Studie sehr wichtig, etwas mehr von dieser Gruppe der Bischöfe zu erfahren, von ihren Sorgen, ihrer inneren Unruhe und ihren Hoffnungen. Es hätte viel mehr Gewicht, wenn ein Zeitzeuge und ein guter Freund von Bischof Dammert etwas authentisches schreiben könnte, so z.B. auch über das Treffen am 16. November 1963 der erwähnten Bischöfe in den Katakomben der Domitilla. ... Ihr Beitrag wäre nicht nur für unsere Studie etwas sehr Wertvolles, noch viel mehr wäre es ein Dienst an Bischof Dammert, seinem Werk und seinem Einsatz zugunsten der Armen“.

Der Beitrag von Luigi Bettazzi, ehemaliger Bischof von Ivrea:

Bischof José Dammert habe ich während des Zweites Vatikanisches Konzil kennen gelernt. In der Zeit davor hatte ich mich - auf Anregung von Prälat Georg Hüssler - für die Verbreitung der Priestergemeinschaft Jesus Caritas in Italien interessiert. Dies ist eine Bewegung von Priestern, die sich an der Spiritualität von Charles de Foucauld orientieren: Evangelium, Eucharistie und Teilen mit den Armen. Deswegen waren bei meiner Einsetzung als Bischof am 04.10.1963 der Gründer der Bewegung, der französische Bischof Guy Riobé, und der afrikanische Bischof Pierre Célestin Nkou dabei.

Nach seiner Rückkehr nach Rom hatte Bischof Riobé wöchentliche Treffen von Bischöfen initiiert, die entweder bereits Mitglieder der Priestergemeinschaft waren oder die zumindest dieser Spiritualität nahestanden. Als einer der ersten Bischöfe hatte sich Bischof Dammert dieser Gruppe angeschlossen, die bis zum Ende des Konzils zwanzig Bischöfe aus achtzehn Nationen und aus vier Erdteilen zählen sollte. Wir trafen uns wöchentlich für eine Stunde Anbetung und eine „révision de vie“, in der u.a. die in den Vollversammlungen vorgeschlagenen Themen weiterentwickelt wurden, indem sie vor allem im Licht des Themas der „Kirche der Armen“ bewertet wurden, das gerade als Querschnittsthema in allen Verhandlungen auftauchte. Bei diesen Treffen bedachten wir auch und tauschten unsere Erfahrungen aus, in welchem Stil ein Bischof sein Amt ausüben sollte. Ein Bischof sollte näher am Volk und mehr für die Gerechtigkeit und Solidarität engagiert sein. Gerade diese Ideen wirkten wie Sauerteig in den nichtoffiziellen Begegnungen zwischen Bischöfen (angeregt z.B. von Professor Houtard, Belgien oder von Abbé Boulard aus Frankreich.

Diese Begegnungen fanden ihren Höhepunkt in einer Versammlung für Gebet und Engagement, die in den Domitilla - Katakomben abgehalten wurde. Hier entstand das Positionspapier „Modell des Bischofs“, das zum größten Teil von der Gruppe „Jesus Caritas“ inspiriert war. Diese Gruppe wurde im Scherz - in Analogie zu den „Kleinen Brüdern" - die „Bruderschaft der Kleinen Bischöfe“ genannt. Ich glaube, es lohnt sich, dieses Dokument zu zitieren, das Kardinal Lercaro, Erzbischof von Bologna und einer der vier Moderatoren des Konzils, dem Papst übergab. Das Dokument wurde in Anlehnung an das sogenannte Schema 13 (Skizze zu „Gaudium et Spes“) im Scherz „Schema 14“ genannt.

„Wir auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil versammelten Bischöfe sind uns bewusst, dass wir die evangelische Armut nur mangelhaft leben. Wir möchten die einen und die anderen zu einem Weg ermutigen, auf dem jeder von uns die Vereinzelung und die Überheblichkeit vermeiden sollte. Verbunden mit allen unseren Brüdern im Bischofsamt, vertrauen wir vor allem auf die Kraft und die Gnade unseren Herrn Jesus Christus und auf das Gebet der Gläubigen und der Priester unserer jeweiligen Diözesen. Im Angesicht der Ewigkeit, vor der Kirche Christi und den Priestern und Gläubigen unserer Diözesen, verpflichten wir uns im Bewusstsein unserer Schwachheit, aber auch mit aller Entschiedenheit und Kraft, zu der Gott uns die Gnade geben will, zu folgendem:

1. Wir suchen in Bezug auf Kleidung, Ernährung, Transportmitteln und allem, was damit zu tun hat, dem gewöhnlichen Stil unserer Bevölkerung entsprechend zu leben (vgl. Mt 5,3; 6,33; 8,20).

2. Wir verzichten für immer auf Reichtum in unserem Auftreten und in unserem Alltag, besonders in der Kleidung (kostbare Stoffe, prunkvolle Farben ...) und bei den Insignien auf wertvolle Materialien. Diese Zeichen müssen dem Evangelium gemäß sein (vgl. Mk, 6,9; Mt 10,9-10; Apg 3,6).

3. Wir werden weder Immobilien noch bewegliche Güter noch laufende Bankkonten auf unseren eigenen Namen und dergleichen besitzen. Falls wir etwas besitzen müssen, werden wir alles auf den Namen der Diözese oder sozialer bzw. karitativer Einrichtungen laufen lassen (vgl. Mt 6,19.21; Lk 12,33-34).

4. Jedes Mal, wenn es möglich ist, werden wir in unseren Diözesen die Finanzverwaltung einem Gremium von kompetenten und ihrer apostolischen Verantwortung bewussten Laien anvertrauen, um immer weniger Verwalter und immer mehr Hirten und Apostel zu sein (vgl. Mt 10,8: Lk 12,33-34).

5. Wir wünschen weder mündlich noch schriftlich mit Namen oder Titeln angeredet zu werden, die Größe und Macht ausdrücken (Eminenz, Exzellenz, Monsignore). Wir würden es vorziehen, mit dem evangeliumsgemäßen Namen „Vater“ angesprochen zu werden.

6. Wir werden in unserem Verhalten und in den sozialen Beziehungen alles vermeiden, was Reichen und Mächtigen irgendwelche Privilegien, Vorrang oder Vorzüge zuzuerkennen scheint (z.B. angebotene oder angenommene Einladungen zum Essen, unterschiedliche Rangordnungen im Kult - vgl. Lk 13,12.14; 1 Kor 9,14.19).

7. Wir werden es vermeiden, bei wem auch immer, den Geltungsdrang zu erwecken oder diesem zu schmeicheln, sei es um Geschenke zu vergelten oder zu fordern oder aus irgendeinem anderen Grund. Wir werden unsere Gläubigen dazu einladen, ihre Geschenke als normale Beteiligung am Kult, am Apostolat oder der sozialen Aktion zu betrachten (vgl. Mt 6,2.4; Lk 15,9.13; 2 Kor 12,14).

8. Wir werden so viel wie nötig von unserer Zeit, unserer Reflexion, von unserem Herzen, unseren Mitteln usw. dem apostolischen und pastoralen Dienst an den Personen oder Gruppen von Arbeitern, den wirtschaftlich Schwachen und Unterentwickelten widmen - jedoch ohne dass dies den anderen Personen oder Gruppen der Diözese schadet. Wir werden die Laien, Ordensleute, Diakone und Priester unterstützen, die der Herr dazu beruft, die Arbeiter und Armen zu evangelisieren, indem sie am Leben der Arbeiter und an der Arbeit teilnehmen (vgl. Lk 4,18; Mk 6,4; Mt 1,45; Apg 18,3.4; 20, 33.35; 1 Kor 4,12: 9,1.27).

9. Im Bewusstsein der Erfordernisse der Gerechtigkeit, der Liebe und deren wechselseitigen Beziehungen, werden wir die Werke der Mildtätigkeit in soziale, auf die Gerechtigkeit und die Liebe gegründete Werke zu verwandeln suchen, die alle Menschen und alle ihre Bedürfnisse berücksichtigen sollen (vgl. Mt 25,31.46; Lk 13, 12.14.33-34).

10. Wir werden alles tun, dass die Verantwortlichen unserer Regierungen und unserer öffentlichen Verwaltung und Gerichtsbarkeit, Strukturen und soziale Einrichtungen beschließen und  realisieren, die für die Gerechtigkeit, die Gleichheit  und  die organisierte und vollkommene Entwicklung jedes Menschen notwendig sind - und damit auch notwendig für die Verwirklichung  einer neuen sozialen  Ordnung, die  den Kindern der Menschen und den Kindern Gottes würdig ist (vgl. Apg 2,44-45; 4,32.33.35; 2 Kor 8-91 Tim 5,16).

11. Die Kollegialität der Bischöfe wird am besten dem Evangelium gemäß verwirklicht, indem wir gemeinsam Verantwortung gegenüber den Menschen übernehmen, die sich im physischen, kulturellen und moralischen Elend befinden - also gegenüber von zwei Dritteln der Menschheit. Wir verpflichten uns, je nach unseren Mitteln einen Beitrag zu leisten zu den dringenden Investitionen der Bischofskonferenzen der armen Länder. Auf der Ebene internationaler Organisationen wollen wir als ein Zeugnis des Evangeliums, wie Papst Paul VI. vor der UNO, gemeinsam zur Schaffung ökonomischer und kultureller Strukturen beitragen, die nicht mehr zu immer mehr Armut in einer immer reicheren Welt führen, sondern die es vielmehr den Menschen erlauben, ihr Elend zu verlassen.

12. Wir verpflichten uns in der pastoralen Linie unser Leben mit dem unserer Geschwister in Christus, den Priestern, Ordensleuten und Laien zu vereinen, damit unser Amt ein wahrer Dienst sei. Deshalb werden wir uns bemühen, gemeinsam mit ihnen unser Leben zu überprüfen (d.h. gemeinsam eine „révision de vie“ zu machen). Wir werden unsere Mitarbeiter ermutigen, immer mehr Animatoren gemäß dem Geist und weniger im Sinne der Welt zu sein. Wir werden danach streben, auch menschlich immer präsenter und einladender zu sein und wir werden uns allen gegenüber, egal welcher Religionszugehörigkeit, offen zeigen (vgl. Mk 8,34-35; Apg 6,1.7; 1 Tim 3,8.10).

13. Nach der Rückkehr in unsere Diözesen werden wir unseren Beschluss den Mitgliedern unserer Diözese bekannt geben und sie bitten, uns mit ihrem Verständnis, ihrer Hilfe und ihren Gebeten zur Seite zu stehen. Gott helfe uns, treu zu sein“.

José Dammert war unter den „Kleinen Bischöfen“ eine zentrale Bezugsperson - und zwar nicht nur aufgrund seiner Weisheit und seiner juristischen Kompetenz, sondern auch wegen seiner auf Kompetenz, die auf einer tiefen persönlichen Erfahrung beruht, zuerst als Weihbischof von Lima, dann in seiner Diözese Cajamarca. Dies dokumentierten kontinuierlich die Briefe, die wir uns nach dem Konzil zu schreiben verpflichteten (Rundbriefe in einem vorher festgelegten Monat, mindestens einmal im Jahr), in denen wir die Situation der jeweiligen Diözesen beschrieben, die Probleme der Nation und der Kirche, sowie das Engagement für die nächste Zukunft.

Bischof Dammert erwies sich als einer der treuesten. In seiner knappen Ausdrucksweise gelang es ihm in wenigen Worten, ein erschöpfendes Panorama der unterschiedlichsten Situationen zu zeichnen. Dies stellte ich auch persönlich fest, als ich, mit einer Visitation der italienischen „Fidei-Donum-Priester“ beauftragt, nach Cajamarca kam - in die Stadt, in der sich die betrogenen Inkas den Europäern ergaben. Hier wurde ich mir der aufmerksamen und großzügigen Pastoral von Bischof Dammert bewusst. Ich empfing das Echo seiner regelmäßigen und mühevollen Reisen, die er unternahm, um jeden Winkel seiner Diözese persönlich kennen zu lernen und Präsenz zu zeigen. Vor allem war für mich die Vitalität einer Kirche mit Händen zu greifen, die von unten geboren wurde, aus einer überzeugten und verantwortlichen Mitarbeit des ganzen Volkes, das vom Bischof angeregt und geleitet wurde. Im Kontakt mit den Bischöfen bemerkte ich, welche Hochachtung Bischof Dammert innerhalb der Kirche Perus wegen seiner Intuitionen, seiner intellektuellen Vorbildung, seiner Initiativen und seines Mutes genoss. Und vielleicht ist es gerade wegen dieses Mutes, der neue kritische Standpunkte gegenüber den Regierungen (und auch gegenüber gewissen Sektoren der Kirche) erkennen ließ, dass er auf seinem ruhmvollen, aber peripheren und unbequemen Bischofssitz in Cajamarca belassen wurde.

Wir hatten begonnen, ermutigt und unterstützt vom Sekretär unserer Gruppe, Weihbischof Julius Angerhausen von Essen, zweijährige Treffen zu organisieren (in Brasilien, Rom, Spanien, Panama, Ivrea). Bischof Dammert war einer der eifrigsten, denn er war treu in der Freundschaft und wollte seinen Beitrag zum gemeinsamen Wachsen liefern. Er ist mehrmals nach Ivrea gekommen. Dies wurde auch durch seine perfekten Kenntnisse der italienischen Sprache erleichtert. Er hatte sie während seines Jurastudiums in Pavia gelernt, bevor er den Weg zum Priestertum einschlug. Es war immer eine brüderliche Begegnung, immer in den Reflexionen aufklärend und ermutigend. Die gesundheitlichen Probleme haben nicht seine Wirksamkeit vermindert. Nach seiner Rückkehr nach Lima widmete er sich, im Lichte des Konzils, das er mit so großer Anteilnahme und Hoffnung gelebt hatte, noch mehr der Aufmerksamkeit seinem Volk gegenüber und dem Wachstum der peruanischen Kirche. Er schrieb über die Geschichte des Christentums in Cajamarca und in Peru und schreibt weiterhin über den Weg der Kirche, der Kirche Perus und der universalen Kirche. Dem Freund José Dammert wünschen wir ein noch langes und heiteres Leben, ein fruchtbares intellektuelles und kirchliches Engagement sowie die Freude, dieses zunehmend anerkannt und in die Praxis umgesetzt zu sehen.
Luigi Bettazzi, Altbischof von Ivrea, Italien, Oktober 1999

Der komplette Artikel: Der Katakombenpakt – Einschätzung von Bischof Bettazzi (Ivrea)


9. Dez.: Medellín 1968: Botschaft an die Völker Lateinamerikas (Auszüge)

Kap. 1: Gerechtigkeit …. Über die Situation des lateinamerikanischen Menschen gibt es viele Studien. In allen wird das Elend beschrieben, das große Menschengruppen in die Randzonen des Gemeinschaftslebens drängt. Dieses Elend als Massenerscheinung ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit.

Die lateinamerikanische Kirche hat eine Botschaft für alle Menschen, die in diesem Kontinent „Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit“ haben. Derselbe Gott, der den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schafft, hat die „Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustattenkommen“. Er gibt dem Menschen Macht, die Welt mitverantwortlich umzugestalten und zu vervollkommnen. Es ist derselbe Gott, der in der Fülle der Zeit seinen Sohn sandte, der Mensch wurde, um alle Menschen aus aller Knechtschaft zu befreien, in der sie die Sünde, die Unwissenheit, der Hunger, das Elend und die Unterdrückung, mit einem Wort, die Ungerechtigkeit und der Hass gefangen halten, die ihren Ursprung im menschlichen Egoismus haben. Darum brauchen wir Menschen alle für unsere wirkliche Befreiung eine grundlegende Bekehrung mit dem Ziel, dass das „Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“ zu uns kommt. Wir werden keinen neuen Kontinent haben ohne neue und erneuerte Strukturen; es wird vor allem keinen neuen Kontinent geben ohne neue Menschen, die im Lichte des Evangeliums wirklich frei und verantwortlich zu sein wissen.

In der Heilsgeschichte ist das Werk Gottes eine Handlung der ganzheitlichen Befreiung und Förderung des Menschen in seiner vollen Dimension, die als einzigen Beweggrund die Liebe hat. Der Mensch ist „geschaffen in Christus Jesus“, in ihm „neues Geschöpf“ geworden. Durch den Glauben und die Taufe umgewandelt, ist der Mensch von den Gaben des Geistes mit einer neuen Dynamik erfüllt, nicht des Egoismus, sondern der Liebe, die ihn antreibt, eine neue, tiefere Beziehung zu Gott, zu den Menschen, seinen Brüdern und zu den Dingen zu suchen. Die Liebe, das „Grundgesetz der menschlichen Vervollkommnung und deshalb auch der Umwandlung der Welt“, ist nicht nur das erste Gebot des Herrn, sie ist auch die Dynamik, die die Christen bewegen soll, auf dem Fundament der Wahrheit und im Zeichen der Freiheit, die Gerechtigkeit in der Welt zu verwirklichen.

Das liberal-kapitalistische System und die Versuchung durch das marxistische System schienen in unserem Kontinent die Möglichkeiten auszuschöpfen, die wirtschaftlichen Strukturen zu wandeln. Beide Systeme verstoßen gegen die Würde der menschlichen Person. Das erste System hat als Voraussetzung den Primat des Kapitals, seine Macht und seinen willkürlichen Gebrauch im Dienst des Gewinns. Das andere System, obwohl es ideologisch einen Humanismus verteidigt, sieht den Menschen mehr als Kollektivwesen und verwandelt sich in der Praxis in eine totalitäre Machtkonzentration des Staates. Wenn wir von einer Situation der Ungerechtigkeit sprechen, beziehen wir uns auf jene Realitäten, die einen Zustand der Sünde ausdrücken. Dabei soll nicht verkannt werden, dass das Elend in unseren Ländern manchmal natürliche Ursachen haben kann, die schwer zu überwinden sind.

Internationale Spannungen und externer Neokolonialismus

Wir beziehen uns hier besonders auf die Konsequenzen, die für unsere Länder eine Abhängigkeit von einem wirtschaftlichen Machtzentrum in sich bergen, um das sie sich gruppieren. Daraus ergibt sich, dass unsere Länder häufig weder Eigentümer ihrer Güter noch Herren ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen sind. Es liegt auf der Hand, dass das nicht ohne Auswirkungen auf das Politische bleibt, im Hinblick auf die wechselseitige Abhängigkeit, die zwischen beiden Bereichen besteht. Wir möchten auf folgende Phänomene besonders hinweisen:

-          Wachsende Verzerrung des internationalen Handels.

-          Flucht von wirtschaftlichem und menschlichem Kapital.

-          Steuerflucht und Entziehung der Gewinne und Dividenden.

-          Progressive Verschuldung.

-          Internationale Monopole und internationaler Geldimperialismus.

Wir möchten unterstreichen, dass die Hauptschuldigen der wirtschaftlichen Abhängigkeit unserer Länder jene Kräfte sind, die, angetrieben von einem hemmungslosen Gewinnstreben, zu einer wirtschaftlichen Diktatur und zum „internationalen Geldimperialismus“ führen, den schon Pius XI. in „Quadragesimo anno“ und Paul VI. in „Populorum progressio“ verurteilten.
Wir klagen hier den Imperialismus jedweder ideologischer Prägung an, der in Lateinamerika in indirekter Form bis hin zu direkten Interventionen ausgeübt wird.

Kap. 2: Frieden: Christliche Sicht des Friedens

Die beschriebene Realität stellt eine Verneinung des Friedens dar, wie ihn die christliche Tradition versteht. Drei Merkmale kennzeichnen das christliche Verständnis von Frieden:

a) Der Frieden ist vor allem Werk der Gerechtigkeit.

Er setzt voraus und erfordert die Errichtung einer gerechten Ordnung, in der sich die Menschen als Menschen verwirklichen können, in der ihre Würde geachtet wird, ihre legitimen Erwartungen befriedigt werden, ihr Zugang zur Wahrheit anerkannt und ihre persönliche Freiheit garantiert wird. Eine Ordnung, in der die Menschen nicht Objekte, sondern Träger ihrer eigenen Geschichte sein sollen. Dort also, wo es ungerechte Ungleichheiten zwischen Menschen und Nationen gibt, wird gegen den Frieden verstoßen. Darum ist der Frieden in Lateinamerika nicht das einfache Ausbleiben von Gewalttaten und Blutvergießen. Die von den Machtgruppen ausgeübte Unterdrückung kann den Eindruck vermitteln, Frieden und Ordnung zu erhalten, ist aber in Wirklichkeit „der dauernde und unvermeidliche Keim der Rebellionen und Kriege“. Den Frieden erlangt man nur, indem man eine neue Ordnung schafft, die „eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt“. In diesem Sinne ist die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, der Schritt von weniger menschlichen zu menschlicheren Lebensbedingungen der neue Name für Frieden.

b) Der Frieden ist an zweiter Stelle eine dauernde Aufgabe. Die menschliche Gemeinschaft verwirklicht sich in der Zeit und ist einer Bewegung unterworfen, die ständig Strukturwandel, Umwandlung der Haltungen und Bekehrung der Herzen einschließt. Den Frieden findet man nicht, man errichtet ihn. Der Christ ist ein Baumeister des Friedens. Diese Aufgabe hat in unserem Kontinent auf dem Hintergrund der vorher beschriebenen Situation einen speziellen Charakter. Deshalb muss das Volk Gottes in Lateinamerika, dem Beispiel Christi folgend, mit Kühnheit und Mut dem Egoismus und der persönlichen und kollektiven Ungerechtigkeit die Stirn bieten.

c) Der Friede ist letztlich Frucht der Liebe, Ausdruck einer wirklichen Brüderlichkeit unter den Menschen. Die menschliche Solidarität kann sich nur in Christus wahrhaft verwirklichen, der den Frieden gibt, den die Welt nicht geben kann. Die Liebe ist die Seele der Gerechtigkeit. Der Christ, der für soziale Gerechtigkeit arbeitet, muss immer den Frieden und die Liebe in seinem Herzen pflegen.
Der Friede mit Gott ist das tiefste Fundament des inneren Friedens und des sozialen Friedens. Darum wird überall dort, wo dieser soziale Friede nicht existiert, überall dort, wo man ungerechte soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten findet, die Friedensgabe des Herrn, mehr noch, der Herr selbst zurückgewiesen.

Kap. 14: Die Armut der Kirche

Der lateinamerikanische Episkopat darf angesichts der ungeheuren sozialen Ungerechtigkeiten in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben; Ungerechtigkeiten, die die Mehrheit unserer Völker in einer schmerzhaften Armut halten, die in sehr vielen Fällen an unmenschliches Elend grenzt. Es erhebt sich ein stummer Schrei von Millionen von Menschen, die von ihren Hirten eine Befreiung erbitten, die ihnen von keiner Seite gewährt wird. „Ihr hört uns jetzt schweigend zu, aber wir hören den Schrei, der aus euren Leiden emporsteigt“, sagte Papst Paul VI. den Landarbeitern in Kolumbien. In der Situation der Armut und sogar des Elends, in der der größte Teil des lateinamerikanischen Volkes lebt, haben wir Bischöfe, Priester und Ordensleute das Nötige zum Leben und eine gewisse Sicherheit, während den Armen das Notwendigste fehlt und sie in Angst und Unsicherheit leben. Es gibt genügend Fälle, in denen die Armen fühlen, dass ihre Bischöfe oder ihre Pfarrer und Ordensleute sich nicht wirklich mit ihnen, mit ihren Problemen und Ängsten, identifizieren und dass sie nicht immer diejenigen unterstützen, die mit den Armen arbeiten oder sich für sie einsetzen.

Begründung aus der Lehre der Kirche

Wir müssen unterscheiden:
a) Die Armut als Mangel an den Gütern dieser Welt ist als solche ein Übel. Die Propheten klagen sie als gegen den Willen des Herrn gerichtet und in den meisten Fällen als Frucht der Ungerechtigkeit und der Sünde der Menschen an.
b) Die geistige Armut ist das Thema der Armen Jahwes und die Haltung der Öffnung zu Gott, die Bereitschaft dessen, der alles vom Herrn erwartet. Obwohl er die Güter dieser Welt wertet, hängt er nicht an ihnen und erkennt den höheren Wert der Güter des Reiches Gottes an.
c) Die Armut als Engagement, das die Bedingungen der Armen dieser Welt freiwillig und aus Liebe annimmt, um Zeugnis zu geben von dem Übel, das sie darstellt und von der geistigen Freiheit gegenüber den Gütern, folgt damit dem Beispiel Christi, der alle Konsequenzen der Sünde der Menschen auf sich nahm und der sich arm machte, um uns zu befreien.

In diesem Zusammenhang nimmt eine arme Kirche folgende Haltung ein:

  • Sie klagt den ungerechten Mangel der Güter dieser Welt und die Sünde an, die ihn hervorbringt.
  • Sie predigt und lebt die geistige Armut als Haltung der geistigen Kindschaft und Öffnung zu Gott.
  • Sie verpflichtet sich selbst zur materiellen Armut. Die Armut der Kirche ist eine unveränderliche Größe in der Heilsgeschichte.

Alle Mitglieder der Kirche sind aufgerufen, die biblische Armut zu leben, aber nicht alle auf dieselbe Weise, weil es verschiedene Berufungen dazu gibt, die verschiedene Lebensstile und Handlungsweisen mit sich bringen. Nachdem wir dies alles gesagt haben, muss mit Nachdruck betont werden, dass das Beispiel und die Lehre Christi, die beängstigende Lage von Millionen Armen in Lateinamerika und die dringenden Ermahnungen des Papstes und des Konzils die lateinamerikanische Kirche vor eine Herausforderung und eine Aufgabe stellen, denen sie nicht ausweichen kann und auf die sie mit Sorgfalt und Kühnheit – der Dringlichkeit der Zeit angemessen – Antwort geben muss.

Christus, unser Erlöser konzentrierte seine Sendung darauf, dass er den Armen ihre Befreiung verkündete und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen. Die Kirche in Lateinamerika spürt angesichts der Bedingungen der Armut und der Unterentwicklung des Kontinents die Dringlichkeit, diesen Geist der Armut in Gesten, Haltung und Normen auszudrücken, die sie zu einem leuchtenden und echten Zeichen ihres Herrn macht. Die Armut so vieler Brüder und Schwestern schreit nach Gerechtigkeit, Solidarität, Zeugnis, Engagement, Anstrengung und Überwindung für die volle Erfüllung des von Christus anvertrauten Heilsauftrages.

Pastorale Leitlinien

Deshalb wollen wir, dass die Kirche Lateinamerikas den Armen die Frohe Botschaft verkündet und mit ihnen solidarisch ist. Der besondere Auftrag des Herrn, „den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden“, muss uns zu einer Verteilung der Kräfte und des apostolischen Personals führen, die den ärmeren und bedürftigeren und aus irgendwelchem Grunde ausgeschlossenen Sektoren wirklichen Vorrang gibt, indem man die Initiativen und Studien, die mit diesem Ziel bereits unternommen werden, ermutigt und beschleunigt. Wir Bischöfe wollen uns in Einfachheit und aufrichtiger Brüderlichkeit immer mehr den Armen nähern, indem wir ihnen Zugang zu uns ermöglichen und leicht machen.

Wir müssen das Gewissen zur solidarischen Verpflichtung mit den Armen, zu der die Nächstenliebe uns führt, schärfen. Diese Solidarität bedeutet, dass wir uns ihre Probleme und Kämpfe zu eigen machen und für sie zu sprechen wissen. Dies muss sich in der Anklage der Ungerechtigkeit und Unterdrückung konkretisieren, im christlichen Kampf gegen die unerträgliche Situation, die der Arme häufig erleiden muss, in der Bereitschaft zum Dialog mit den für diese Lage verantwortlichen Gruppen, um ihnen ihre Pflichten begreiflich zu machen.

Wir möchten, dass unser Wohnstil und Lebensstil bescheiden sind, unsere Kleidung einfach, unsere Werke und Institutionen funktionsgerecht, ohne Pomp und Prunksucht. Wir möchten auf die Ehrentitel verzichten, die einer früheren Zeit angehören. Die Verwaltung der diözesanen oder pfarrlichen Güter soll mit kompetenten Laien besetzt sein und zum besten Nutzen zum Wohle der ganzen Gemeinschaft geleitet werden. Wir ermahnen die Priester, Zeugnis von der Armut und dem Verzicht auf die materiellen Güter zu geben, wie es viele, besonders in den ländlichen Gegenden und in den armen Stadtvierteln tun. Wir erwarten, dass sie immer mehr die anderen an ihren Gütern teilnehmen lassen werden, insbesondere die Bedürftigsten, indem sie mit ihnen nicht nur den Überfluss teilen, sondern das Notwendige, und bereit sind, die Gebäude und Mittel ihrer Werke in den Dienst der menschlichen Gemeinschaft zu stellen.

Wir möchten, dass unsere lateinamerikanische Kirche frei wird von irdischen Fesseln, von geheimen Abmachungen und zweideutigem Prestige; dass ihre Dienstaufgabe „frei im Geiste in Bezug auf die Bande des Reichtums“, durchsichtiger und stärker sei. Sie soll im Leben und in den zeitlichen Aufgaben gegenwärtig sein, wobei sie das Licht Christi widerspiegelt, der im Aufbau der Welt gegenwärtig ist. Wir möchten aufrichtig alle Menschen respektieren und sie anhören, um ihnen in ihren Problemen und Ängsten zu dienen. So wird die Kirche, die das Werk Christi fortsetzt, „der um unsertwillen arm wurde, da er reich war, damit wir durch seine Armut reich würden“, vor der Welt klares und unmissverständliches Zeichen der Armut ihres Herrn sein.

Kap. 15: Pastoral de conjunto: Christliche Basisgemeinschaften

Die Kirche muss dieser Situation mit geeigneten pastoralen Strukturen begegnen. Das Leben der Gemeinschaft, zu dem der Christ aufgerufen wurde, muss er in seiner „Basisgemeinschaft“ finden; das heißt, in einer Gemeinschaft am Ort oder in der Umgebung, die der Wirklichkeit einer homogenen Gruppe entspricht und eine solche Dimension hat, dass sie die persönliche Begegnung unter ihren Mitgliedern erlaubt. Daher soll die pastorale Bemühung der Kirche auf die Umwandlung dieser Gemeinschaften in eine „Familie Gottes“ ausgerichtet sein, indem sie beginnt, in ihnen als Sauerteig durch einen Kern – wenn er auch klein ist – wirksam zu sein; einen Kern, der eine Glaubensgemeinschaft, eine Gemeinschaft der Hoffnung und der Nächstenliebe bilden soll.

Die christliche Basisgemeinschaft ist so der erste und fundamental kirchliche Kern, der sich in seinem eigenen Bereich für den Reichtum und die Ausbreitung des Glaubens, wie auch für die des Kults, der sein Ausdruck ist, verantwortlich machen muss. So ist sie Kernzelle kirchlicher Strukturierung, Quelle der Evangelisierung und gegenwärtig der Hauptfaktor der menschlichen Förderung und Entwicklung. Wichtigstes Element für die Existenz von christlichen Basisgemeinschaften sind ihre Leiter und Führungskräfte. Diese können Priester, Diakone, Ordensleute oder Laien sein. Es ist zu wünschen, dass sie der von ihnen angeregten Gemeinschaft angehören. Leiter zu finden und zu bilden, muss vordringlichstes Ziel der Sorge der Pfarrer und Bischöfe sein, die sich immer vergegenwärtigen sollen, dass die geistige und moralische Reife zum großen Teil von der Übernahme der Verantwortungen in einem Klima der Selbstbestimmung abhängt. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften, „würdig der Berufung, die sie empfangen haben, sollen die Ämter, die Gott ihnen anvertraut hat, ausüben: Das priesterliche, das prophetische und das königliche Amt“, und auf diese Weise ihre Gemeinschaft „zum Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt“ machen.

Anmerkung - Red.: Zitate bzw. Fußnoten werden hier nicht aufgeführt.

Siehe: Auf dem Weg zu einer katholischen (allumfassenden) Kirche….

Siehe: „Der geteilte Mantel“, dem weltkirchlichen Magazin der Diözese (1.7.2018)


10. Dez.: 50 Jahre Medellín: Seine Bedeutung für die Zukunft einer erneuerten Kirche (u.a. mein Vortrag auf dem Treffen der Fidei-Donum-Priester in Medellín, 2018

Vor 50 Jahren, vom 26. 8 bis 08. 9. 1968, fand in Medellín, Kolumbien, die 2. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas statt. Die dort gefassten Beschlüsse gelten als die bisher wichtigsten Texte der Kirche in Lateinamerika und der katholischen Kirche weltweit. Es ist ein fundamentales Vermächtnis von Medellín, eine Kirche der Armen, ebenso eine Kirche im Dienst der Menschen, besonders der „Bedrängten aller Art“ und eine „österliche Kirche“ zu werden.

Aus diesem Anlass und unter diesem Motto fand das diesjährige Treffen der Fidei-Donum-Priester in Medellín statt. Eingeladen als Referenten waren vier kolumbianische Theolog*innen. Neben den Priestern nahmen sechs Laientheolog*innen teil. Als der erste Laientheologe im missionarischen Dienst (1976) und als solcher „offiziell“ ausgesandt von Bischof Wetter, Speyer, werde ich regelmäßig zu den Treffen eingeladen, diesmal auch als Referent.

Die Bedeutung von Medellín – ein Pfingsten für die Kirche in LA (aus den Vorträgen)

In den Vorträgen wurden stets die oben genannten Kapitel herausgehoben: Gerechtigkeit - Frieden - Armut der Kirche - Basisgemeinschaften als Ort gelebter Gemeinschaft. Die Bischöfe brachen in Medellín mit den bisherigen Paradigmen einer europäisch-römischen (Regional-) Kirche, obwohl sie selbst in einer solchen Kirche groß geworden sind. Aber in der Begegnung mit den Ärmsten haben sie deren “Schrei nach dem täglichen Brot und nach Gerechtigkeit” gehört. Dieses Hören und als Folge davon das Eintauchen in deren Welt, hat sie die eigentliche Botschaft Jesu entdecken lassen. Sie wechselten ihren Standort, ihre Perspektive: Nicht mehr die Heilige Allianz von Thron und Altar, von der Seite der Macht und der Mächtigen auf die Seite der Ohnmächtigen; weniger pompöser Kult als vielmehr Einsatz für ein Leben in Würde vor allem für diejenigen, denen man diese Würde vorenthält oder derer man sie gar beraubt; weniger das Seelenheil Einzelner als vielmehr die Befreiung des Volkes aus der Knechtschaft. “Wir sind schließlich die Nachfolger einfacher Fischer aus Galiläa”. (Bischof José Dammert, Cajamarca, Peru).

Ein Schlüsselwort heißt “Götzendienst”. Nicht der Atheismus, wie im Konzil und auch heute wieder hervorgehoben wird, ist das Hauptproblem, sondern der Götzendienst. “Ihr Gott ist das Geld, und die Gier nach immer mehr Besitz und Macht ist das Erste Gebot. So werden immer mehr Dinge produziert, doch immer mehr Menschen werden ausgegrenzt; Nahrungsmittel werden im Überschuss produziert und verschleudert, aber immer mehr Menschen hungern. Die Erde wird zur Wüste.… Diese falschen Propheten des Unheils gilt es als solche zu entlarven, denn sie führen die Welt in den Abgrund. Der Tanz um das Goldene Kalb wird zum Totentanz für Mensch und Natur“ (Aus: Der Friede - das Werk der Gerechtigkeit, in „Der geteilte Mantel“, 2011).

Als neue Herausforderungen, die in Medellín (fast) noch keine Rolle spielten, wurden genannt:

  • Der Schrei der gequälten Mutter Erde
  • Die Rolle der Frauen (Gender und Sexualität)
  • Zunehmende Migration (Raub der Lebensgrundlagen, Vertreibung, Gewalt ...)
  • Neokoloniale Strukturen in verschärfter Form, beschleunigt u.a. durch Digitalisierung.
  • Die tausendjährigen Erfahrungen indigener Völker (Cosmovisión andina - Buen vivir)

Ohne Umkehr läuft die Kirche Gefahr, zum nützlichen Idioten des herrschenden Götzendienstes zu werden. Stattdessen: Eine prophetische Kirche, die die „Strukturen der Sünde“ als solche benennt, sie anklagt und das verkündet, was auch das Grundanliegen Jesu ist: das Reich Gottes ist nahe! Ein gutes Leben für alle im Rahmen der planetarischen Grenzen. Das sakramentale Zeichen dafür ist die Eucharistie: Danksagung - Brotteilen - zeichenhafte Vorwegnahme der Gemeinschaft aller mit Gott.

Schon Karl Rahner sagte, dass das II. Vatikanum die “Enteuropäisierung” der Kirche und die Öffnung auf eine wahrhaft katholische Kirche bedeutete. Doch erst Medellín konnte diesen Schritt wagen und die “konstantinische Allianz” (M.-D. Chenu) mit der Macht gebrochen werden. Medellín öffnete den Weg hin zu einer Kirche auf der Seite der Ohnmächtigen, inkarniert in die Welt der Armen und als Begleiterin des Volkes auf seinem Weg der Befreiung. Und mit Papst Franziskus, der vom äußersten Rand der Welt kommt (nicht nur geographisch), kann es gelingen, der Kirche ein neues Gesicht zu geben, um so den unerschöpflichen Reichtum des Evangeliums neu zu entdecken. Wir müssen nur noch die uns gereichte Hand ergreifen...! Oscar Romero: “Lasst uns anstrengen, dass wir alles, was das Konzil und Medellín angestoßen haben, wir nicht nur lesen und theoretisch diskutieren, sondern dass wir es leben und es übersetzen in diese unsere so konfliktreiche Realität hinein” (Predigt am 23. März 1980, am Tag vor seiner Ermordung).

Aus meinem Vortrag in Medellín, 2018:

1. Vom Konzil zu Medellín, von 1965 - 1968:

Lateinamerikanische Kirchenhistoriker bezeichnen die Zeit von 1965 - 68 als die Periode, in der in kurzer Zeit auf kontinentaler Ebene wie nie zuvor so viele Bewegungen entstanden sind (Priester und Laien), die alle ein Ziel hatten:

  1. Hören und sehen, was die Menschen bewegt, worunter sie leiden und worauf sie hoffen,
  2. dies analysieren und im Lichte des Evangeliums neu deuten und
  3. Folgerungen für die Theologie, vor allem aber für die praktische Pastoral zu ziehen.

Soziokulturelle und sozioökonomische Studien sollten helfen, die Zeichen der Zeit – und letztlich das Evangelium – besser oder gar neu verstehen zu können und ein neues Bewusstsein für eine notwendige Veränderung zu schaffen. Beispielhaft ein Auszug aus der Rede von Dom Helder Camara in Mar del Plata, 1966: „Zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas stehen wir vor fundamentalen Veränderungen. Die Kirche muss dazu beitragen, einen ´neuen Menschen´ zu verkünden und ihn zu leben. Der ´neue Mensch´ wird nicht ein gigantischer Produzent oder Konsument sein, nicht Teil einer gigantischen Maschinerie, die zum Ziel hat, alles – so auch die gesamte Natur – zu beherrschen. Ziel ist vielmehr, ein freier und bewusster Mensch zu werden im Kontext einer Befreiung aller, die geknechtet sind, damit das entstehen kann, was Freiheit ausmacht: frei zu sein, um sich von seiner eigenen Gier befreien zu können um so sich so dem Anderen, dem Nächsten, hingeben zu können.“ In diesem Zusammenhang spricht er auch von einer ´kollektiven Sünde´, d.h. von den Verhältnissen, die den Menschen versklaven und die ihn daran hindern, zu dem zu werden, zu dem er berufen ist. In den Dokumenten von Medellín wird dann von den „Strukturen der Sünde“ die Rede sein.

Führender Theologe und Berater der Bischöfe war seit 1966 Gustavo Gutiérrez. Seine theologischen Arbeiten waren die Grundlagen für viele bischöfliche Versammlungen. So hielt er z.B. 1967 in Montreal einen viel beachteten Vortrag mit dem Titel: „Die Kirche und die Armut“. Er bezeichnet die massenhafte Armut in Lateinamerika als skandalös, als nicht hinnehmbar und schließlich als Frucht der Ungerechtigkeit und der Sünde der Menschen. Diese Armut als Folge himmelschreiender Ungerechtigkeit, widerspricht fundamental dem Willen Gottes. Diesen Zustand nicht nur hinzunehmen, sondern ihn gar zu rechtfertigen und zu segnen und die Menschen zu vertrösten auf eine Belohnung im Jenseits, widerspricht völlig der Botschaft Jesu. Er unterscheidet hier auch die verschiedenen Arten von Armut. In Medellín wurde diese seine neue Interpretation von Armut übernommen (Kap. 14).

3. Folgen von Medellín – eine neue Perspektive

Ein praktisches Beispiel aus Bambamarca: Die Dokumente von Medellín spielten auch in der Praxis eine große Rolle. So wurden z.B. bei den Campesinos in der Diözese Cajamarca, Peru, die Dokumente von Medellín sehr positiv aufgenommen. Sie entdeckten darin die gleichen Prioritäten, nach denen sie bisher schon gearbeitet hatten. „In Medellín hat sich die Mehrzahl der Bischöfe für eine Option für die Armen ausgesprochen. Das sind Worte, die sich uns einprägten. Medellín bestätigte, dass auch wir Campesinos Kirche sind. Kirche ist nicht nur die Hierarchie, die Kirche sind wir alle“. Dammert erreichte 1969 in Gesprächen mit Papst Paul VI., dass seine Diözese unter Missionsrecht (Ius missionale) gestellt wurde. Dies ermöglichte es, dass die bestehenden Gesetze gemäß den regionalen Notwendigkeiten ausgelegt werden konnten und Laien, Männer und Frauen, zu Gemeindeleitern, Täufern und allgemein zu pastoralen Diensten (Eheschließung, Bußandachten, etc.) beauftragt werden konnten. „Der Papst ermutigte mich von ganzem Herzen, mit meiner bisherigen Arbeit fortzufahren, trotz aller Schwierigkeiten. Er drängte mich, einige Experimente weiterzuführen, ein Ritus für die Taufe durch ländliche Katecheten auszuarbeiten, ebenso einen Katechismus, angepasst an die Mentalität und das Verständnis der Campesinos. Er hielt mich an, das Verständnis des Priestertums in einer andinen Umgebung neu zu entwickeln“.

Folgen von Medellín – eine neue Perspektive

„Die Armen zuerst! - 12 Lebensbilder lateinamerikanischer Bischöfe“, J. Meier, (Hg), 1998. Bischöfe Medellíns: Raúl Silva Henríquez; Enrique Angelelli; Luis Vallejos; José Dammert; Leonidas Proaño; Alberto Luna; Helder Camara; Antonio Fragoso; Pedro Casaldáliga; Adriano Hypolito; Paolo Evaristo Arns; Juan Gerardi; Sergio Méndez Arceo; Samuel Ruíz. (Darin mein Beitrag über José Dammert)

In Medellín wurden wesentliche Aussagen des Konzils auf die konkrete Situation in Lateinamerika hin ausgelegt. Ursachen des Elends wurden benannt. Eine Analyse der weltwirtschaftlichen Strukturen führte zu dem Ergebnis, dass das Elend in weiten Teilen der Welt eine direkte Folge der pol.-wirtschaftlichen Strukturen sind, die von den reichen Ländern (Kolonialmächten) so eingerichtet worden sind, dass sie „zwangsläufig“ (systemimmanent logisch) zu immer größerem Reichtum der Wenigen führen. Eine entsprechende Analyse, Ursachenforschung und Deutung im Lichte der Bibel gab es aber bis heute nicht in der europäischen Kirche. Vom Standort der Ausgegrenzten aus, von dem biblischen Standpunkt her gedeutet, ist die europäische Theologie schon seit dem 4/5. Jahrhundert eine Theologie im Kontext der „Sieger“, eine Kirche der Rechtfertigung für Kolonialismus, Sklaverei, kulturellen Rassismus bis hin zur bestehenden Rechtfertigung einer kapitalistischen Weltordnung, in der die Vermehrung des Kapitals oberstes Gebot ist. Und die „Hoftheologen des Pharao“ (oder von König Jerobeam in Israel zur Zeit des Propheten Amos) maßen sich an, über den Glauben der Menschen zu urteilen, die im Namen Jesu gegen den herrschenden Götzendienst aufstehen und ihr Leben riskieren, damit ihre Brüder und Schwestern leben können.

Einfluss einer befreienden Pastoral in Cajamarca (seit 1962) auf die Dokumente von Medellín – und umgekehrt

„Wir leben in einer Zeit der Euphorie wegen dem Konzil, denn wir spüren, dass die Be­schlüsse des Konzils zu einer fruchtbaren Erneuerung führen werden. Das Evangelium hat auch heute noch seine Dringlichkeit und Aktualität wie vor 2000 Jahren. Denn es gab immer Ungerechtigkeiten und die Sünde, aber im Herzen der Menschen brannte auch immer die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt, der Durst nach Liebe, Verständnis und Vergebung. Es war kein Zufall, dass Gott Mensch wurde inmitten eines armen Volkes, in einer armen Frau, die sicher nichts Außergewöhnliches war und wie alle armen Frauen eines armen Volkes. Gott wurde geboren noch nicht einmal in einer Herberge, sondern in einem Stall, auf dem Lehmboden bzw. in einer Futterkrippe, arm unter Armen, verachtet. So ist er mitten unter uns in der Form eines geistigen Brotes, damit dieses Brot auch ein materielles Brot für alle werde und damit dieses Brot unter allen seinen Geschwistern gerecht verteilt werde. Die Glieder des Leibes Christi sind speziell die, die leiden, die Verachteten, die Armen. Solange es sie gibt, leidet Jesus weiter. Solange wir nicht für das Reich Gottes eintreten, solange wir diese Wun­den am Leib Christi nicht heilen, werden diese Wunden ewig ans Kreuz genagelt bleiben. Wenn wir nicht für mehr Gerechtigkeit in der Welt eintreten, verraten wir Christus. Die dreißig Silberlinge als Lohn des Verrats sind heute unsere Gleichgültigkeit und die Suche nach einem bequemen Leben, während gleichzeitig zwei Drittel der Menschheit im Elend le­ben. Wenn wir die Welt analysieren, in der wir leben, so ist sie gekennzeichnet durch eine Trennung in Arme und Reiche. Der Reiche ist der, der mehr hat, als er zum Leben braucht. Die Armen sind die, die noch nicht einmal das Notwendigste zum Leben haben und deren fundamentalste Menschenrechte verletzt werden. Heute handelt es sich auch nicht mehr um Arme als Individuen, sondern um ganze Völker“.

In diesem Text ist bereits all das enthalten, was für seine Arbeit als Bischof von Cajamarca maßgebend war. Die folgende Entwicklung in Cajamarca ist von daher zu verstehen.

Exemplarisch für seine Arbeit in nationalen und internationalen kirchlichen Strukturen und Gremien steht sein Einsatz für und in Medellín. Medellín sollte für Dammert ein Höhepunkt seines Wirkens werden. Für die Vorbereitung auf Medellín war für Dammert die enge Zusammenarbeit mit der Diözese Riobamba von Bedeutung. Die Bischöfe Dammert und Proaño hatten bereits während des Konzils ein sehr enges Verhältnis und über die Konferenzen des CELAM und die freundschaftlichen Kontakte hinaus kam es zu einem regen Austausch von praktischen pastoralen Erfahrungen. Bischof Proaño schließlich lud Dammert ein, in der Pastoralabteilung von CELAM mitzuarbeiten. Dammert war auch Präsident der „Kommission für Laien“ des CELAM. Daher hatte er eine besondere Verantwortung für die Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe. In der Folge oblag es beiden Bischöfen, die vorbereitenden Versammlungen zur zweiten Bischofsversammlung von Medellín zu koordinieren und auch inhaltlich zu gestalten. Die im engsten Kontakt mit den Campesinos gemachten pastoralen Erfahrungen fanden so unmittelbaren Eingang in die Dokumente von Medellín. Dammert hatte erkannt, dass nur mit den Laien die notwendige Erneuerung der Kirche geleistet werden konnte. Die Ausbildung von Laien und die Heranbildung der ersten Landkatecheten in seiner Diözese hatten bereits erste Früchte getragen. Er wurde durch die Erfahrungen in der Praxis bestärkt, dass die Mitarbeit von Laien und die Bildung von kleinen christlichen Gemeinschaften sich nicht nur aus innerkirchlichen oder strukturellen Gründen als notwendig erwies, sondern aus fundamentalen Gründen, abgeleitet aus dem Evangelium.

Diese Erfahrungen und Erkenntnisse konnte er daher glaubhaft in Medellín einbringen, unterstützt von einer starken peruanischen Fraktion. „Ich darf daran erinnern, dass ich als Präsident der Kommission für die Laien von 1963-1969 und Delegierter bei CELAM, aktiv an der Vorbereitung für Medellín beteiligt war. In Medellín selbst war der peruanische Einfluss sehr stark: Landázuri war einer der Präsidenten, Ricardo Durand, Erzbischof von Cusco, leitete die Kommission über die Armut und ich, die über die Laien. Die Beteiligung von Gustavo war wertvoll, besonders in den Abschnitten über Gerechtigkeit und Armut“ (20). Bischof Dammert trug in Medellín die entscheidende Vorlage zur Armut vor, die dann von der Konferenz approbiert wurde. „Bei dem Thema ‚Armut’ erreichte ich die lehramtliche Zustimmung. Das Thema war von Gustavo Gutiérrez ausgearbeitet worden, aber es wurde von mir als mein eigener Beitrag vorgetragen. Es war das zentrale Thema“.

Unterstützt von Kardinal Landázuri war Dammert die treibende Kraft, um die Beschlüsse von Medellín in Peru umzusetzen. Gustavo Gutiérrez: „In enger Zusammenarbeit mit Kardinal Landázuri war Pepe einer der Bischöfe, der am meisten dazu beigetragen hat, dass das Zweite Vatikanische Konzil und Medellín die pastoralen Aktivitäten der peruanischen Kirche inspiriert haben. Er hat das ernst genommen, was die bestimmende Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, Johannes XXIII., die Kirche der Armen nannte“. Wenn auch in Medellín schon die Erfahrungen Dammerts vor allem in der Landpastoral, in der Ausbildung von Laien und sein persönliches Zeugnis der Armut eingeflossen waren, so war dies für viele peruanische Bischöfe noch etwas Neues. Dammert konnte sich aber nun zu Recht von den Beschlüssen von Medellín bestätigt fühlen - auch in seiner eigenen Diözese.

Die herausragende Stellung Dammerts innerhalb des peruanischen Episkopats wurde durch Medellín gestärkt. Der Geist von Medellín bestärkte seine Arbeit in der Diözese und darüber hinaus. Dammert: „Diese Beteiligung verpflichtete den peruanischen Episkopat und dessen Engagement fand seinen ersten Ausdruck im Januar 1969 in den Dokumenten des per. Episkopats über ‚Gerechtigkeit in der Welt’ und 1973 über ‚Evangelisierung’. Dazu kommen selbstverständlich die zahlreichen Erneuerungen in den verschiedenen Diözesen. Der Einfluss von Medellín war auch sehr stark in der Erneuerung religiöser Institutionen, speziell weiblicher, die sich nun verstärkt der Arbeit mit den Marginalisierten widmeten und einer tiefen Sehnsucht, zum Geist ihrer Gründer zurückzufinden, der vielfach vergessen worden war. Der Einsatz von Bischöfen, Priestern und Laien für sozio-politische Reformen ist in gleicher Weise eine Frucht des Geistes von Medellín. Offensichtlich fehlt noch viel zu tun, zum Teil wegen der Angst einiger vor Reformen, zum Teil wegen der überstürzten Aktivitäten anderer, das zu Widerständen führte und Initiativen bremste. Ich glaube, dass das Konzil und Medellín für lange Zeit wertvolle Perspektiven eröffnet hat. Trotz der Kampagnen gegen Medellín, unter dem Vorwand eine abendländische Christenheit zu verteidigen, müssen wir auf den vom Konzil eröffneten Wegen weitergehen“.

Die Dokumente von Medellín spielten auch in der Praxis eine große Rolle. Für die bisherigen Katecheten war es eine Bestätigung und für die neuen Katecheten eine zusätzliche theoretische Grundlage, auf der in der Folge die Ausbildung basierte. Bei den Campesinos wurden die Dokumente von Medellín sehr positiv aufgenommen und sie entdeckten darin die gleichen Prioritäten, nach denen sie bisher schon gearbeitet hatten. Concepción Silva, 1968 in einer Jugendgruppe aktiv: „Ich bewahre heute noch das Dokument von Medellín auf, es ist schon zerfleddert vom häufigen Gebrauch. Ich erinnere mich, dass wir damals begeistert waren, es kennen zu lernen. Zuerst lernte ich es auf einem zweiwöchigen Diözesankurs in Cajamarca kennen. In Medellín hat sich die Mehrzahl der Bischöfe für eine Option für die Armen ausgesprochen. Das sind Worte, die sich uns einprägten. Medellín bestätigte, dass auch die Campesinos nicht nur erkennen sollten, dass sie Teil der Kirche seien, sondern dass sie Kirche sind. Kirche ist nicht nur die Hierarchie, die Kirche sind wir alle. Niemals gab es das vorher, dass ein Campesino die Sakramente spenden konnte, dies konnten nur geweihte Leute“.

Neben den genannten Prioritäten war es die Gewissheit, dass es in ganz Peru und überall auf dem Kontinent zu einem Aufbruch kommen wird. Die eigenen Erfahrungen deckten sich mit dem Anliegen und den Aussagen der Bischöfe. Man fühlte sich getragen und beflügelt von einem Aufbruch auf dem ganzen Kontinent, darin zum ersten Mal unterstützt von Priestern und Bischöfen. Es entstand das Gefühl der Einheit mit den Bischöfen und eventuell noch latente Zweifel an der Nachhaltigkeit des eingeschlagenen Weges wurden besänftigt. Im Jahre 1969 hat Paul VI. dem Bischof von Cajamarca persönlich die Vollmacht gegeben, die Katecheten zu bevollmächtigen, das Sakrament der Taufe zu spenden. Aus Rom berichtet Dammert über seine Begegnung mit dem Papst: „Er ermutigte mich von ganzem Herzen, mit meiner bisherigen Arbeit fortzufahren, trotz aller Schwierigkeiten. Er drängte mich, einige Experimente weiterzuführen, ein Ritus für die Taufe durch ländliche Katecheten auszuarbeiten, ebenso einen Katechismus, angepasst an die Mentalität und das Verständnis der Campesinos. Er hielt mich an, das Verständnis des Priestertums in einer andinen Umgebung neu zu entwickeln und zu entdecken“.

Zur Erinnerung: Gustavo Gutiérrez hätte nach eigenen Aussagen seine „Theologie der Befreiung“ - zumindest so - nicht schreiben können, ohne die Erfahrungen aus Cajamarca, das er bereits in den 60-er Jahren und danach häufig besuchte.

Zur Bedeutung der Kirche von Cajamarca: Durch seinen Bischof José Dammert Bellido (Bischof von Cajamarca von 1962 - 1992) wurde Cajamarca zum Vorbild in Peru und auch darüber hinaus bekannt. Dammert war Präsident der „Kommission für Laien“ im CELAM und als solcher maßgebend an den Beschlüssen von Medellín beteiligt. Er war „Ziehvater“ und bester, väterlicher Freund von G. Gutiérrez und hat mit ihm die „Option für die Armen“ in Medellín durchgesetzt (mit Dom Helder Camara und Leónidas Proaño). Er war Mitbegründer und bis 1992 Motor der weltweit über 600 „Kleinen Bischöfe“ und 10 Kardinäle, die sich im Geiste von Charles de Foucauld zum Abschluss des Konzils der Armut verpflichtet haben. (Katakombenpakt).

In der Diözese gab es seit 1969 die weltweit ersten Campesino-Katecheten/Innen mit weitreichenden Vollmachten. Die Diözese wird von Kirchenhistorikern und Theologen als die Diözese bezeichnet, in der der „Geist des Konzils“ mit am konsequentesten und erfolgreichsten in die Praxis umgesetzt wurde: Als ein „Mehr an der Fülle des Lebens“ für die Ärmsten.

Praktische, gelebte Beispiele einer „Kirche der Befreiung"

Die Pfarrei Bambamarca (etwa 100.000 Katholiken, 95% Campesinos) war das Pilotprojekt der Diözese Cajamarca und wurde über Peru hinaus zum Vorbild einer befreienden Kirche und Pastoral. Sie gilt als die „Wiege der Theologie der Befreiung“ (G. Gutiérrez ging dort nach eigenen Angaben „in die Lehre“). Bereits 1969 übertrug Bischof Dammert in Absprache mit Paul VI. den ersten Campesinos u.a. die Vollmacht zu taufen und die Gemeinden zu leiten. Der erste „Indiokatechet“ der Welt war Candelario Cruzado. Zeitweise waren über 200 Katecheten (Männer und Frauen) in der Pfarrei tätig, alle ehrenamtlich. In ihrer Kleingemeinde waren sie „für alles“ zuständig und beauftragt, von der eigenen Gemeinde ausgewählt und vom Bischof nach intensiver Vorbereitung bestätigt. Vor allem in den 70/80er Jahren wurden viele Katecheten verhaftet, eingesperrt, einige gefoltert, so z.B. 1978, als fast der gesamte Pfarrgemeinderat (Vertreter*innen aller Landzonen) eingesperrt wurde. Doch ihr Glaube, dass Gott mitten unter ihnen Mensch geworden ist, mit ihnen lebt, leidet und aufersteht, gibt ihnen die Kraft, den Weg weiterzugehen.

Der komplette Artikel: 50 Jahre Medellín (2018): Die Bedeutung von Medellín für eine erneuerte Kirche (aus meinem Vortrag in Medellín 2018)


11. Dez.: Reaktion auf Medellín

Von Anfang an war die römische Kurie entschlossen, die Versammlung von Medellín zunichte zu machen und entwickelte eine entsprechende Strategie. Die Schlüsselfigur für die Ausführung der großen Manöver der Kurie war der junge kolumbianische Priester Alfonso López Trujillo. Innerhalb von vier Jahren wurde er zum Bischof, dann zum Generalsekretär der kolumbianischen Bischofskonferenz und zum Generalsekretär des CELAM ernannt. Seine Aufgabe war es dabei, den CELAM in seiner bestehenden Form zu zerschlagen und aus dem neuen CELAM die Waffe zu machen, die Medellín ungeschehen machen sollte. Es gab den berühmten Bericht von Nelson Rockefeller, der die Gefahren der Neuorientierungen der Kirche in Lateinamerika beschwor. In Lateinamerika selbst waren die Reaktionen der herrschenden Klassen von Anfang an ablehnend, und sehr früh schon starteten die Medien eine Verleumdungskampagne, die viele Jahre lang anhielt. Die Militärdiktaturen grenzten sich von Medellín ab und erfuhren dabei innerhalb ihrer Länder einen unterschiedlichen Grad an Zustimmung. Der CELAM begann seine Offensive gegen Medellín, indem er die Idee verbreitete, Medellín würde falsch interpretiert. Der falschen Interpretation von Medellín wurden jene kirchlichen Bewegungen bezichtigt, die sich an den Lehren Medellíns orientierten. Der CELAM organisierte eine lateinamerikaweite Kampagne, die die kirchlichen Basisgemeinden als Form der Politisierung von Kirche und einer Auslieferung der Kirche an den Marxismus denunzierte.

Die römische Kurie verfügte noch über eine andere, langfristig wirkungsvollere Waffe – die Bischofsernennungen. Seit dem Ende des Pontifikates Pauls VI. tauchten Generationen von Bischöfen auf, die sich von den Bischöfen Medellíns radikal unterschieden. Sie wurden aufgrund ihrer vorbehaltlosen Treue zur römischen Politik – und nicht nur zur rechten Glaubenslehre – ausgewählt. Gleichzeitig brachte die Rückkehr zur alten Priesterausbildung Generationen von Priestern hervor, denen die Veränderungen der Welt fremd waren. Medellín wurde von den Zeitgenossen dieses Ereignisses bewahrt, aber von den neuen Generationen ignoriert.

Nach Puebla (1979) trat wahrhaftig die Kirche des Schweigens auf den Plan (bis 2013). Die Kirche hatte auf einmal - abgesehen von der Wiederholung der alten Diskurse - nichts mehr zu sagen. Tatsächlich konnten die Kirchenväter der lateinamerikanischen Kirche nicht ersetzt werden. Entweder sie - oder die Leere.

Medellín und wir in Europa

In einem Interview (2018) mit dem Portal Weltkirche der DBK wurde mir folgende Frage gestellt: „Die Forderungen des Katakombenpakts von 1965 nach einer dienenden und armen Kirche sind heute noch genauso aktuell wie damals. Wo sehen sie diese Verpflichtungen in der Kirche in Deutschland umgesetzt?“

„Da sehe ich leider noch große Unterschiede. Die Kirche in Deutschland steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite ist sie die reichste Kirche der Welt. Sie hat die finanziellen Mittel, unglaublich viel Gutes zu tun – nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland. Das ist ein großer Schatz. Auf der anderen Seite bringt der Reichtum auch Gefahren mit sich. Auf der zweiten Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín wurde der Geist des Konzils konkret auf die Lebenswirklichkeit der Leute angewandt. Die Bischöfe kamen zu dem Schluss: So wie die Menschen in Lateinamerika leben, als Arme, das ist nicht der Wille Gottes. Das ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit. Gott will nicht, dass Kinder verhungern, obwohl es genügend Nahrungsmittel gibt. Diese theologische und gesellschaftspolitische Analyse wurde so in Europa und speziell in Deutschland nicht durchgeführt. Wäre dem so gewesen, hätte man sich vielleicht als eine Kirche entdeckt, die selbst in ein ausbeuterisches System eingebunden ist und von den herrschenden Verhältnissen mit profitiert. Das wäre eine sehr bittere Selbsterkenntnis gewesen. Aber gerade diese Einsicht ist notwendig, sonst kann es keine Umkehr geben.“

Theologisch (zusätzlich zu den schon genannten Schwerpunkten)

Es entstand eine neue Theologie, aus der Praxis heraus. Die Theologie der Befreiung ist die erste nicht-europäische und daher auch die erste nichtkoloniale Theologie, d.h. sie ist die erste authentisch biblische Theologie im weltweiten Kontext. Von einer anderen Perspektive aus, kann dann auch die Bibel wieder im ursprünglichen Sinn verstanden werden. Z.B. die Interpretation des Schöpfungsberichts: Die bisherige Interpretation - nämlich als Beherrschung der Natur - führt zur Zerstörung, da sie die ursprüngliche Aussage falsch verstanden hat. Sie wurde vom griech.- röm. Denkmodell her verstanden und entsprechend übersetzt und gedeutet. Das europäische Denkmodell (Kosmovision) übersetzt z.B. das hebräische Schlüsselwort „kabash“ entsprechend der eigenen Denkweise (!) mit erobern, unterjochen. Diese Deutung wurde dann durch die Kolonialisierung globalisiert. Im hebräischen Denken bedeutet „kabash“ zum „Bereich Gottes gehörend“, allgemeiner: Die Schöpfung Gottes gehört nicht uns, den Menschen. Wir können nicht über sie verfügen, sie ist uns nur geliehen. Das bedeutet im biblischen Denken: Wir müssen sie im Sinne des Eigentümers (Gott) gestalten: Im Dienst des Mitmenschen, besonders der Ausgegrenzten und in Beziehung mit allen Geschöpfen.

Siehe auch das Gleichnis vom anvertrauten Geld (Talente). Eigentliche Bedeutung: Einerseits die hemmungslose Vermehrung eines riesigen Vermögens als Beschreibung der herrschenden Realität (gegen alle jüdische Tradition) und als Gegenüberstellung und „Antithese“ die Rede vom Weltgericht als die eigentliche Botschaft Jesu: „Was ihr dem Geringsten. …“ (Mt 25, 14-46). Talente vermehren: Riesiges Vermögen verfünffachen? Auf wessen Kosten? Mit welchen Mitteln? Wie kann es möglich sein, zentrale Aussagen der Botschaft Jesu und über den Zustand der damaligen (und heutigen) Welt in ihr genaues Gegenteil zu pervertieren?

Im letzten Kapitel wird von Matthäus noch einmal das Zentrale der Botschaft Jesu, seine Identifikation mit den „Müllmenschen“, zusammengefasst. Es folgt als logische Konsequenz die Passionsgeschichte... bis heute.

Gefangen in einer übergestülpten griech.- röm. Theologie und Philosophie, wurde die Botschaft Jesu oft in ihr Gegenteil verkehrt. Diese „imperiale Theologie“ konnte so zur Begründung für eine klerikale Kirche und für eine Kirche auf der Seite der Mächtigen statt der Ohnmächtigen werden; zur Rechtfertigung für Kolonialismus und Sklaverei, für den Vorrang von Kult und „Messopfern“ (Opfertheologie), zur Auffassung von der grundlegenden Verdorbenheit des Menschen (Erbsünde, sexistisch interpretiert), von der wir nur durch den Opfertod des Gottessohnes erlöst werden können (individualistische Heilsauffassung, die wohl durch Luthers Grundthese noch verstärkt wurde und bis heute sehr wirkmächtig ist). Schließlich diente - und sie ist es oft noch - eine solche imperiale Theologie zur Rechtfertigung unserer imperialen Lebensweise. Ein Beispiel: Wie selbstverständlich verbrauchen wir Tag für Tag das Hundertfache an Energie, Ressourcen, etc. im Vergleich zu den Menschen etwa in Zentralafrika.

Die Gier zum „immer Mehr“ wird zum Geschäftsmodell und weil angeblich alternativlos für absolut erklärt. Die Ursünde - das Nein zum Anderen - wurde globalisiert. Antithese: Die Botschaft, das „Modell“ Jesu: der Nackte, Hungrige, die Müllmenschen … werden zum absoluten Maßstab; Kulturelle Revolution, die „Sitzordnung“ wird vom Kopf auf die Füße gestellt (beim Festmahl…)

Wie könnten also die befreienden Erfahrungen der Campesinos in einen Kontext übertragen werden, in dem über Jahrhunderte hinweg das Gegenteil dessen verkündet und praktiziert wurde, was Jesus verkündet und gelebt hat?

Doch entgegen dieser düsteren Diagnose deuten hoffnungsvolle Anzeichen daraufhin, dass diese über 15 Jahrhunderte andauernde „Formatierung“ nicht unüberwindbar ist.[5] Zum einen ermöglicht die von Europa seit Beginn der Neuzeit ausgehende Globalisierung zunehmend einen Blick auf die Ursachen und Folgen unserer Wirtschafts- und Lebensweise für große Teile der Menschheit, vornehmlich im „globalen Süden“. Spätestens seit dem II. Vat. Konzil und dann auf der II. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín „erhebt sich ein stummer Schrei von Millionen von Menschen, die sich von ihren Hirten eine Befreiung erbitten, die ihnen von keiner Seite gewährt wird“ (Kap 14, I,2).

Zum anderen wächst im „globalen Norden“ die Einsicht, dass ein „weiter so“ kaum noch begründet und verantwortet werden kann. Zudem ist nun mehr als je zuvor der „globale Süden“ auch bei uns angekommen und sichtbar geworden, sei es durch die Präsenz der Vertriebenen als auch durch die zunehmende Kluft zwischen arm und reich auch innerhalb der reichsten Länder. Schließlich knüpft nun auch Papst Franziskus wieder an die Dokumente von Medellín und die darin begründete Option für die Armen (um der Armen willen und solidarisch mit ihnen) an. Er spricht stets von einer notwendigen Umkehr. Das stößt an, denn er richtet sich ja an schon „Bekehrte“, so wie auch Jesus und alle Propheten vor ihm seinen Ruf an die „Frommen Israels“ richtete - mit der Konsequenz, dass sie zum Schweigen gebracht wurden.

Eine Voraussetzung für die notwendige Umkehr ist - so Franziskus und weitere Dokumente lateinamerikanischer Bischofskonferenzen - den Schrei der Hungernden nach Brot und nach Gerechtigkeit (und neu: den „Schrei der Mutter Erde“) zu hören und ihn als Anruf Gottes an uns alle zu verstehen. Dies wäre auch die Voraussetzung zur Überwindung der Kirchenspaltung, die vorrangig darin besteht, dass die einen Christen auf Kosten der anderen Christen leben. (Und nicht darin, ob z.B. konfessionsverschiedene Ehepaare gemeinsam zur Kommunion gehen dürfen...).

Ein Kommentar bzw. Interview in weltkirche.katholisch.de (50 Jahre Ende des Konzils)


12. Dez.:  Anfänge einer befreienden Pastoral - Die Diözese Cajamarca als Exempel 

„In den Anden im Norden Perus begann vor über vierzig Jahren in den Herzen der Gedemütigten eine Hoffnung zu keimen: eine Hoffnung auf ein Leben in Würde, in Gerechtigkeit und dass alle Menschen als Kinder des Einen Vaters ein Leben in Fülle haben mögen. Durch das Evangelium, das sie zum ersten Mal hörten, entdeckten sie, dass Gott selbst, Jesus Christus, mitten unter ihnen geboren wurde, um alle ihre Leiden und Hoffnungen mit ihnen zu teilen. Dies geschah in der gleichen Region, in der ein spanischer Priester eine Schlüsselrolle bei der Gefangennahme und Ermordung Atahualpas spielte. Und so begann damals die grausamste Epoche in der Jahrtausende alten Geschichte unseres Volkes von Cajamarca. Nach 430 Jahren voller Massaker, voller Verachtung, die wir erleiden mussten und in der man uns all das geraubt hatte, was uns gehörte, kam wieder ein Priester. Es kam ein Guter Hirte, der ein offenes Herz für die Campesinos hatte. Er lehrte sie mit seinem persönlichen Zeugnis der Bescheidenheit und Demut die authentische Botschaft von Jesus dem Christus.“ (Zeugnis der Campesinos von Bambamarca)

Seine Ankunft in Cajamarca fiel zusammen mit dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, zu dessen Eröffnung Johannes XXIII. zum ersten Mal von der Notwendigkeit einer Kirche mit den Armen und der Armen gesprochen hatte, und dies als die einzig authentische Art bezeichnete, die wahrhaftige Kirche Jesu Christi zu sein. Das Entstehen und der Weg dieser ‚Kirche mit Poncho und Sombrero’ zog sogar die Aufmerksamkeit von Christen in den reichen Ländern auf sich und weckte in ihnen ein Interesse und eine Solidarität mit den Ärmsten. Aber das Wichtigste war, dass sich die seit jeher Ausgestoßenen zum ersten Mal gehört und respektiert fühlten, sie fühlten sich als Gestalter ihres eigenen Schicksals. ‚Wir entdeckten, dass wir auch wer sind’. Der erste Indiokatechet der Welt, mit der päpstlichen Erlaubnis zu taufen und die Botschaft vom beginnenden Reich Gottes zu verkünden (1969), drückt es so aus: ‚Bischof Dammert hat mich gelehrt, dass ich eine Person bin, dass ich Christ bin und Peruaner’. Oder mit den Worten des Dichters Arguedas: ‚Er hat mich gelehrt, dass ein Christenmensch mehr Wert ist als ein Tier’“.   

Die Menschen von Cajamarca haben das Evangelium als eine befreiende Botschaft erfahren. Innerhalb weniger Jahre stürzten Vorstellungen und Auffassungen von Gott und der Welt in sich zusammen, die unverrückbar erschienen. Denn den Eroberern bis heute schien es in ihrer scheinbaren Allmacht gelungen zu sein, ihre eigenen Vorstellungen und die Rechtfertigungen ihrer Herrschaft und ihrer Überlegenheit in den Herzen und Köpfen der Menschen von Cajamarca zu verankern und durch entsprechende Gesetze und Mechanismen abzusichern.  

Cajamarca ist ein geschichtlich einzigartiger Ort, an diesem Ort verdichtet sich die globale Geschichte der Eroberung und Zerstörung. Wie in einem Brennglas zeigen sich an diesem einen Ort Probleme und Chancen der „Einen Welt“. Die Region Cajamarca ist nicht nur eine der ärmsten Zonen Lateinamerikas, sondern sie war auch Schauplatz der ersten Konfrontation zwischen Europa und Südamerika, zwischen Christentum und andiner Kultur. Cajamarca ist ein Ort der Weltgeschichte. Hier kam es zu dem ersten gewaltsamen Zusammenstoß zweier Kulturen, die zur Zerstörung der einen und zum Sieg der anderen Kultur und Religion führte. Die Auswirkungen dieser Weltherrschaft lassen sich bis heute konkretisieren. Über Jahrhunderte diente Cajamarca, wie andere Orte der Welt als Quelle des Reichtums für die Europäer. Mit der Entdeckung und der Erschließung großer Goldvorkommen bei Cajamarca schließt sich der Kreis. Werden auch diesmal die Fremden die alleinigen Nutznießer sein, oder werden diesmal die Menschen von Cajamarca einen Anteil an den „Gütern der Schöpfung“ erhalten, auf die alle Menschen in gleicher Weise einen rechtmäßigen Anspruch haben? 

Die Diözese Cajamarca besitzt internationales Ansehen. Die Arbeit der Diözese Cajamarca wurde auch in Deutschland bekannt, Werke aus Cajamarca wurden in Deutschland übersetzt (z.B. Vamos Caminando). Die Sozialpastoral und die Kirche in Cajamarca gelten zusammen mit der in Recife (Helder Camara) und Riobamba (Leonidas Proaño) als Modell einer einheimischen Kirche auf der Seite der Armen. Der peruanische Kirchenhistoriker Jeffrey Klaiber bezeichnet die sozialpastorale Arbeit in der Diözese Cajamarca als das beste Beispiel in Peru für die Umsetzung der Beschlüsse und vor allem des Geistes des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wegen ihres ehemaligen Bischofs (1962 - 1992) eignet sich die Diözese Cajamarca daher in hervorragender Weise für eine exemplarische Darstellung des kirchlichen Aufbruchs in Lateinamerika seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dies bezieht sich zum einen auf die Person des Bischofs selbst. Vor allem aber meint es die Campesinos, die in der Folge einer von Dammert und seinen Mitarbeitern ausgehenden Evangelisierung sich als „Kinder des einen Vaters “ (wie sie es ausdrücken) mit einer einzigartigen Würde und unveräußerlichen Rechten entdeckt haben. Spätestens seit den 70er Jahren hatte Bischof Dammert in Deutschland den Ruf, einer der entschiedensten Bischöfe Lateinamerikas auf der Seite der Armen zu sein.

Als charakteristisches Merkmal der Erneuerungen des Konzils gilt in der Interpretation der Campesinos die Entdeckung der Kirche als das (unterdrückte) Volk Gottes, das sich im Kontext von Geschichte und Gegenwart auf dem Weg zu einer integralen Erlösung und Befreiung befindet. Das Glaubensbuch der Campesinos von Bambamarca heißt in der deutschen Übersetzung: „Machen wir uns auf den Weg! Glaube, Gefangenschaft und Befreiung in den peruanischen Anden“. Dieser Titel ist programmatisch für die sozialpastorale Arbeit in der Diözese Cajamarca und für das Selbstverständnis der Campesinos als Kirche Jesu Christi. (im Original heißt es zutreffender: „Wir Campesinos suchen mit Christus den Weg der Befreiung“).  

Am Beispiel von Cajamarca lassen sich die entsprechenden Reaktionen auf eine Praxis der Befreiung sowohl vor Ort, als auch national und international aufzeigen. So gerieten nicht nur Bischof Dammert und einige seiner Mitarbeiter ins Blickfeld der römischen Kurie, sondern auch Publikationen der Campesinos, in denen sie ihren Glauben bezeugen, wurden als Beleg für Marxismus und Gewalt gedeutet. Hier lässt sich exemplarisch zeigen, wie z.B. die akademische Auseinandersetzung über die Theologie der Befreiung sowohl zum Vorwand theoretischer Diskussionen in Europa als auch zum Vorwand wurde, um soziale Bewegungen als Terrorismus und Kommunismus und kirchlich als Häresie zu diffamieren - mit den entsprechenden Konsequenzen für die Armen und ohne diese authentisch zu Wort kommen zu lassen oder sie zu hören.  

Bischöfe wie Dammert haben Wege in die Zukunft aufgezeigt, die auch für die deutsche Kirche als Orientierung dienen können. Seine Option, seine Überlegungen zu den Aufgaben der Laien, den Aufgaben der Kirche allgemein, seine Analyse des jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontextes erscheinen sehr modern und in die Zukunft weisend - gerade auch angesichts der aktuellen und zukünftigen Situation in der deutschen Kirche. Was deutschen Gemeinden möglicherweise noch bevorsteht, eine radikale Reduzierung auf das Wesentliche (dies zu entdecken wird die eigentliche spirituelle Herausforderung sein) ist in der Diözese Cajamarca bereits seit den sechziger Jahren ausprobiert und praktiziert worden, einschließlich der damit einhergehenden Konflikte. Neben seinem persönlichen Zeugnis der Armut als Bischof der Indios, machen die in seiner Diözese gemachten Erfahrungen den Bischof von Cajamarca zu einem für die reiche Kirche notwendigen Diskussionspartner. Nimmt man Bischof Dammert (nicht) ernst, nimmt man auch die „Indios dieser Welt“ (nicht) ernst.

Für die deutsche Kirche, für die Theologie und die konkrete Praxis in den deutschen Kirchengemeinden, kann es nicht gleichgültig sein, ob die „Indios dieser Welt“ (die Hirten von Bethlehem, die ersten Adressaten der befreienden Botschaft Gottes) in die Ecke gestellt werden oder in die Mitte, in der sie entsprechend dem Evangelium gehören.  

Willi Knecht; von 1976 – 1980 als „agente pastoral“ in Bambamarca, dem „Pilotprojekt“ von Bischof Dammert (1962-92).

Dann u.a. 1997 - 2004 als Koordinator einer Studie mit dem Titel „Die Aufbrüche der Kirche in LA infolge des Konzils“.

Die Studie entstand in Zusammenarbeit der theol. Fakultäten Würzburg (Prof. Dr. Elmar Klinger), Tübingen (Prof. Dr. Ottmar Fuchs) und dem Instituto Bartolomé de Las Casas, Lima (damalige Leitung: G. Gutiérrez).

Dazu meine Dissertation in Fundamentaltheologie bei Prof. Elmar Klinger und Prof. Johannes Meier: „Die Kirche von Cajamarca - Die Herausforderung einer Option für die Armen“. (2005)

siehe u.a. auch: Cajamarca - ein Beispiel für eine  Erneuerung im Geist des Konzil


13. Dez.: Globalisierung – wie sie von Lateinamerika her verstanden und erlebt wird.

Die katholische Kirche könnte mit Recht den Begriff der Globalisierung für sich in Anspruch nehmen, weil sie noch authentischer, weil ursprünglicher, den Gedanken der „Einen Welt und der einen Schöpfung“, entwickelt hat. Wir haben uns leider diesen Begriff, genauer: die Definitionshoheit, rauben lassen. Der christliche Glaube hat eine eigene, eine biblische Deutung der Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, an deren Ende die Einheit aller Menschen und der Menschen mit Gott steht.

Diese Geschichte beginnt damit, dass Gott ein völlig unbedeutendes und versklavtes Volk ausgewählt und in die Freiheit geführt hat. Dies hat eine Bedeutung für alle Völker. Der Gott der Hebräer wird spätestens im NT als Gott aller Menschen geglaubt. Im Neuen Testament wird endgültig der räumliche und zeitliche Rahmen gesprengt. Im christlichen Glauben gibt es weder „Grieche noch Jude“ (Paulus), oder heute: weder „Indio noch Germane“. Die Kirche als „pilgerndes Volk Gottes in der Geschichte“ (II. Vat. Konzil) ist die Sammlung und Gemeinschaft aller Menschen auf dem Weg. Und dieser Weg hat ein Ziel: die Versöhnung und die Einheit der Menschen mit Gott und mit sich.  

Globalisierung wird hier nun so aufgefasst, dass sie heute als weltweite Kolonialisierung der Seelen und Köpfe ungebremster denn je zuvor in Erscheinung tritt und in das Bewusstsein der Menschen eindringt. Die Globalisierung wird in der Folge als eine bisher beispiellose und weltweite Entfesselung des Kapitalismus verstanden, mit tödlichen Folgen für immer mehr Menschen und die gesamte Natur. Die gegenwärtige Globalisierung unter wirtschaftlichen und kulturellen Vorzeichen ist als direkte Folge bzw. Weiterführung der im 15. Jahrhundert begonnenen Eroberung der Welt durch das christliche Abendland zu sehen. Ein biblisches Bild hierfür ist der Turmbau zu Babel. Wenn alle Menschen immer höher hinauf und immer mehr haben wollen, dann zerbricht die menschliche Gemeinschaft. Man kommt nur und umso schneller nach oben, je heftiger man nach unten tritt. Es gibt immer mehr Verlierer und Opfer. Es entsteht eine Gesellschaft, in der die Macht über andere zum höchsten Gut wird. Es gibt dann keine gemeinsame Sprache mehr. Genau das geschieht heute - nicht erst seit der „neuen Phase“ Globalisierung etwa seit 1985 - 1990, aber verschärft durch sie.  

Am Beispiel von Cajamarca oder Bambamarca lässt sich zeigen, was Globalisierung für die Mehrheit der Menschen bedeutet. Das so genannte globale Dorf wird dabei als ein Ort deutlich, indem nicht - wie oft propagiert - alle Menschen in gleicher Weise Zugang zu dem haben, was moderne Zivilisation bedeutet oder zumindest zu dem, was sie zum Leben brauchen; es ist auch kein Ort, in dem alle miteinander kommunizieren und in dem sich dank moderner Wirtschaftsweisen und deren Möglichkeiten alle Menschen einander näherkommen und sich immer mehr als Bürger der einen Welt verstehen. Es ist vielmehr ein Ort, in dem genau das Gegenteil geschieht und in dem für die in Armut gehaltenen Menschen nur dann eine Verbesserung ihrer Lebensumstände erreicht werden kann, wenn sie sich gegen diese Form einer Globalisierung und deren wirtschaftliche Lehrsätze und religiöse Dogmen zur Wehr setzen.

Bambamarca z.B. ist nicht ein Ort, in den die Moderne noch nicht vorgedrungen ist und in dem gerade deswegen noch archaische Strukturen herrschen würden, sondern im Gegenteil: Bambamarca - wie viele Orte in den Randzonen dieser Welt - steht im Brennpunkt und ist deshalb sehr aktuell und modern, weil an solchen Orten die Auswirkungen des herrschenden globalen Systems am deutlichsten sichtbar werden und das System sich als das entlarvt, was in Wirklichkeit ist (12).    

Ein Blick auf Bambamarca zeigt, wie im kleinen Maßstab geschieht, was im großen Maßstab vorgegeben ist: eine Minderheit, die kleine städtische Schicht im Zentrum (Mestizen), lebt von der Arbeit der großen Mehrheit, den Campesinos, die in allen Bereichen des Daseins an den Rand gedrängt sind und entsprechend diskriminiert werden - rassistisch, wirtschaftlich, kulturell, politisch, religiös. Dieser Rassismus ist ein Abbild des weltweit herrschenden Rassismus. Dieser zeigt sich z.B. darin, dass nach westlichem Selbstverständnis das Leben eines US-Bürgers offensichtlich hundertmal mehr Wert ist als das Leben eines Guatemalteken oder Angolaners. Und selbstverständlich findet dies seine wirtschaftliche Entsprechung darin, dass jedem neugeborenen US-Bürger ein Energie- und Ressourcenverbrauch zugestanden wird - quasi als eingeborenes Naturrecht - der bis zum Hundertfachen über dem eines Angolaners liegt. Es kann und soll hier nicht nachgewiesen werden, ob oder wie sehr dieser Rassismus mit einem religiösen Sendungsbewusstsein als ein von Gott auserwähltes Volk zu tun hat. In Cajamarca jedenfalls finden sich auffällige Entsprechungen. Die weltweite Herrschaft und der damit einhergehende Rassismus reproduzieren sich auch auf nationaler und dann auch auf regionaler Ebene (siehe Beispiele in Cajamarca).  

Die globalen Spielregeln haben ihre Gültigkeit bis hinein in die kleinsten Einheiten menschlichen Zusammenlebens. Sie dringen nicht nur bis in die entlegensten Orte der Welt vor, sondern auch in die letzten Winkel unserer Seelen und unseres Denkens. Tiefste menschliche Beziehungen werden immer mehr verkommerzialisiert, töten den Dialog und die Wahrheit. Von dieser Totalität her beziehen diese Spielregeln und Werte ihren Wahrheitsanspruch und damit ihre universelle Gültigkeit - ohne scheinbare Alternative. Folgende Zusammenhänge, wie sie sich in Bambamarca von der Basis her begründen lassen und die sich im globalen Maßstab widerspiegeln, lassen sich feststellen:

  • Die große Mehrheit des Volkes und der Menschheit wird von einem Zentrum her definiert und von den Interessen des Zentrums bestimmt.   
  • Das Umfeld (Peripherie) hat die Aufgabe, das Zentrum zu nähren. Dies führt zu wachsender Verelendung auf dem Land und zu immer mehr Reichtum im Zentrum. 
  • Die Weltsicht des Zentrums ist geprägt von scheinbar christlich-abendländischen Vorstellungen und Werten. Die Kultur des Umfelds wird als Unkultur wahrgenommen. Die Menschen des Umfeldes werden bestenfalls als zu missionierende Objekte behandelt. 
  • Wenn die in Armut und Abhängigkeit gehaltenen Menschen aus ihrer nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit aufbrechen wollen, müssen sie mit harten Reaktionen derer rechnen, die ihre Herrschaft und Privilegien in Gefahr sehen.   
  • Die Glaubenserfahrungen der Armen, die sie auf dem Weg aus der Gefangenschaft machen, wird von der herrschenden Religion als Abfall vom Glauben diffamiert - im Kern aber richtigerweise als Rebellion gegen die herrschenden Zustände gedeutet.
  • Die Menschen am Rande sind bevorzugt in der Lage, ausgehend von ihrem Glauben an einen befreienden Gott, eine Alternative zu den herrschenden Götzen zu entwickeln und den Menschen in den Zentren einen Weg der Befreiung zu weisen.  

Bambamarca ist eine Pfarrei und sie unterhält seit nunmehr vierzig Jahren mit einer deutschen Pfarrei partnerschaftliche Beziehungen. Es liegt nahe, die Entwicklung beider Pfarreien zu vergleichen. Das gilt auch für andere Pfarreien der Diözese Cajamarca und vieles spricht für einen Vergleich zwischen der pastoralen Situation, des jeweiligen Glaubens und der „Kosmovision“ in den deutschen und peruanischen Partnergemeinden, erstrecht wenn man die unterschiedlichen Gemeinden als Teilkirchen der einen katholischen Kirche versteht. Dies wäre eine eigene Arbeit. …

Der entsprechende Schritt in Deutschland wäre, ebenso den eigenen Kontext zu analysieren, danach zu fragen, von wem und was die alltägliche Wirklichkeit der Menschen bestimmt wird, an was und wen sie „ihr Herz hängen“, welche Träume und Sehnsüchte sie haben und daraus die entsprechenden Konsequenzen für eine erneuerte Pastoral zu ziehen - ausgehend von den Verlierern in dieser Gesellschaft. Nach einer gründlichen Analyse der Situation in Deutschland könnten dann in der Praxis Orientierungsmarken für einen Weg der Erneuerung gefunden werden. Analyse, Deuten und Handeln wäre dann die Aufgabe von Theologen und Gemeinden in Bezug auf ihren eigenen lokalen Kontext, der aber ein globaler Kontext ist. Dieser lokale Kontext kann dann im Blick auf die Bedingungen und Auswirkungen der Globalisierung und die Glaubenserfahrungen der Indios erkannt und gedeutet werden: Erst vom Standort der Campesinos her kann der eigene lokale deutsche Standort sachgerecht biblisch und theologisch gedeutet werden. Wird die weltweite Situation von der Bibel her gedeutet, dann erweisen sich die herrschenden Strukturen als ungerecht und als „zum Himmel schreiende Sünde“. Diese Interpretation der Campesinos - bestätigt durch die Dokumente von Medellín und Puebla - hat eine globale und gesamtkirchliche Bedeutung.  

Die Daten zum Kontext von Bambamarca zeigen, dass die Ursachen für das Elend weltweit die gleichen sind: Diskriminierung, Nichtanerkennen des Anderen, konkrete Abhängigkeiten, absoluter Vorrang wirtschaftlicher Interessen, etc. Auch die Deutung im Lichte des Glaubens gilt weltweit: es handelt sich um einen gewollten, radikalen Bruch innerhalb der Menschheit und damit mit Gott, um eine strukturelle Sünde, um Verachtung des Armen, mit dem sich Jesus identifiziert und der deshalb gekreuzigt wird. Diese Situation nicht zu sehen und an dem unter die Räuber gefallenen Menschen im Straßengraben vorbeizugehen, bedeutet, den Menschgewordenen und gekreuzigten Christus zu verleugnen. Eine Verschleierung dieser Realität dient der eigenen Machterhaltung und der Aufrechterhaltung eines Systems, dessen Grundlage das weltweit organisierte Räubertum ist.  

Diesem organisierten Räubertum ist auch I. Ellacuría zum Opfer gefallen, der in dem Jahr seiner Ermordung (1989) schrieb: „Die Dritte Welt ist zurückgelassen worden wie Christus. Aus der Sicht des Glaubens ist es das, was ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten das ‚gekreuzigte Volk’ genannt habe. Das Problem liegt darin, dass in unserer heutigen Gesellschaft die Zivilisation des Kapitals herrscht. Sie ist es, die die heutige Welt formt und den weitaus größten Teil der Welt (4/5 der Menschheit) zu einem ‚Christus’ gemacht hat“.  

Der komplette Artikel: Globalisierung und Theologie - aus der Perspektive der Opfer


14. Dez.: „Das Gold von Cajamarca“  

„Der Kapitalismus ist kalt, kalt wie alles, das aus Metall ist. Es interessieren ihn weder die Menschen noch die Völker. Es interessieren ihn allein die Gewinne. Menschen und Völker interessieren ihn nur in dem Maße, in dem sie ihm Gewinne versprechen. Um Gewinne verschlingen zu können, verschlingt er Menschen und Völker. Er ist kalt, er hat kein Herz. Unser Land, wie viele andere Länder in Lateinamerika, ist schon seit langem in die Klauen dieses Monsters gefallen. Wir hängen auf vielfältige Weise von ihm ab. Wir sind sein Spielzeug“. „Leónidas Proaño, Bischof von Riobamba, Ekuador (29.01.1919 - 31.08.1988), in „El profeta del pueblo“, eine unveröffentlichte Textsammlung, 1976.)

Einige spanische Theologen des 16. Jahrhunderts bezeichneten das Gold als ein Geschenk Gottes, der in seiner göttlichen Vorsehung die heidnischen Völker mit unvorstellbaren Goldvorkommen ausgestattet hat, damit auf diese Weise die Christen den Weg zu diesen Völkern finden, um die Heiden zu taufen und sie so vor der Hölle zu bewahren. Die Heiden verdanken demnach ihr Seelenheil dem Gold und die Christen verdanken ihren sehr irdischen Reichtum ebenfalls dem Gold (ihrem Gott). In „Gott oder das Gold“ geht Gustavo Gutiérrez dieser Thematik auf den Grund. Das dritte Kapitel des Buches hat den Titel: „Das Gold als Vermittler des Evangeliums“. Gutierrez geht hier auf die Schrift von García de Toledo“, ein, in der die genannte These begründet wird; so zitiert er dieses Gutachten, das erheblichen Einfluss auf die damalige Theologie und Politik hatte. „Und so gab er ihnen die Gebirge von Gold und Silber... , damit es in diesem Duft Menschen gebe, die um Gottes willen hierher kommen wollten das Evangelium zu predigen, sie zu taufen und diese Seelen mit Jesus Christus zu vermählen“. Und etwas weiter, sich auf die Schätze und Reichtümer beziehend: „Dorthin, wo es sie gibt, das Evangelium im Fluge und um die Wette kommt, während dort, wo es sie nicht gibt, sondern nur Arme, dies ein Mittel der Zurückweisung ist, denn dorthin kommt das Evangelium niemals...“. Nach Gutiérrez vertreten auch die damals maßgeblichen Theologen (u.a. Sepúlveda, selbst José de Acosta in gemäßigter Form) die Meinung, dass das Gold von Peru eine providentielle Rolle bei der Ausbreitung des christlichen Glaubens hat. Gutiérrez schließt: „So wird das Gold zum wirklichen Vermittler der Anwesenheit Gottes in Westindien. Die Position des García de Toledo ist so etwas wie eine verkehrte Christologie. Letztlich steht das Gold dort, wo sonst Christus steht: als Mittler der Liebe des Vaters“.

Diese Alternative, Gott oder das Gold, hat bis heute seine Gültigkeit. Nach dem „Evangelium der Herren dieser Welt“ verdankt es Cajamarca nur dem Gold, dass dort heute die moderne Zivilisation Einzug halten kann. Ausländisches Kapital wird zum Segen für die Menschen von Cajamarca. Wenn diese sich aber diesem „Bundesschluss“ verweigern, kommt das Gericht über sie - so die Verkündigung der Propheten der Freiheit des Kapitals. Aber das Gold von Cajamarca ist die Ursache der Armut in Cajamarca. Auf der Suche nach Gold sind die Europäer bis in die letzten Winkel der Erde vorgestoßen und haben dabei ganze Völker in den Abgrund gestoßen. Es war die Suche nach den vermuteten sagenhaften Goldvorkommen, weshalb spanische Söldner schließlich auch nach Cajamarca kamen und das mächtige Reich der Inkas im Handstreich zerstörten. Es war das Gold, das die Europäer nach Amerika trieb. Gold steht als Sammelbegriff für alle Reichtümer, als Inbegriff aller Schätze dieser Welt.

Die Mine Yanacocha

Die Geschichte des „Goldes von Cajamarca“ begann, wie gesagt, bereits 1532 und sie wurde bis in das 20. Jahrhundert hinein fortgeschrieben. Gerade als es schien, dass die Zeit der Gold- und Silberminen in Cajamarca nun zu Ende gehen würde, geriet Cajamarca seit den siebziger Jahren aufgrund neuer geologischer Untersuchungen und neuer Techniken des Goldabbaus erneut in den Brennpunkt des Interesses. Aber erst als die „Newmont Mining Company“ mit neu entwickelten Technologien auf den Plan trat und starkes Interesse zeigte, geschah alles sehr schnell. Im November 1992 erschien ein Artikel in der New York Times, in dem der Geschäftsführer von Newmont überschwänglich von den Chancen der neu eröffneten Mine sprach und hinzufügte: „Niemals zuvor erlebten wir eine so starke Hilfe und geradezu Euphorie seitens einer nationalen Regierung. So schnell hätten wir nie in den USA, und vermutlich in keinem anderen Teil der Welt, eine Genehmigung zum Abbau erhalten.“ In Rekordzeit wurde die Mine in Betrieb gesetzt. Am 23. Juli 1992 wurden in Anwesenheit des peruanischen Präsidenten Fujimori offiziell die Vorbereitungsarbeiten für den Betrieb der Mine eröffnet.

Im August 1993 konnte mit dem Abbau des Goldes begonnen werden. In einem Kommuniqué der betroffenen Campesinos heißt es bereits 1993: „Und als Gipfel der Unverschämtheit geben sie uns auf rassistische Art und Weise zu verstehen, dass unsere Proteste und Forderungen falsch seien und dass wir Werkzeuge und Lampen aus den Gerätelagern der Mine stehlen würden. Sie behandeln uns, als wären wir Kinder, die nur dann protestieren, wenn man uns dazu aufhetzt. Sie sagen uns, dass sie uns den marktüblichen Preis für unser Land bezahlt hätten. Wir haben in verschiedenen Institutionen nachgefragt und dort haben sie uns gesagt, dass der Marktpreis der Preis ist, den man in freiem Aushandeln z.B. mit dem Nachbarn zu zahlen bereit ist bzw. den wir uns untereinander bezahlen würden. Wer aber von uns würde seinem Nachbarn sein Grundstück für den Preis von 100 Soles pro ha verkaufen - nicht einmal in einer großen Zwangslage würden wir eine solche Torheit begehen. Und wer von uns würde - um etwas vom Nachbarn zu kaufen - mit Polizei und Staatsanwälten anrücken, um den Nachbarn zu erschrecken? ... Möglicherweise werden sie Einigen von uns aufgrund dieses Protestes Arbeit anbieten, so wie sie es mit anderen Campesinos gemacht haben, die sie dann nach zwei Wochen wieder hinausgeworfen haben“. (Über Rassismus - Diskriminierung der „Indios“), siehe auch den Anhang: „Stadt-Land-Problematik“. In den Städten, bei Mestizen und Weißen, ist es durchgängige Meinung, dass „Indios“ nie von sich aus protestieren würden. Wenn sie es doch tun, dann müssen dahinter ausländische Agenten, Kommunisten oder Staatsfeinde im Allgemeinen stehen, die die Campesinos zur Durchsetzung ihren eigenen Interessen ausnutzen. So wurden wir, die „ausländischen Mitarbeiter“ von Bischof Dammert, von den Städtern verdächtigt, entweder kommunistische Agenten oder Drogenhändler zu sein. Denn warum sollten Menschen, die es eigentlich nicht nötig hätten, sonst solch abenteuerliche Wege und Plagen auf dem Weg zu den Campesinos auf sich nehmen?

Die Aktivitäten der Mine im gesellschaftlichen und globalen Kontext

Die Aktivitäten der Mine können nicht isoliert betrachtet werden. Sie sind auf dem Hintergrund der kolonialen Geschichte, den herrschenden Gesetzen des Weltmarktes, der Rolle der jeweiligen nationalen Regierungen, der damit verbundenen Diskriminierung des „Hinterlandes“, der Sierra und der darin lebenden Menschen und der Ideologie eines stets wachsenden Wohlstands für alle (wenn diese sich nur anstrengen) zu sehen und zu werten. Alle diese Punkte brauchen hier nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden, dies ist schon vielerorts geschehen. Dennoch soll an dieser Stelle noch einmal an einige grundlegende Verhaltensmuster erinnert werden, die für das Verständnis von Globalisierung notwendig sind:

-        Die Minenbetreiber haben seit Beginn nicht die Interessen der Campesinos und generell der einheimischen Bevölkerung berücksichtigt; diese wurden noch nicht einmal gefragt. Sie wurden dabei - sei es durch einzelne Personen, sei es strukturell aufgrund bestehender Gesetze - von staatlichen Stellen und lokalen „Autoritäten“ nicht nur unterstützt, sondern sogar ermuntert. Es werden z.B. Gesetze geändert (oder einfach nicht angewandt), damit ausländische Investoren ihr Geld in einem verarmten Land anlegen können.

-        Es besteht eine strukturelle Vernachlässigung der Landwirtschaft und eine damit verbundene Bevorzugung vor allem ausländischer Investitionen im großindustriellen Bereich. Diese schon lange währende Vernachlässigung der Landwirtschaft zugunsten großer Industrieprojekte wird verstärkt durch die Schuldenkrise (die wiederum u.a. gerade dadurch entstand) und die damit verbundenen Auflagen des IWF, nach denen die Exportwirtschaft verstärkt werden muss und Subsistenzwirtschaft als Hauptübel gilt. 1978 sagte ein stellvertretender deutscher Botschafter in Lima: „Die Hauptproblem Peru besteht darin, dass es noch zu 50% Indios in Peru gibt“. Und auf dem gleichen Empfang der Botschaft stellte ein geladener deutscher Wirtschaftsführer fest: „Solange die Indios ihre Kartoffeln selbst essen, kann aus Peru nie etwas werden“ (Augen- und „Hörzeuge“: Bischof Dammert).

-        Der politische, wirtschaftlich und rassistisch bedingte Zentralismus in Peru verhindert eine Demokratisierung und Entwicklung des Landes. Und selbst wenn Lima (die Regierung) wollte, dass staatliche Gelder auch den armen Regionen zugutekämen, wird dies durch Interventionen (Auflagen) von außen verhindert. D.h., dass eine nationale Regierung - auch wenn sie wirklich das Volk repräsentieren würde - nicht wirklich souverän ist und dies auch nicht sein darf.

-        Die Gewinne der Mine (auch die des peruanischen Anteileigners) gelangen ins Ausland. Die sozialen Folgeerscheinungen trägt aber die jeweilige Region. Dies verschärft die bestehende Ungleichheit - sowohl international als auch in der betreffenden Region (einige Wenige in Cajamarca, wie z.B. Haus- und Hotelbesitzer, profitieren von der Existenz der Mine, etc.).

-        Im Zusammenspiel zwischen Minenbetreibern und staatlichen Stellen wird die betroffene Bevölkerung über bestehende Gefahren nicht nur nicht informiert, sondern unabhängige Organisationen werden bei der notwendigen Aufklärung behindert und Bürgerbewegungen werden kriminalisiert (z.B. wegen „Aufruhr“ oder dem „Stören der öffentlichen Ordnung“ angeklagt). Als wirkungsvollste Waffe erweist sich neben der Manipulation der Gesetze und Missachtung der Menschenrechte der massive Einsatz von Geld: Verantwortliche werden gekauft (vereinzelt gelingt dies auch bei Verantwortlichen der Bürgerbewegungen, der Campesinos, der Ronda und öfters der Kirche).

-        Von offiziellen Stellen (Regierung bzw. Wirtschaft) werden bei jeder Investition die Vorteile für die Region und die betroffenen Menschen gepriesen: neue Arbeitsplätze, wirtschaftlicher Aufschwung, bessere Infrastruktur, mehr Schulen und Krankenhäuser etc. Schlagworte im Kontext der Globalisierung wie Modernisierung, Fortschritt, Flexibilität, Wettbewerbsfähigkeit etc. genießen den „Status der Heiligkeit“. Eine neue Religion wird verkündet und die Medien stehen im Dienst der Bekehrung der Menschen zu deren Heil. (Siehe dazu den folgenden Abschnitt: die neuen - alten – Verheißungen und Heilsversprechen).

-        Für die direkt betroffenen Menschen bedeutet der Goldabbau der Verlust ihres Landes, die Verschmutzung und eventuell Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, eine allgemeine Verteuerung der Lebenshaltungskosten etc. Bildlich (manchmal auch wörtlich) gesprochen: die Menschen bleiben auf dem Müll sitzen, während die Mineneigentümer immer mehr Reichtümer anhäufen auf Kosten der Ärmsten.

Als Randnotiz: wenn die Kirche, in die viele Menschen aus welchen Gründen auch immer eine große Hoffnung setzen, als Anwalt der Menschen ausfällt oder gar zum Nutznießer der Ausbeutung wird, dann kommt neben der materiellen Verelendung auch die Gefahr einer seelisch-geistigen Verwirrung, die sich in einem Zulauf zu Sekten zeigt, deren Verkündigung die Menschen aufs Jenseits vertröstet und das gegenwärtige Elend „leichter“ ertragen zu lassen scheint.

Fazit

a) Bei den Goldminen um Cajamarca handelt es sich nicht um irgendwelche Goldvorkommen, sondern es sind die ergiebigsten Goldvorkommen in Amerika. Es sind auch die rentabelsten Goldminen des Kontinents im Verhältnis von Investitionen und Ertrag und der Gewinn der Minengesellschaft liegt im weltgleichen Vergleich mit anderen großen Minengesellschaften mit an der Spitze. Aus dem Nichts heraus stieg Yanacocha S. A. innerhalb weniger Jahre in die Liga der zehn größten Goldminen der Welt auf. Stolz verweisen die Minenbetreiber in einem Informationsblatt auf die Einzigartigkeit der Goldvorkommen von Cajamarca. „Yanacocha ist die einzige Goldmine auf der Welt, in der das abgebaute Erz nicht erst bearbeitet werden muss, sondern es kommt im Tageabbau direkt in das dafür vorgesehene Becken, das mit den entsprechenden Flüssigkeiten gefüllt ist. Qualität und Reinheit des Erzes stehen weltweit an erster Stelle“. Gleichzeitig wird den Campesinos von Porcón, das Wenige, das sie haben, genommen. Die rechtmäßigen Eigentümer des Landes, das diese seit Jahrhunderten bearbeiten, gehen leer aus, während fremde Eindringlinge die Reichtümer des Landes ins Ausland bringen.

b) Die Geschichte des Goldes von Cajamarca seit 1532 spiegelt die Mechanismen wider, die weltweit zu einem immer größer werdenden Gegensatz zwischen armen und reichen Ländern geführt hat (und auch innerhalb der einzelnen Länder). Wirtschaftliche Interessen einiger Weniger stehen im Vordergrund, werden aber meist hinter humanitären oder auch religiösen Begründungen versteckt. Entsprechende humanitäre oder religiöse Institutionen leisten dabei „Schützenhilfe“ bzw. stehen selbst an vorderster Front und sind Nutznießer des Systems. So lautet die allgemein verkündete Lehre (die je nach Situation und Kontext in der Wortwahl variiert), dass die reichen und zivilisierten Völker den armen und „heidnischen“ Völkern (weil noch nicht in das System integriert), Fortschritt und Zivilisation, Religion und Kultur bringen. So betont die katholische Kirche (Vatikan), dass durch die „Begegnung fremder Kulturen“ den Völkern Amerikas das „Licht des Evangeliums“ gebracht wurde, denen damit die Chance der Bekehrung (und somit Anteil am ewigen Heil) eröffnet wurde.

Anhang 2: Das Verhältnis Stadt - Land

Unmittelbar nach der Eroberung verfügten die Spanier, dass alle Indios im unmittelbaren Be­reich der Städte in künstlich geschaffenen Ansiedlungen in der Nähe der Spanier leben muss­ten („Reducciones de Indios“). Dies diente zum einen der besseren Kontrolle der Bevölkerung durch die Kolonialmacht, zum anderen mussten die fruchtbaren Anbauflächen, die vorher von den Indios benutzt wurden, von den Indios verlassen und den Spaniern überlassen werden. Doch bereits 1570 erließ Vizekönig Toledo ein Gesetz, nach dem es zu einer von der Koloni­almacht gewollten Trennung der zwei Welten, der Welt der Indios und der Welt der Weißen kam. Das Gesetz besagte, dass es von nun an zwei getrennte Nationen innerhalb des einen Landes und des einen Herrschaftsbereiches gab: die „Republik der Spanier“ und die „Repu­blik der Indios“. Beide hatten ihr eigenes gesellschaftliches Leben und ihre jeweiligen eigenen Traditionen. Die Spanier lebten in der Stadt, die Indios auf dem Land (im Prinzip, denn selbstverständlich nutzten die Spanier die Arbeitskraft der Indios auch in der Stadt, in der diese dann vorübergehend lebten). Die Angst der Spanier vor einem Aufstand der Indios wurde zunehmend geringer und sie fühlten sich in den Städten und zunehmend selbst in ab­gelegenen Gebieten immer sicherer. Dort hatten sie zwar ihre Haziendas, die Besitzer lebten aber in der Stadt. Es gab nun immer mehr Haziendas auch in abgelegenen Gebieten und zur Sicherung der Herrschaft war es ausreichend, wenn einige gut bewaffnete Aufseher die Arbeit der Indios beaufsichtigten und den Betrieb der Hazienda aufrechterhielten. Auch aus ökono­mischen Gründen war es sinnvoller, wenn die Indios nicht in künstlichen Siedlungen in der Nähe der Stadt zwangsangesiedelt wurden, denn aufgrund dieser Praxis war es zu bedrohli­chen Engpässen in der Versorgung der Spanier durch Lebensmittel gekommen.

In den von den Spaniern neu gegründeten Städten entfaltete sich das soziale Leben im spani­schen Stil. Die Bildung von zwei Gesellschaften mit ihren jeweils eigenen Lebenswelten und Gebräuchen war die Folge und prägte sich in das kollektive Bewusstsein der Städter und der Campesinos ein. Die „Stadt“ wurde ein Synonym für den Ort, wo der Spanier, der Weiße, der „Zivilisierte“, die Herrschenden lebten. Das „Land“ (alle Gebiete, wo keine Weißen lebten), wurde zum Synonym für die „Unkultur“, den Beherrschten, den Indio. Die Stadt war der Ort des eigentlichen Lebens, die von ihren Bewohnern als eine Insel in einem weiten Ozean der Unwissenheit oder auch einer feindlichen Umwelt betrachtet wurde. Von der Stadt her wurde alles organisiert, die Eintreibung der Steuern, die Missionierung der Indios, Wirtschaft und Handel und die Absicherung und Kontrolle der Herrschaft. Umgekehrt war das Land aus­schließlich dafür da, das angenehme Leben in der Stadt, die Wirtschaft, den Klerus, die spani­sche Oberschicht und das Militär zu alimentieren. Die Existenzberechtigung der Indios be­stand aus der Sicht der Städter vornehmlich darin, ihren Herren gute Diener zu sein. Und dafür mussten die Indios auch noch dankbar sein, denn schließlich - so das nicht hinterfrag­bare „Dogma“ jener Zeit - haben ihnen die Europäer die Rettung in Gestalt des Christentums gebracht, das für Indios die einzige Chance ist, der ewigen Verdammnis zu entkommen. (J.A. Ratzinger als Benedikt XVI. ist wohl auch dieser Meinung: Auf seiner Reise nach Brasilien zur lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Aparecida, 2007, sagte er, dass die (Ur-) Völker Amerikas nichts sehnlicher als die Ankunft der christlichen Europäer erwartet hätten, um nun endlich auch erlöst zu werden).

Nach der Unabhängigkeit hat sich diese Situation nicht geändert. Zwar wurde nun das Gesetz des Vizekönigs Toledo aufgehoben, aber der Rassismus war in der andinen - latinen Gesell­schaft so verankert, dass er bis heute ungehindert weiter existiert. Die Aufhebung der offi­ziellen Trennung in zwei Welten brachte den Indios keine Vorteile, im Gegenteil: konnten sich bis dahin in einigen Comunidades einige Sitten und Gebräuche relativ ungestört erhalten, weil die Weißen ja die Welt der Indios nicht kannten und sie auch nicht kennen lernen woll­ten, so wuchs nun durch die erfolgte wirtschaftspolitische Liberalisierung der Druck auf die Indios. Die Republik wurde bis in die letzten Winkel nach noch möglichen vorhandenen Res­sourcen für den Arbeitsmarkt und eventuell noch verfügbaren Landflächen durchorganisiert. Das in einzelnen Gebieten von der spanischen Krone den Comunidades zugestandene Recht u.a. auf eigene Gerichtsbarkeit, eigenes, wenn auch sehr steiniges und unfruchtbares Land und das Recht auf die Feier bestimmter Feste, wurde nun aufgehoben und im Namen der Moderne und dem „Freien Markt“ dem Zugriff der Weißen geöffnet. 

Auch heute noch ist die Stadt für den Campesino eine fremde Welt und umgekehrt ist das Land für den Städter genauso unbekannt.[1] Es ist nach Ansicht der Städter weiterhin ein Ort der Unwissenheit und der Grund dafür, dass Peru sich noch nicht zu einer modernen und rei­chen Gesellschaft entwickelt konnte. Auch bei aufgeschlossenen Städtern, die durchaus wil­lens sind, mit Campesinos zusammenzuarbeiten, sind immer wieder - meist unterschwellige - Einstellungen anzutreffen, die auf einer Verachtung der Landbewohner beruhen. Ein Beispiel aus den Ernährungsgewohnheiten: Für Städter ist es kaum vorstellbar, bestimmte Produkte des Landes, vielleicht gar noch im rohen Zustand, zu essen. Es wird z.B. selbst Vollkornbrot abgelehnt, weil angeblich nur Brot aus weißem Mehl gutes Brot ist. So sind auch Versuche deutscher Entwicklungshelfer, Vollkornbäckereien in der Stadt zu etablieren, in der Regel gescheitert.[2] Es ließen sich noch unzählige andere Beispiele für diesen Sachverhalt aufzeigen, dessen Hintergrund den Betroffenen selbst meist nicht be­wusst ist. So werden Campesinos selbst von aufgeschlossenen Städtern bis heute regelmäßig geduzt und Campesinas, die in die Stadt kommen, um einige Produkte anzubieten, werden meist pauschal mit „Maria“ angeredet. Der Campesino als Individuum und Subjekt wird nicht als solcher wahrgenommen. 

In der heutigen Zeit ist die Unterscheidung zwischen Bewohnern der Sierra und der Küste hinzugekommen. Diese Unterscheidung hatte auch in vergangenen Zeiten eine Bedeutung, nun aber wird sie durch die im 19. Jahrhundert begonnene Vorrangstellung der Küste gegenüber der Sierra verschärft. Wie selbstverständlich sprechen die Bewohner der Küstenstädte von den Bewohnern der Sierra als „Serranos“, wofür ein in Deutsch etwa ver­gleichbarer Begriff wie „Hinterwäldler“ noch eine eher freundliche Übersetzung ist. Interes­sant ist dabei, dass mit Serrano auch der Städter in der Sierra gemeint ist und aus der Sicht von Lima kein großer Unterschied zwischen Serrano und Campesino besteht. Der Zuwachs der großen Städte an der Küste hat seine Hauptursache in der Vorstellung der Andenbewoh­ner, im Zentrum der Macht und des Reichtums mehr Möglichkeiten zu haben, an dem Leben der Städter partizipieren zu können. Während vor vierzig Jahren in Peru noch 60% der Bevöl­kerung auf dem Land lebten, sind es heute lediglich noch knapp 30%. Die Landbevölkerung hat sich anteilsmäßig halbiert, in absoluten Zahlen ist sie in etwa gleich groß geblieben.

Die Tatsache, dass viele ehemalige Landbewohner nun in Lima oder auch nur in einer Anden­stadt wie z.B. Cajamarca gestrandet sind, hat aus den Campesinos keine Städter im beschrie­benen Sinne werden lassen. Nicht nur weil ein Leben in den unzähligen Elendsvierteln der großen Städte ihnen den Zugang zu Bildung, ausreichender Ernährung, ärztlicher Versorgung etc. nahezu unmöglich macht, sondern allein schon wegen ihrer bloßen Herkunft haben sie keine Chance, von den Städtern als gleichberechtigte Bürger angesehen zu werden. Unter den herrschenden Umständen haben sich viele Landbewohner die Sicht der Herrschenden zu Ei­gen gemacht. Sie versuchen alle Spuren ihrer Herkunft vom Land und als Indio auszulöschen. Wenn man sie danach fragt, ob sie Quechua sprechen, so verneinen sie das ebenso wie die Frage nach ihrer Herkunft. Sie ändern sogar ihre Art, sich zu kleiden und meinen damit, in der Welt der Weißen akzeptiert zu werden. Anteilhaben an der Welt der Weißen bedeutet, Anteil haben an einem „Leben in Fülle“. Sich selbst zu verleugnen und sich der Welt der Starken bis aufs Äußerste anzupassen, erscheint als eine erfolgreiche oder gar als einzige Überlebens­strategie. Selbstverständlich ernten sie mit diesen Versuchen nur umso mehr die Verachtung der Städter. In deren Rangordnung nimmt ein sich um Anpassung bemühter Campesino die unterste Rangordnung ein: besser echter Indio als „Cholo“.[3]

Obwohl heute die Campesinos öfters in die Stadt kommen als früher und die Grenzen zwi­schen Stadt und Land fließender geworden sind, ist der Abgrund zwischen den beiden Welten dennoch nicht überwunden. Die Stadt ist für den Campesino der Ort, auf den er verwiesen ist und wo er dennoch bestenfalls geduldet wird. Er ist weiterhin abhängig vom städtischen Markt, von der Willkür der Behörden und der Polizei. Der Campesino weiß, dass er in der Stadt ausgebeutet wird, dass er daher keinem Städter auf Anhieb vertrauen wird, dass alle nur etwas von ihm wollen. Dennoch ist er auf die Stadt angewiesen. Er geht in die Stadt auf der Suche nach Arbeit, wegen der Ausbildung seiner Kinder und schließlich auch, weil er sich trotz allem in der Stadt eine bessere Zukunft erhofft, vor allem für seine Kinder. So empfindet er es als Fortschritt, wenn es ihm gelungen ist, eine Hütte am Stadtrand zu erwerben, in der er miserabler lebt als vorher auf dem Land, wo er sich aber dem besseren Leben näher fühlt, weil es unmittelbarer in seiner Reichweite erscheint.

So ergibt sich eine permanente Wanderbewegung: Die Reichsten aus der Stadt Cajamarca zieht es an die Küste, nach Lima oder gar ins Ausland, das als modernes Schlaraffenland ver­standen wird. Und die reichsten Campesinos[4] zieht es in das Umfeld der Städte; die vom Stadt­rand zieht es in die Zentren, wo die Häuser derer frei werden, die an die Küste ziehen usw.[5] Auf dem Land bleiben demnach die Ärmsten, der Unterschied zwischen Stadt und Land wird noch größer. Ist eine Familie erst einmal in die Stadt ausgewandert, gar nach Lima, ist es nur sehr schwer, wieder aufs Land zurückzukehren. Man würde damit allen Bekannten und seiner eigenen Verwandtschaft signalisieren, dass man es nicht geschafft hat, dass man versagt hat. So bleibt man eher im unmenschlichen Elend der Stadt leben als aufs Land zu­rückzukehren.[6] Neben den Ärmsten sind es die alten Menschen und die Kinder, die auf dem Land zurückbleiben. Umgekehrt platzen die Städte aus allen Nähten, sie sind voller junger Menschen, die sich im Kampf um Arbeitsplätze gegenseitig Konkurrenz machen und die Ta­gelöhne drücken. Sie sind ein Heer billigster Arbeitskräfte, leicht manipulierbar für die Inte­ressen der Mächtigen, zunehmend ohne moralische und religiöse Orientierung und jeder auf sich allein gestellt. Sie bilden den Bodensatz einer „modernen und flexiblen“ Gesellschaft und sind offen für deren Verheißungen und Vergnügungen.

Der komplette Artikel: Das Gold von Cajamarca - Die Goldmine Yanacocha 


15. Dez.: Mythos und Wirklichkeit – Kapitalismus als Religion

Die sieben Sakramente des Kapitalismus: Sakramente und Kapitalismus - eine Frage der Definition

Sakramente sind nach überlieferter katholischer Lehre sichtbare Zeichen einer transzendenten (nicht mess- und erfassbaren) Wirklichkeit. Konkreter: es sind von Jesus Christus eingesetzte (gestiftete) Zeichen, in denen ansatzweise zum Vorschein kommt und erfahrbar wird, was mit der Botschaft Jesu, dem Anbruch des Reiches Gottes und seiner Vollendung gemeint ist. Sakramente verweisen nicht nur auf das Reich Gottes (und natürlich auf Gott), sondern sie bringen im Vollzug das Reich Gottes in den Alltag. In ihnen berühren sich „Himmel und Erde“: der Alltag öffnet sich auf Zukunft, auf Vollendung hin und das Göttliche gewinnt Hand und Fuß, wird „vererdet“ und wird integraler Bestandteil des Alltags. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass im Vollzug der Sakramente der Mensch Anteil nimmt am göttlichen Heil, will sagen: die Sakramente sind Heilsverheißungen, die schon im „Hier und jetzt“ Gestalt annehmen; und weil Gott der Garant des Heils ist, sind es nicht nur Verheißungen, sondern verbindliche Zusagen des Heils. Als solche sind sie aber immer ein Geschenk, der Mensch hat keinen „Rechtsanspruch“ darauf, aber jedem Menschen (weil alle in gleicher Weise Ebenbild Gottes sind) wird das Geschenk angeboten (mit eingeschlossen die Fähigkeit, das Angebot zu hören und anzunehmen oder auch abzulehnen und sein eigenes Heil suchen wollen).

Die Kirche definiert die Heilszeichen, bestimmt sie inhaltlich und organisiert die Bedingungen der Anteilhabe (z.B. Zulassung zu den Sakramenten). Der Kirche ist die „Verwaltung“ und das Handling der Sakramente anvertraut. Sie gibt den Menschen die ihnen anvertrauten Schätze weiter. Diese wenden sich auf der Suche nach dem Heil an die Kirche, die ihnen dann das Heil verspricht bzw. garantiert, falls die von der Kirche selbst definierten Bedingungen erfüllt sind. Die Kirche ist aber nicht nur Heilsvermittler, „Hüterin des göttlichen Schatzes“, sondern sie ist selbst Zeichen des Heils. Sie ist das Sakrament der Gegenwart Gottes unter den Menschen, wie sie insbesondere in der Eucharistie erfahrbar wird. Sie ist als Gemeinschaft des Volkes Gottes das für alle Menschen sichtbare Zeichen des Bundes Gottes mit der Menschheit, in ihr wird das Reich Gottes antizipiert (natürlich nur im Ansatz, nicht in Vollendung). Volle Teilhabe am Leben der Kirche „garantiert“ das Heil und die Erlösung. Die beiden grundlegenden Sakramente sind daher die Taufe als Aufnahme in die Heilsgemeinschaft und die Eucharistie, in der die Kirche sich selbst als Zeichen der Einheit mit Gott feiert und in der das Reich Gottes erfahrbar wird. 

Der Kapitalismus wird hier als eine Ideologie (Werteordnung) verstanden, nämlich als eine bestimmte Art und Weise, die Wirklichkeit (Welt, Mensch) und deren Grund und Zweck zu sehen, zu deuten und zu leben.[7] Im Unterscheid zum Christentum wird Kapitalismus als ein System verstanden, in der das Heil nicht von außerhalb kommt, sondern in dem das Heil innerweltlich machbar und organisierbar ist. Wie das Christentum seinen Namen von Christus hat, der im Mittelpunkt steht und absoluter Maßstab ist, so bedeutet Kapitalismus, dass im Mittelpunkt von allem menschlichen Streben und Trachten das Geld steht, weil es - so der Glaube - das am besten geeignete Mittel ist, um zu sich selbst zu finden, um Mensch zu werden und um immer mehr Mensch zu sein. Denn es ist der Mensch, der sich selbst (seine Bedürfnisse, Methoden, Ziele), zum absoluten Maßstab macht und in der das Kapital (weil empirisch am besten bewährt) die Rolle der Heilsvermittlung zukommt. Mehr noch: das Kapital selbst ist das Heil. Der Kapitalismus verheißt allen Menschen guten Willens, wenn sie nur wollen, Anteil am Heil. Dieses besteht darin, jederzeit und überall möglichst viele Bedürfnisse befriedigen zu können.

Zur Katechese des Kapitalismus gehört es, möglichst vielen Menschen den Glauben zu vermitteln, einzigartig und fähig zu sein, das auch erreichen zu können, was man sich vorgenommen hat und erfolgreich sein zu können. Der Kauf von Gütern, die „man“ haben muss, das Anteilnehmen am Leben der Erfolgreichen, die Darstellung seines eigenen Erfolgs und seiner Potenz, erweisen sich als sichtbare Zeichen des Erfolges und der Rechtgläubigkeit. Im Vollziehen dieser Heilszeichen zeigt man sich und den anderen, dass man auf dem rechten Weg ist und dass man wer ist. Die Anerkennung dieser Prinzipien garantiert bereits das Heil, zumindest aber die Möglichkeit zum Heil. Neben diesen sichtbaren Zeichen der Anteilhabe am Heil, ist es letztlich das Geld (auch in der Form von Macht, Herrschaft, Potenz) das als universell geltender Wert zum absoluten Maßstab wird, von dem her alle anderen Werte lediglich abgeleitet sind.

Ursprungsmythen und Heilsverheißungen des Kapitalismus

Diese Religion (weil ein Glaube mit allen Insignien von traditioneller Religion wie Kult, Hierarchie, Verheißungen, Opfer, Gehorsam, feste Spielregeln, systemimmanente Moral) basiert auf einigen festen Glaubenssätzen und auf der ritualisierten Präsentierung von Heilsverheißungen, die vom Volk nur dann geglaubt werden können, wenn diese Heilsverheißungen immer wieder auch am eigenen Leib (wenn oft auch nur in Form einer Projektion) gespürt und erfahren werden können. Diese Religion, wie jede andere Religion, hat umso mehr Erfolg, je besser es ihr gelingt, den Menschen eine Vision eines besseren Lebens (sei es „auf Erden“, sei es „im Himmel“) zu vermitteln und auch zugleich die Wege und Methoden zu weisen, die zum ersehnten Ziel führen. Grundlage einer jeden Vision (und Religion) sind Grundannahmen, in der Folge Mythen genannt, die außerhalb der Verfügbarkeit des Menschen stehen (so wird es zumindest den Menschen gelehrt oder überliefert) und die daher auch nicht zur Disposition gestellt werden können. Glück, besseres Leben, Selbstverwirklichung usw. lassen sich dann nur im Rahmen und unter Beachtung der systemimmanenten Regeln erreichen bzw. allen, die diese Mythen verinnerlichen und ihr Leben danach ausrichten, wird das Heil quasi garantiert. Geht etwas schief, d.h. das Ziel wird nicht erreicht (z.B. ein gewisser Lebensstandard), dann liegt es am Versagen des Einzelnen, der sich entweder als Ungläubiger oder als Versager erwiesen hat, der nicht in der Lage ist (oder sein will), die Anforderungen des „Rechten Weges“ zu erfüllen. Den „Ungläubigen“ droht der Ausschluss aus dem System und die „Vertreibung aus dem Paradies“.

So liegen auch der Religion des Kapitalismus (der Vision, durch Anhäufung materieller Werte sich das Heil zu sichern) Mythen zugrunde, von denen hier zwei herausgegriffen werden, die sich in der Praxis (nicht in der reinen Lehre) als sich gegenseitig ergänzende und unterstützende Mythen herausgestellt haben: die Armen sind an ihrem Schicksal selbst schuld - Reichtum ist ein sichtbares Zeichen der Auserwählung Gottes (Armut bedeutet das Gegenteil). Die letztere Annahme wird meistens als calvinistische Lehre dargestellt. Nach dieser Lehre ist der durch Fleiß und Anstrengung erworbene Reichtum ein Zeichen für das Wohlwollen Gottes, ein Vorgriff auf die endgültige Belohnung im Himmel. Umgekehrt gilt: wer es im Leben zu „nichts“ gebracht hat (Maßstab ist materieller Wohlstand oder auch Gesundheit), muss wohl ein Sünder sein, der den Zorn Gottes herausgefordert hat und der nun seine gerechte Strafe erleidet - sichtbar für alle und ebenfalls als Vorgriff auf die endgültige Verdammnis. Mit dieser Lehre wird u.a. der wirtschaftliche Aufschwung des (protestantischen) Nordens Amerikas im Vergleich zum (katholischen) Süden Amerikas begründet. Doch diese „calvinistische Lehre“ ist de facto auch Grundbestand „katholischer Realpolitik“ - zumindest in den vergangenen Jahrhunderten.

Ein Beispiel mag dies illustrieren:

Auf dem Weg von Bambamarca in eine abgelegene Comunidad traf ich auf einen Campesino, mit dem ich ins Gespräch kam. Er hatte einen Radiorekorder geschultert, den er gerade in der Stadt gekauft hatte. Damit dies auch alle bemerkten, war die Lautstärke entsprechend hoch eingestellt. Voller Stolz erzählte er mir, welche Opfer er für diesen Kauf gebracht hatte und wie er nun in seiner Comunidad deswegen geachtet werden wird. Er lud mich spontan in seine Hütte ein, um mitzuerleben, wie sich seine Familie und Nachbarn freuen werden ob der neuen Erwerbung. Er hatte sieben Kinder, alle waren barfuß, ebenso seine Ehefrau. Um den Radiorekorder kaufen zu können, hatte er seine einzige Kuh verkauft, ohne seine Ehefrau zu fragen. Die Familie freute sich tatsächlich, den Vater wieder zu sehen. Der Mann erklärte mir auf meine Fragen, warum dieser Radiorekorder so wichtig für ihn war: Er wollte endlich auch als Mensch geachtet und anerkannt sein. Und er glaubte, wenn er etwas kaufen kann, was ansonsten nur die Weißen in der Stadt haben, wäre er bald auch wie einer von ihnen und er hätte allen bewiesen, dass er ein rechtschaffener Mensch sei und dass er Gott dafür dankbar sei, dass dieser ihn nun erhört habe.

Es handelt sich hier nicht um einen Einzelfall. Viele Untersuchungen und auch persönliche Erlebnisse mit den Campesinos bestätigen dies. (In Campesinogemeinschaften, die intensiver den Weg der neuen Pastoral von Bambamarca seit 1962 mitgegangen sind, sind solche Beispiele viel weniger anzutreffen, dazu mehr an anderer Stelle). Um das Verhalten dieses Campesino zu verstehen und deuten zu können, muss man deren Geschichte und Situation verstehen – und verstehen ist mehr als wissen. Aus der Sicht vieler „missionierter“ Campesinos beruht die Vorrangstellung der Weißen auf deren Allianz mit Gott (und umgekehrt). Der Gott der Weißen erwies und erweist sich stärker. Wie sollte es sonst möglich gewesen sein, dass die eigenen Götter gestürzt wurden, dass die Weißen so mächtig sind, dass sie scheinbar alles können und wissen und dass sie mit unendlichen Reichtümern und Fähigkeiten gesegnet sind? Sie selbst dagegen sind die Verlierer, die Götter haben sich von ihnen abgewandt und der Gott der Weißen ist nicht auf ihrer Seite, sondern gegen sie. Um den Zorn des allmächtigen weißen Gottes zu besänftigen, muss man ihm viele Opfer bringen. Nach Jahrhunderten währender Unterdrückung haben viele Campesinos dies so verinnerlicht, dass sie sogar daran zweifeln, ob sie in gleicher Weise Mensch sind wie die Weißen. Denn Gott schenkt den Weißen alles, ihnen selbst aber wird alles genommen. Sie haben aus irgendeinem Grunde, den sie sich nicht erklären können, Schuld auf sich geladen und sind nun zu Armut und Knechtschaft verdammt - Gott wird schon wissen warum. Sie erfahren sich als Sünder und als unwürdig, als zu nichts würdig und zu nichts fähig. Nur wenn sie ihr Schicksal demütig ertragen, haben sie die Chance, vielleicht doch noch das Wohlgefallen Gottes (und der Weißen, ihrer Herren) zu verdienen.

Wenn nun aber ein Campesino bereits in diesem Leben es so weit gebracht hat, dass er etwas haben kann, was sonst den Weißen in der Stadt vorenthalten ist, so kann dies ein Zeichen dafür sein, dass er nun das Wohlgefallen Gottes gewonnen hat. Etwas profaner gesagt: wenn ein Campesino etwas Bestimmtes kaufen kann, wenn er sogar in der Stadt wohnen kann, dann hat er Anteil am Leben der Weißen, d.h. er hat dann Anteil am eigentlichen Menschsein, an der „Fülle des Lebens“, die ihm als Indio, als Ausgestoßener des Systems, sonst vorenthalten bleibt. „Je mehr Dinge ich kaufen kann, desto mehr Mensch bin ich.“ Und genau dies ist das grundlegende Dogma des Kapitalismus, der notwendigerweise auch auf permanente Erweiterung seiner Herrschaft, auf Weltherrschaft ausgerichtet ist. Nur wenn ich Geld habe, kann ich meiner Bestimmung als Verdammter und Ausgestoßener (ausgestoßen von Gott und der Welt) entkommen und zu einem anerkannten Jünger und zu einem Weltbürger mit dem ihm zustehenden Rechten, werden.

Der gewaltsame Einbruch der Europäer hat das Weltgefüge der Indios so durcheinandergebracht, dass sie die „Religion“ der Europäer akzeptiert haben, ohne sie je zu verstehen. Europäischen Missionare mögen die beschriebene Lehre den Indios so nicht vermittelt haben, in der Praxis haben sie aber die Herrschaft der Europäer so erfahren wie geschildert. Zudem ist festzuhalten, dass es nicht zuerst die Worte sind, die Menschen überzeugen, sondern die Taten. In diesem Sinne waren die Eroberer mit ihren Gräueltaten (wie in Cajamarca der erste Großgrundbesitzer Melchor Verdugo) die eigentlichen „Missionare“, die Verkünder der Botschaft von der Einzigartigkeit der Europäer und ihrer Religion. Und diese Auffassung von Religion (Gott auf der Seite der Weißen etc.) konnte umso mehr Fuß fassen, je öfter die offiziellen Vertreter dieser Religion an dem Tisch der Mächtigen gesehen wurden bzw. diese als eine Einheit oder gar als identisch mit den Sklavenhaltern wahrgenommen wurden. 

Wie an diesem Beispiel des Campesino gezeigt werden kann, verschmelzen sich die beiden Grundprämissen der neuzeitlichen Religion: Der Arme ist selbst schuld und die Armut ist eine gerechte Strafe Gottes. Die Verschmelzung der beiden Ursprungsmythen fand ihre Konkretisierung in der Allianz der Kirche mit den Mächtigen auf Kosten der Indios (und Afrikaner, Asiaten etc.). Dabei ist es unwichtig festzustellen, was zuerst da war: der Mythos (als erfundene Rechtfertigung der Herrschaft) oder die Praxis (als Konsequenz des Mythos). Diese beiden Mythen kann man als das Grundsakrament des Kapitalismus bezeichnen, analog zu den beiden Grundsakramenten der katholischen Lehre, der Taufe und der Eucharistie (Kirche als Zeichen des Heils und Teilhabe am gemeinsamen Mahl). Deren Annahme und Akzeptanz ist die Vorausbedingung für die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, denen das Heil zugesagt ist. Das Annehmen der Botschaft (das Hören) führt zu einer bestimmten Praxis und zu einer Orientierung an Lebensinhalten und Lebenszielen, die von der jeweiligen „Wertegemeinschaft“ vorgegeben werden. Im Falle des Kapitalismus sind dies die schon erwähnten Fixierungen auf äußerlich messbaren Erfolg und auf materielle Werte mit ihren jeweiligen austauschbaren Symbolen (für Männer z.B. die Macht, sich Sex oder gar „Liebe“ kaufen zu können). Diese Werte gewinnen aber nur dann ihre eigentliche Bedeutung, wenn sie öffentlich dargestellt oder gar öffentlich zelebriert werden können. Einfacher ausgedrückt: Der Kauf eines bestimmten Markenartikels kann das sichtbare Zeichen der Anteilhabe an den Segnungen des Systems (vergleichbar:  Anteilhabe an der Gnade Gottes) sein: also eine sakramentale Handlung.

Im Folgenden werden zusätzlich zu den zwei „Grundsakramenten“ fünf weitere Heilsverheißungen des Kapitalismus (insgesamt sieben) in ihrer Konkretisierung der Goldminen von Cajamarca vorgestellt und auf dem Hintergrund der Erfahrungen in Cajamarca auf die Probe gestellt.

3. „Die Bergbauunternehmen (wie alle Unternehmen) dienen der Entwicklung der Region, in der sie tätig werden“. In Cajamarca wurde den Comunidades versprochen, dass sie durch die Investitionen der Mine die Chance erhielten, Anschluss an die moderne Zeit zu finden. Neue Straßen, Schulen, Arbeitsplätze usw. wurden für alle Campesinos in Aussicht gestellt. Um beim Beispiel des erwähnten Campesino zu bleiben: durch das Auftreten der Minengesellschaft können nun bald viele Campesinos einen Radiorekorder kaufen. Dadurch werden sie im eigentlichen Sinne zu modernen Staatsbürgern. (Es scheint auch ein Grundprinzip von staatlicher Entwicklungshilfe zu sein, möglichst vielen Menschen den Zugang zum Weltmarkt zu verschaffen, d.h. dass sie ihre Produkte „marktgerecht“ verkaufen, um dadurch die Mittel zu erhalten, an den „Segnungen der Zivilisation“ teilhaben zu können).

4. „Die modernen Bergbauunternehmen liegen auf die Erhaltung der Umwelt größten Wert“, weniger diplomatisch: „Die Zerstörung der Natur ist der Preis für den Fortschritt“. Die bei Cajamarca angewandte Abbaumethode ist zwar eine der modernsten der Welt und die Investitionen in entsprechende Schutzmaßnahmen sind höher als in alten Bergwerken. Die Unternehmen investieren mehr in Umweltschutzmaßnahmen. Dies geschieht unter dem internationalen Druck der Öffentlichkeit und von Regierungen, die hohe Schadensersatzforderungen im Falle einer Katastrophe stellen. Für Unternehmen ist es rentabel und imagefördernd geworden, ein Minimum in Umweltschutz zu investieren und ein Maximum an Propaganda daraus zu machen. Über den Widerspruch zwischen Propaganda und Realität ist noch zu berichten. Im Übrigen gilt auch hier, dass Investition und Profit im rechten Verhältnis stehen müssen.

5. „Die Investitionen von Unternehmen bzw. deren Ansiedlung in der Region schaffen neue Arbeitsplätze“. Die Erfahrungen in allen Teilen der Welt sprechen dafür, dass Unternehmen nicht zuerst das Wohl bzw. die Arbeitsplatzsicherheit der Beschäftigten im Auge haben. Auch der Papst klagt dies immer wieder an und mahnt, dass der Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft stehen sollte. Vielmehr zeichnet sich ein erfolgreiches Unternehmen gerade dadurch aus, dass es mit möglichst wenig Personal ein Höchstmaß an Effizienz erreicht und von den Beschäftigten werden als besondere Tugenden Flexibilität und bedingungslose Leistungsbereitschaft erwartet. Auch der Goldabbau bei Cajamarca wird mit der derzeit modernsten Technologie betrieben. Dies ist umso bemerkenswerter in einem sozialen Umfeld, in dem eine Masse von billigen Arbeitskräften zur Verfügung steht. In anderen Industrien (z.B. Textilindustrie) wird dies als Standort- und Wettbewerbsvorteil intensiv genutzt.[8] Beim Goldabbau werden aber nur wenige Menschen benötigt. Gewaltige Maschinen fressen sich durch die Berge und die Planierraupen und Lastwagen zum Abtransport werden von speziell geschulten Fahrern gesteuert, die nicht aus der Region kommen.

6. „Wenn die Unternehmen gute Gewinne machen, kommt dies allen Menschen, besonders aber den Armen zugute“. Diese Verheißung ist eine der ältesten Verheißungen und sie stand bereits am Anfang der industriellen Revolution. Mögen bei Adam Smith vor dem anbrechenden industriellen Zeitalter noch humanitär - liberale Motive eine Rolle gespielt haben, so ist die ständige Wiederholung dieses Wirtschaftsdogmas angesichts steigender Armut und zunehmender „Freisetzung von Arbeitskraft“ purer Zynismus. So wurden z.B. den Campesinos von Combayo zu Beginn des Jahres 1993 dreißig Dollar pro ha Land angeboten. Dieses Angebot war begleitet von der Drohung, wenn sie ihr Land nicht verkaufen, würde es vom Staat ohne Entschädigung enteignet werden, denn die Gesetze seien auf der Seite der Mine. Zudem wurde den Campesinos dieser Comunidad versprochen, dass alle in der Mine Arbeit finden würden, wo sie viel mehr verdienen würden als je zuvor. Die Campesinos verkauften ihr Land. Doch nur acht Campesinos fanden Arbeit in der Mine (Straßenbau) - ohne Arbeitsvertrag, einem Subunternehmer ausgeliefert, mit einer Arbeitszeit von 6.30 - 16.30 (20 Minuten Mittagpause), einem monatlichen Lohn von 200 DM (zu Arbeitsbeginn wurden 350 DM versprochen), Essen und Unterkunft mussten teuer bezahlt werden (der Lohn wurde in Essensgutscheinen ausgezahlt), eine Versicherung wurde trotz Versprechen nicht abgeschlossen. Sie protestierten, dass sie kein Geld ausgezahlt bekamen, sondern ihnen stattdessen Schulden angeschrieben wurden, weil ihre Essensrechnung höher sein sollte als der ihnen zustehende Lohn.  Daraufhin wurden sie nach 18 Monaten Arbeit ohne Urlaub entlassen. 

7. „Die Unternehmen legen Wert darauf, zu den Kommunen und Bürgern gute Kontakte zu pflegen und das soziale und kulturelle Leben der Bürgerschaft zu fördern“. (Dieser Mythos wird besonders in der amerikanischen Gesellschaft gepflegt). Yanacocha S.A. als das profitabelste Bergwerksunternehmen Perus und unter den Top 10 der Goldabbauunternehmen der Welt, legt auch in Cajamarca Wert auf ein soziales Image. Dies wird gepflegt, in engem Kontakt mit den Honorationen der Stadt und der Kirche, durch Stiftungen an Schulen (Computerausrüstung) und an die Kirche (Bischof). Auch zu den Medien bestehen gute Kontakte und es werden kulturelle Events gesponsert. Deshalb hat die Mine einen guten Ruf bei den einflussreichen Familien der Stadt. Einladungen und Empfänge mit den ausländischen Ingenieuren sind glanzvolle gesellschaftliche Ereignisse. Was wirklich „droben auf den Bergen“ Minen geschieht, spielt bei diesen gesellschaftlichen Events keine Rolle. Die Mine hat zudem das Informationsmonopol in allem, was die Mine betrifft. Selbst wenn einige der Wohltaten der Mine tatsachlich den Ärmsten zugutekommen sollten, dann liegt dies in der alten und bewährten Tradition karitativer Tätigkeiten, die den Menschen nun ein Pflaster reichen für die Wunden, die sie ihnen selbst vorher zugefügt haben.

Vergleich von katholischen und kapitalistischen Mythen

Es ist hier nicht der Ort, um über die Unterschiede und die verschiedene Heilsverheißungen, z.B. zwischen christlichen Glauben und Kapitalismus, zu sprechen. Festzuhalten ist, dass es verschiedene Grundannahmen, Werte und Methoden gibt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Man kann davon träumen, dass die Menschen eines Tages „friedlich wie die Fische im Wasser“ (H. Marcuse) zusammenleben werden oder realistischerweise davon ausgehen, dass die großen Fische immer die kleinen Fische fressen werden (wo denn außer im Aquarium leben die Fische wirklich friedlich zusammen?). Mit diesen Grundannahmen verbunden sind fundamentale Einstellungen zur Rolle des Menschen (Menschenbild), der Sicht und Deutung der Welt (Weltanschauung), zur Frage nach Leben und Tod, Sinn des Lebens usw. Darüber gilt es zu streiten, sich auseinander zu setzen, sich hinterfragen zu lassen und man wird gezwungen, seine eigene Anschauung rational, d.h. sachgerecht und praxisnah, zu begründen. Werden jedoch die Grundannahmen zu unantastbaren, unveränderlichen oder göttlichen Heilswahrheiten erhoben, ist ein rationaler Dialog nicht mehr möglich, bestenfalls „ein zur Kenntnis nehmen“ (was oft schon viel wäre). Der Mythos hat seine „rationale“ Begründung in dem Willen derer, die eine bestimmte Wirklichkeit so wahrnehmen wollen, wie es ihnen am meisten behagt oder am ehesten zum Vorteil gereicht. Auf diese Weise kann diese bestimmte Wirklichkeit (oder auch die Wirklichkeit an sich) niemals Gegenstand der Kritik sein und es kann auch kein Wahrnehmen einer anderen Wirklichkeit geben, weil es diese ja gar nicht geben darf oder kann.

So wird auch der real existierende Kapitalismus (neumodischer: Neoliberalismus) als die einzig denkbare Art und Weise der Weltgestaltung und des Zusammenlebens der Menschen betrachtet. Dies geschieht umso mehr, als eine scheinbare Alternative kläglich gescheitert ist. Jede Alternative zu diesem System wird, weil als absurd geltend, erst gar nicht mehr diskutiert. Die Sieger sprechen stetig von ihren Erfolgen und können so gar nicht mehr wahrnehmen, dass die Zahl der Verlierer (nicht nur der Menschen, auch der Schöpfung) immer mehr zunimmt. Wer z.B. davon spricht, dass die Armen selbst schuld an ihrem Elend sind, der kann dann nicht mehr die eigentlichen Ursachen des Elend wahrnehmen, geschweige denn die Armen als Subjekte wahrnehmen, z. B. die Mutter, die um fünf Uhr morgens aufsteht, Wasser am Fluss holt, Wäsche wascht, Brennholz sucht, auf den Markt geht, um dort drei Tomaten zum Kauf anzubieten usw. und die sich um 22 Uhr todmüde auf ihre Matratze aus Stroh legt und dabei daran denkt, was sie ihren Kindern morgen zum Essen geben kann.

Es gibt auch in der katholischen Kirche solche „kapitalistischen Mythen“, hier nun allerdings so formuliert, dass auf den ersten Blick (und nicht erst auf den zweiten Blick wie beim Kapitalismus) ihr religiöser Charakter deutlich wird. Auch hier gab es Funktionäre, die auf der Basis eines Mythos einen Verhaltenskatalog „für das Volk“ erstellt haben, der dann das soziale, gesellschaftliche und religiöse Verhalten und Leben geprägt hat. So wurde über Jahrhunderte gepredigt, dass die irdischen Güter nichts seien im Vergleich zu den himmlischen Gütern, die die Armen erwarten dürfen. So pflegte der Gott geweihte Priester zu sagen: „Sei geduldig mein Sohn, im anderen Leben wirst du umso reicher belohnt“, während er sich gleichzeitig an der reich gedeckten Tafel des Großgrundbesitzers (oder der Minenbesitzer) einen Vorgriff auf die zukünftigen Freuden genehmigte. Der aktuelle Bischof von Cajamarca versteht diese Kunst auf eindrucksvolle Art zu zelebrieren und erweist sich damit als echter Hohepriester des Kapitalismus und seiner älteren Schwester, einer konstantinischen Kirche.

Eine moderne Version eines derartigen ideologischen Diskurses ist die Politik, nach der die armen Menschen der armen Länder ihre Gürtel enger schnallen müssen, damit sie fit gemacht werden können für den Wettbewerb in der globalen Gesellschaft um so einen Weg aus ihrer (selbstverschuldeten?) Armut zu finden. Dahinter steht, wie schon in Punkt 6 beschrieben, die Auffassung, dass erst einmal Reichtum angehäuft werden muss, damit dann die Armen eine Chance erhalten, zu Arbeit und Brot zu kommen. Wenn es nämlich z.B. mehr Autos auf den Straßen gibt, dann gibt es auch mehr Möglichkeiten für Straßenkinder, im Stau vor der Ampel die Scheiben der Autos zu wischen und damit Geld verdienen zu können. Und wenn das einfache Volk erst einmal etwas Geld hat, dann gibt es auch mehr Möglichkeiten, dieses Geld auszugeben, was wiederum z.B. der Unterhaltungsindustrie, der Freizeitindustrie (mehr Diskotheken, Bordelle) zugute kommt, die dann ebenfalls mehr Arbeit bietet. So entsteht ein Kreislauf, der immer mehr Menschen in Brot und Arbeit bringt und der damit zu einem steigenden Wohlstand für alle führt.

Verkünder dieser Frohen Botschaft sind u. a. der IWF und die Weltbank, die den armgemachten Ländern angeblich zu deren eigenen Wohl Strukturanpassungsmaßnahmen vorschreiben, nach denen zuerst alle sozialen Programme, weil nicht produktiv, gestrichen werden müssen, damit es später allen besser geht (falls sie es überlebt haben). An diesem Gesetz geht kein Weg vorbei, denn die Wirtschaft funktioniert nach den Gesetzen des Marktes und der ist blind (d.h. er ist wertneutral). Wer gegen den Markt handelt, geht unter. Dies wird als ein unumstößliches Naturgesetz hingestellt. Damit wird jeder Versuch, dieses Modell zu hinterfragen oder gar von den Opfern her zu deuten, als Wahnsinn betrachtet, d.h. es ist der Kritik entzogen: IWF dixit! Der IWF hat gesprochen! Dabei geht es im Grunde um etwas ganz anderes, z.B. dass die Banken möglichst lange viele Zinsen kassieren wollen, dass man die Armen unter Kontrolle behalten und die armen Länder „reif“ für rentable Investitionen machen will, usw. Auch der begründete Hinweis, mathematisch nachvollziehbar, dass die verschuldeten Länder schon längst mehr an Zinsen zurückbezahlt haben als sie je an Kredit erhalten haben und trotzdem auf immer höheren Schulden sitzen bleiben, wird mit dem richtigen Hinweis begegnet, dass es um das Prinzip gehe. In der Tat ist es dieses Prinzip (Mythos), das über allem steht, verabsolutiert wird und als die Wahrheit schlechthin verkündet wird. 

Der komplette Artikel: Die Heilsverheißungen des Kapitalismus


16. Dez.: Eine Kirche der Befreiung – Das Evangelium von Jesus dem Christus mit den Augen der Indios sehen und erfahren

Dia-Reihe und Begleitheft; Fachstelle für Medienarbeit der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 1986; Bilder und Text: Willi Knecht; zuerst als Ausstellung "Kirche der Befreiung" in         St. Georg, Ulm (Okt. 1983, überarbeitet für Diaschau,1984).

Die Lichtbildreihe „Kirche der Befreiung“ will in aller Kürze in das Grundanliegen der Theologie der Befreiung einführen. Der Titel „Kirche der Befreiung“ deutet daraufhin, dass diese Glaubensbewegung aus dem geknechteten Volk Gottes heraus entstanden ist, aus einer Praxis der Befreiung. Es ist nämlich nicht die Theologie oder das Lehramt, die den Menschen das Heil bringen, sondern es ist das Evangelium von Jesus dem Christus. Dieses Evangelium wird in besonderer Weise von unterdrückten Menschen als eine Botschaft der Befreiung verstanden, als Überwindung der "Sünde der Welt" (Habgier, Unterdrückung, Rassismus, koloniale Strukturen, etc.) und ihren Folgen.

Es soll nun nicht über die Theologie der Befreiung gesprochen werden. Die Lichtbildreihe will vielmehr aufzeigen, wie Menschen, die jahrhundertelang versklavt wurden, aus dem Glauben an Jesus Christus heraus sich als Kinder Gottes entdecken, als Menschen mit einer unantastbaren Würde und mit Rechten, diese Würde auch einzufordern. Im Lichte ihres Glaubens an einen Gott, der ihnen das „Leben in Fülle“ verheißt, deuten sie ihre Situation neu und beginnen aufzubrechen und aufzustehen – im vollen Vertrauen auf den Gott, der mitten unter ihnen Mensch wurde, mit ihnen leidet und aufersteht.

Die Gliederung der Reihe in 6 Teilabschnitte entspricht den Schritten der Evangelisierung, wie sie in Lateinamerika üblich geworden ist: Bewusstwerden der eigenen Situation – Deutung im Lichte des Glaubens bzw. Konfrontation mit der Bibel – prophetisches Handeln (Anklage und Verkündigung).

I. Kultur und Geschichte

Die Kultur und Religion der amerikanischen Völker wurden von den christlichen Eroberern als heidnisch und primitiv abgelehnt. Die Indioswurden als „Wilde“ bezeichnet. Man zerstörte nicht nur ihre Kultur, sondern auch ihre Geschichte und Identität. Voraussetzung einer befreienden Pastoral ist daher die Wiederentdeckung der eigenen Würde, d.h. der eigenen Kultur und Geschichte. (*Mit Zustimmung der Betroffenen und von Bischof Dammert ist in diesen Texten von „Indios“ die Rede - aus Stolz auf die wiederentdeckte eigene Identität und um die Wirklichkeit nicht zu verschleiern).
Aufgabe der Kirche ist es, dieses Wiederentdecken der eigenen Identität mit allen Kräften zu fördern. Sie erfährt dabei selbst auch eine Bereicherung und Vertiefung ihres Glaubens (z.B. eine neue Sicht auf Natur und Gottes Schöpfung, auf Werte wie Gemeinschaft und Solidarität, auf die Deutung des Todes, der Feste und der Rolle des Menschen in der Gemeinschaft). Zu beachten ist freilich, dass auch der Inkastaat kein Paradies auf Erden war und nicht alle Europäer gewissenlose Eroberer waren und sind.

II. Beschreibung der Situation

Um den Menschen zu verstehen, seine Probleme, Ängste und Sehnsüchte, muss man wissen, wie er lebt. Die Verkündigung des Evangeliums muss ausgehen von der konkreten Lebenssituation des Menschen. Diese konkrete Lebenssituation in Lateinamerika bedeutet für die Mehrheit Hunger und Elend, Unterdrückung und Unfreiheit. Nicht von dieser Situation auszugehen hieße, den menschgewordenen Gott zu verleugnen, das Leben, das Leiden und den Tod des gekreuzigten Jesus zu verleugnen. Um zu verstehen, was Hunger bedeutet, genügt es nicht, Statistiken zu studieren. Voraussetzung für eine glaubwürdige Verkündigung ist das Mit-Leiden, das Miteinanderleben und das Sich-Solidarisieren. Solidarität und Liebe verlangen, dass ich in die Situation derer eintrete, mit denen ich mich solidarisiere.

III. Deuten der Situation

Es genügt nicht, die Situation zu beschreiben oder zu erleben, sondern es gilt, sie zu verändern. Denn im Lichte des Evangeliums wird die weltweit bestehende Situation als unvereinbar mit dem Willen erkannt, als „eine Sünde, die zum, Himmel schreit“ (Medellín 1968). Es sind nicht zuerst Naturgewalten oder blinde Schicksalsschläge, erst recht nicht Gott selbst, die den Menschen ins Elend stoßen. Ursache für das weltweite Elend der Menschen sind Menschen (oft auch getaufte Menschen), die immer mehr haben wollen, die sich selbst, ihre eigenen Ansprüche und Interessen zum absoluten Maßstab machen. Es sind auch nicht nur einzelne Diktatoren im fernen Lateinamerika oder nur das Versagen einzelner korrupter Regierungen, die für das Elend verantwortlich sind. Jeder von uns, auch die deutsche Kirche, profitiert von der äußerst ungerechten Verteilung der Güter dieser Erde – der Güter, die Gott für alle Menschen geschaffen hat.
Ist es Zufall, dass die (materiell) reichste Kirche der Welt sich gegen das, was in der lateinamerikanischen Kirche neu aufbricht, am heftigsten zur Wehr setzt (und die wohl auch daran ersticken wird)? Gleichzeitig weiß man in unserem Teil der Welt nicht, wohin mit dem Überfluss an Nahrungsmitteln und nahezu allen Gebrauchsgütern. Eine solche Perversität ist unvereinbar mit dem Kommen der Herrschaft Gottes.

IV. Aufgabe der Kirche

Wenn die Frohe Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft Kernstück der Botschaft Jesu ist, dann ist es auch die Hauptaufgabe der Kirche, die Herrschaft von Liebe und Gerechtigkeit zu verkünden und davon Zeugnis in der Welt abzulegen. Zuerst steht aber – wie bei Jesus – der Ruf zur Umkehr. Prophetische Aufgabe der Kirche ist es, den herrschenden Götzendienst, den Tanz um das Goldene Kalb, als das anzuklagen, was es ist: Abfall vom Heilsplan Gottes, Bruch mit Gott und somit Ursache der Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft. Folgen dieses Götzendienstes sind die drohende Zerstörung der Schöpfung Gottes (Natur und Umwelt, Gefahr eines atomaren Holocaust) und über 40 Millionen Hungerstote jährlich auf einer Erde, in der alle Menschen satt werden könnten. Zur Anklage kommt die Verkündigung und Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Die Kirche als Gemeinschaft aller Menschen, die an Jesus den Christus glauben und in seiner Nachfolge leben, verkündet den Anbruch der Gottesherrschaft durch ein lebendiges Zeugnis gelebter Geschwisterlichkeit, weltweiter Gerechtigkeit und Liebe.

V. Die Praxis der Kirche – eine Praxis der Befreiung

Dieses lebendige Zeugnis stellt sich im Kontext Lateinamerikas als ein Eintreten für die fundamentalen Rechte und die Würde des Menschen als Kind Gottes dar. Menschenwürdig leben heißt: ausreichend Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf, Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung, Ausbildung usw. Die biblische Botschaft wird so als eine befreiende Botschaft erfahren.
Ausgangspunkt ist die Begegnung mit dem lebendigen Christus, der als Mensch und Gott erfahren wird, der mitleidet, der sich solidarisiert - gerade mit den Ärmsten - der gekreuzigt wird und aufersteht. Dadurch wird der Teufelskreis von Egoismus, Habgier und Götzendienst gesprengt und jeder Mensch hat die Chance, ein neuer Mensch zu werden.

Diese Glaubenserfahrung ermächtigt die Indios (stellvertretend) gegen Ungerechtigkeiten und Verletzungen ihrer Würde aufzustehen, ja ihr Leben zu riskieren, gerade auch im Einsatz für den Mitmenschen. Sie erfahren am eigenen Leib Verfolgung, Verhaftung und Folterung, wie Jesus selbst, weil er sich gegen die „Mächte des Todes“ zur Wehr setzte. Aber gerade so entdecken sie Jesus den Christus, seine Worte und seine Taten, als Grund und Mitte ihres Lebens, als Brot des Lebens, ohne das sie verhungern. So werden sie selbst zum Brot des Lebens für andere, für ihre Gemeinschaft und für alle, die Hunger haben nach dem befreienden Gott und dem täglichen Brot.

VI. Unterwegs zu der "Einen Kirche" - der katholischen (weil allumfassenden) Kirche Jesu Christi

Und wir? Leben wir nicht in einer anderen Welt als die Indios? Von was sollen wir denn befreit werden, uns geht es doch gut? Nun, wir leben in der gleichen Welt und wir haben das gleiche Evangelium! Wir leben in einer Welt, in der sich Reichtum und Armut gegenseitig bedingen. Genau wie sich die Indios fragen, warum sie so arm sind, müssen wir uns fragen, warum wir so reich sind. Auch das Evangelium ist dasselbe. Aber wer ist Jesus für uns? Ist denn Jesus wirklich Fundament, Mitte und Ziel unseres Lebens, Brot des Lebens, ohne das wir verhungern? (In Gottesdiensten sagen wir das zwar sehr routiniert, aber in Wirklichkeit…?).

Haben wir nicht schon alles und wieso bedürfen wir der Befreiung (Erlösung)? Doch dies ist eine wahrhaft gottlose Frage. Vielmehr sollten wir uns fragen, welche Götter uns versklaven, welche Götzen wir anbeten, was uns daran hindert aufzubrechen, bisher Gewohntes aufzugeben und allein auf Gott zu vertrauen. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu sind dem Ruf Jesu gefolgt, ebenso viele Katechetinnen (u.a.) in Basisgemeinden der Diözese Cajamarca.
Es geht nicht zuerst um die Frage, was wir von der lateinamerikanischen Kirche übernehmen können und was nicht. Es geht vielmehr um die Frage, ob wir bereit sind umzukehren, uns ganz auf Jesus einzulassen, die Götzen von ihrem Thron zu stoßen und zusammen mit den von Jesus Seliggepriesenen am Reich Gottes mitzuarbeiten.

Info: Cajamarca ist eine Diözese in den Anden Nordperus mit etwa einer Million Katholiken und 18 aktiven Priestern (1982). Bambamarca ist eine Pfarrei mit etwa 100.000 Katholiken und flächenmäßig so groß wie die Schwäbische Alb (120 km Durchmesser). Die Stadt selbst hat 5.000 Einwohner. Auf dem Land leben ausschließlich Indios (Campesinos). Die durchschnittliche Höhenlage, knapp über 3.000 m, Regenzeit im Sommer (Oktober bis März) und Trockenzeit im Winter, gleichbleibende Temperaturen das ganze Jahr über (20°C durchschnittliche Tagestemperatur). Größter Industriebetrieb ist Nestlé mit acht fest angestellten Beschäftigten. Es wird u.a. Milchpulver für den Export hergestellt.
Nach 20-jähriger Pastoralarbeit und Evangelisierung (über 400 Jahre lang waren zwar alle getauft, hatten aber noch nie etwas vom Evangelium gehört) gibt es inzwischen in der Pfarrei Bambamarca etwa 200 einheimische Katecheten (Frauen und Männer – alle Campesinos). Sie sind ehrenamtlich auf Zeit als Gemeindeleiter/in, ausgewählt von der jeweiligen Indiogemeinschaft (Basisgemeinde), ausgebildet und von ihrem Bischof beauftragt. Zu ihren Aufgaben gehören die Spendung der Taufe, Leitung von Bußfeiern, Wortgottesdienste mit Kommunion und kirchliche Eheschließungen.

Beispieltexte zu den 40 Bildern (Dias)

Zu I. Kultur und Geschichte (1-8)    

2. Millionen Menschen produzierten vor 500 Jahren Nahrungsmittelüberschüsse im damaligen Peru. Aus Vorratsspeichern hatte die gesamte Bevölkerung selbst in Notzeiten ausreichende Nahrung. Witwen und Waisen, alte und kranke Menschen wurden mitversorgt und waren nie allein. Jeder hatte, was er zum Leben brauchte.

3. Hochentwickelte Bewässerungssysteme und Terrassenanlagen bildeten die Grundlage einer blühenden Landwirtschaft. Auf dem fruchtbaren Land wurde das angebaut, was man zum Essen brauchte (Kartoffel, Mais, Quinua usw.). Staat und Gesellschaft waren auf die Befriedigung der fundamentalen menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet.

4. An Aussaat und Ernte war die gesamte Indiogemeinschaft beteiligt. In rituellen Festen wurde die Fruchtbarkeit von Mutter Erde beschworen. Es gab keinen Privatbesitz. Es war völlig unbekannt, dass man Erde und Tiere, Wasser und Luft kaufen kann. Kann man denn seine Mutter verkaufen, die Mutter, die den Menschen hervorbringt und die die der Mensch zurückkehrt?

5. Die Europäer brachten den Untergang. Sie brachten auch eine neue Religion: den Glauben an das Gold und an die Käuflichkeit aller Dinge. Für die Indios war der Gott der Weißen ein blutrünstiger Tyrann. Und viele Indios glauben auch heute noch, dass man diesen Gott nur durch viele Opfer und Gebete besänftigen kann.

6. Von den 14 Millionen Indios lebten nach 150 Jahren Kontakt mit der christlich-abendländischen Zivilisation noch etwa 2 Millionen Indios. Europa erlebte in der gleichen Zeit einen ungeheuerlichen Aufstieg. Der Reichtum und die Entwicklung Europas in der Neuzeit haben mit ihren Ursprung in den Gräbern der Indios (und Afrikaner, Asiaten…).

7. Und bis heute produziert unser Wohlstand immer mehr Gräber – so viele, dass sie aneinandergereiht (Hungerstote pro Jahr) die ganze Erde umfassen würden. Die Hälfte aller Peruaner sind heute Indios. In ihrem eigenen Land leben sie wie Fremde, ja Aussätzige. Man hat ihnen alles genommen: ihr Land, ihre Religion, ihre Kultur, ihre Geschichte, ihren Glauben an sich selbst. …

II. Beschreibung der Situation (9-14)

14. Das Wort „Indio“ ist heute ein Schimpfwort. Die Indios heißen heute offiziell „Campesinos“ (Landbewohner). Manche von ihnen haben die jahrhundelange Knechtschaft so verinnerlicht, dass sie glauben, weniger wert zu sein als ein Pferd oder eine Kuh. Ein deutscher Botschaftsangehöriger sagte 1978: „Das größte Problem Perus ist die Tatsache, dass es immer noch zu viele Indios gibt“.

Zu III. Deuten der Situation (15-22)

15. Die bestehende Weltordnung basiert auf dem Recht des Stärkeren und der absoluten Vorherrschaft des Kapitals. Der wirtschaftliche Kreislauf wird allein von den Interessen der reichen Länder bestimmt. Er führt zu noch mehr Reichtum in den reichen Ländern und damit zu einer weiteren Verarmung in den armen Ländern. Die Armen dieser Welt werden mit Coca-Cola, Fastfood, Quarzuhren und Kassettenrecorder ruhiggestellt.

16. Aus unserer Sicht sieht das so aus: Wir schaffen uns neue Absatzmärkte, sichern uns wichtige Rohstoffe, erhalten unsere Arbeitsplätze, vermehren unseren Wohlstand, verteidigen dadurch unsere bürgerlichen Freiheiten und den freien Welthandel und sind bereit, für die Erhaltung dieser Ordnung Gottes Schöpfung als Ganzes aufs Spiel zu setzen.

17. Für Peru bedeutet dies (u.a.): Ein Volk, das hungert, pflanzt in den fruchtbarsten Gebieten Baumwolle und Kaffee, Bananen und Futtermittel für unsere Schweine an. Der Staat braucht Devisen für die Rückzahlung der Zinsen, für den Import von Satelliten - TV und zum Kauf von vielen Waffen, um sich vor dem eigenen Volk zu schützen.

18. Dieses System der Unterdrückung reproduziert sich in jedem Land bis ins letzte Dorf. Je abgelegener die Indios leben, desto besser und selbstbewusster leben sie (noch). Die einheimischen Oberschichten sind meist willige Marionetten und werden dafür mit Cadillacs und Panzern, Chanel 5 und Pornos belohnt.

20. „Es herrscht eine Situation der Sünde, die zum Himmel schreit“ (Lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellín, 1968). Diese wird mit Gewalt aufrechterhalten. Die Ursünde der Menschen ist: Sich selbst zum Gott (Maßstab) erheben bzw. sich seine eigenen Götter schaffen. Das Nein zu Gott, der unser Heil will, führt zum Brudermord. Die bestehende Situation ist die geschichtliche Ausfaltung dieser „Tod-Sünde“. Sie wird sogar zum – alternativlosen - Grundprinzip unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens erklärt.

IV. Aufgabe der Kirche (23-28)

23. Diese Welt hört nicht auf die Propheten, die Stimme Gottes und den Schrei der Unterdrückten. Denn sie gelten als Atheisten den herrschenden Götzen gegenüber und werden verfolgt oder vermarktet. Denn sie verkünden das Ende der bestehenden Herrschaften und verkünden stattdessen das Kommen einer neuen Gerechtigkeit. Und die vorkonziliare Kirche, hier vertreten durch die Dominikanerinnen, verbleiben im Bund mit den Mächtigen, den "Fürsten dieser Welt".

24. So wurde auch Jesus getötet und er wird noch heute millionenfach gekreuzigt in den Opfern der bestehenden Weltordnung. Jesus ist gestorben, damit alle Menschen ein „Leben in Fülle“ haben. Diese Fülle des Lebens wird der Mehrheit der Menschen heute vorenthalten oder gar geraubt.

25. Wie die Propheten und in der Nachfolge Jesu Christi erhebt die Gemeinde Jesu Christi heute ihre Stimme und klagt an: Der Tanz um das Goldene Kalb tötet nicht nur schon jetzt unzählige Menschen, sondern gefährdet auch das Überleben der gesamten Menschheit, weil die Grundlagen für ein zukünftiges "Leben in Würde" auf dem Altar des Profits geopfert werden. Und zugleich verkündet sie einen neuen Himmel und eine neue Erde als Heimat aller Menschen.

27. Das Kommen der Herrschaft Gottes, Kernstück der Verkündigung Jesu, steht in totalem Widerspruch zu dieser real existierenden Welt. Sie ist ein Zustand, wo Liebe und Gerechtigkeit die obersten Maßstäbe sind. Dieser Zustand hat mit Jesus begonnen; an uns liegt es, ihn auszubauen in der Gewissheit, dass Gott uns dies alles schenken wird. Zeichen dieser neuen Gemeinschaft ist das Brotteilen, d.h. all dessen, was der Mensch zu einem Leben in Würde braucht. Wo dies geschieht, ist Jesus als Christus präsent.

28. Glaube an Jesus Christus heißt, Jesus nachzufolgen. Es bedeutet, vom Tod (Egoismus mit all seinen Folgen) über das Kreuz zum Leben überzugehen. Zum Leben überzugehen heißt aufzustehen, den anderen Schwester und Bruder werden – vor allem denen, die unter die Räuber gefallen sind. Leben heißt lieben. Die Kirche Jesu Christi ist Zeuge dieser Liebe, dieser Befreiung, dieses neuen Lebens – oder sie ist nicht die Kirche Jesu Christi, sondern des Mammons.

V. Die Praxis der Kirche – eine Praxis der Befreiung (29-34)

29. Im gemeinsamen Kennenlernen der Bibel entdecken die Indios einen Gott, der auf ihrer Seite steht und der sie in die Befreiung ruft. Sie entdecken und erfahren sich als Kinder Gottes, deren Würde und Rechte aber mit Füßen getreten werden. Sie lernen die Ursachen der Unterdrückung kennen.

30. Geburt, Leben und Tod Jesu Christi haben eine reale Beziehung zu ihrem eigenen Leben. Sie übertragen die Bibel direkt auf ihr Leben. Tod und Auferstehung Jesu sind für sie unmittelbar erfahrbar. Gott selbst macht sich mit ihnen auf den Weg und deswegen führt ihr Weg auch zum Ziel.

33. Das neue Selbstverständnis der bisher ausgeschlossenen Indios führt zu Konflikten mit denen, die bisher von der Armut und Verdummung der Indios gut gelebt haben. Campesinos werden denunziert eingesperrt, misshandelt und getötet. So kommt zu der strukturellen Gewalt (Elend, Unterdrückung) eine zweite Gewalt dazu (Gefängnis, Folter, Mord). Allein durch diese letztere Gewalt kamen 1982 in Peru 8.000 Menschen ums Leben. In Bambamarca wurden Katecheten, Mitglieder der Genossenschaft und Leiterinnen von Mütterklubs (u.a.) verhaftet und ins Gefängnis geworfen.

VI. Unterwegs zu der "Einen Kirche" - der katholischen (weil allumfassenden) Kirche Jesu Christi

36. „Ich kann nicht den Leib und das Blut Christi empfangen, wenn ich nicht gleichzeitig solidarisch werde mit seinen bevorzugten Brüdern, den Armen. Ich kann nicht das Brot des Herrn empfangen, wenn ich nicht selbst zum Brot und zur Verheißung werde für die Armen.“ (Pater Kolvenbach, Jesuitengeneral, 1980). Brot für andere werden heißt Gerechtigkeit schaffen.

37. Die Armen sind unsere Hoffnung. Ihr Ruf nach Brot und Gerechtigkeit ist das Wort des gekreuzigten Gottes an uns Eingeschlossene. Sich öffnen und Hören wäre der erste Schritt zur Bekehrung. Sind wir fähig und bereit zu hören, zu lernen, uns in Frage stellen zu lassen, aufzubrechen, ohne Absicherungen, nur im Vertrauen auf Gott – oder was hindert uns daran?

40. „Um des Gekreuzigten Willen beschwöre ich Euch: Lasst den Herrn in den Not leidenden Brüdern nicht vergeblich rufen. Sonst entfernt das Kreuz von allen Wänden, holt es von allen Türmen; denn es ruft das Gericht über ein Land, das sich christlich nennt und stattdessen das Gesetz der Selbstsucht erfüllt.“ (Kardinal Döpfner, 1963, München)

Der komplette Artikel (mit Dias): Kirche der Befreiung


17. Dez.: Hunger nach Gerechtigkeit (1987)

Vorbemerkung: Bischof Georg Moser war erkrankt. Im Mittelpunkt der Misereoraktion standen Peru und Bolivien. Ich hatte schon öfters mit Misereor zusammengearbeitet, ebenso war ich in der Diözese wegen vieler Vorträge, Seminare und auch meiner Ausstellung und Diareihe „Kirche der Befreiung“ bekannt. Darum bat man mich die Predigt zu übernehmen, entsprechend dem Thema der Fastenaktion von 1987: „Hunger nach Gerechtigkeit“.

- Im Anschluss das Grußwort von Bischof Moser und sein Dankesbrief an mich -

Predigt aus Anlass der zentralen Eröffnung der MISEREOR - FASTENAKTION der Diözese Rottenburg - Stuttgart in Wasseralfingen am 8. März 1987:

Liebe Gemeinde: Wir feiern zusammen die Eucharistie. Wir gedenken des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. Wir sagen Dank dafür, dass Jesus uns durch seine Hingabe ein neues Leben ermöglicht und uns den Weg zeigt. Wir nehmen in dieser Feier die endgültige Gemeinschaft aller Menschen untereinander und mit Gott vorweg. Das ist unser Ziel, unsere Berufung. Das biblische Bild dazu: Hochzeitsmahl, Tischgemeinschaft mit denen, denen ansonsten der Zugang zum Tisch und damit zum Brot des Lebens verwehrt wird. Dies ist das zentrale Sakrament unseres Glaubens. Kennzeichen dieser Tischgemeinschaft ist das Miteinanderteilen von Brot und Wein, d.h. all dessen, was wir zum Leben brauchen. Die Jünger von Emmaus erkennen den auferweckten Christus erst, als er mit ihnen das Brot teilt. In einer Gemeinde, in der das geschieht, ist der lebendige Christus gegenwärtig, es ist Auferstehung spürbar, neues Leben.

Die Gemeinde Jesu Christi sind aber nicht nur wir, die wir hier versammelt sind. Die Gemeinde Jesu Christi ist die Gemeinschaft aller Menschen, die an Jesus den Christus glauben. Alle Menschen sind zum Tisch des Herrn, zur Hochzeitsfeier geladen. Wir können hier nur Eucharistie feiern, wenn wir das im Namen der gesamten Kirche, der Gemeinschaft aller Gläubigen in aller Welt tun. Wir leben aber in einer Welt, in der 1/8 der Menschheit 7/8 aller irdischen Güter für sich allein verbraucht - ja diese sogar mit Gewalt an sich reißt. Wir leben gleichzeitig in einer Welt, in der alle Güter für alle Menschen bei weitem ausreichen würden.

Was heißt nun Eucharistie feiern? Wie können wir uns gemeinsam mit denen an einen Tisch setzen, für die noch nicht einmal die Brosamen übrigbleiben, die von unserem überreich gedeckten Tisch fallen? Wir können nicht miteinander Eucharistie feiern, während oder falls wir gleichzeitig bemüht sind, unseren schon üppig gedeckten Tisch noch üppiger zu decken – und dafür in Kauf nehmen, dass immer mehr Menschen verhungern. Christlicher Glaube zeigt sich darin, dass wir im Namen Gottes und in der Nachfolge Jesu das Brot, die Früchte der Erde, unser Leben miteinander teilen. Das bedeutet Umkehr, sich auf den Weg machen, auf ein Ziel hin zu arbeiten, das Jesus das Reich Gottes nennt - einen Zustand, wo allein Liebe und Gerechtigkeit herrschen. Und dies ist keine Utopie! Dies nicht für möglich zu halten hieße, dass Jesus umsonst gestorben ist und dass Gottes Schöpfung in einer Katastrophe endet. „Gemeinsam den Weg der Hoffnung gehen“, das war das Thema der letztjährigen Fastenaktion. „Hunger nach Gerechtigkeit“ heißt das Thema der diesjährigen Fastenaktion. Beide Themen beinhalten eine Grundaussage der Bibel, AT und NT: Wir machen uns mit Gott auf den Weg, weil wir die Herrschaft Gottes herbeisehnen. Im Hunger nach Gerechtigkeit drückt sich die Sehnsucht nach dem Reich Gottes aus, das mit Jesus bereits begonnen hat.

…. Seit ich wieder in Deutschland bin und im Vergleich mit den Campesinos sehe ich hier - und gerade auch in der Kirche - mehr Ängste als Hoffnung. Sicher auch Hoffnung: Hoffnung auf einen weiterhin guten Pastoralservice, dass wir unseren Pfarrer behalten; Hoffnung, dass die Kirchensteuer wegen der Steuerreform nicht allzu sehr abnimmt; Hoffnung, dass die Orgel noch lange hält…! Natürlich auch Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit. Doch welchen Frieden und welche Gerechtigkeit meinen wir? Einen Frieden durch Stärke statt durch Ohnmacht und eine Gerechtigkeit, die uns nichts kostet und uns möglichst nicht weh tut?

….. Wer ist Jesus für uns? Ist Jesus wirklich Fundament, Mitte und Ziel unseres Lebens, Brot des Lebens, ohne das wir verhungern? Seit ich wieder in Deutschland bin und im Vergleich mit den Campesinos sehe ich hier - und gerade auch in der Kirche - mehr Ängste als Hoffnung. Sicher auch Hoffnung: Hoffnung auf einen weiterhin guten Pastoralservice, dass wir unseren Pfarrer behalten; Hoffnung, dass die Kirchensteuer wegen der Steuerreform nicht allzu sehr abnimmt; Hoffnung, dass die Orgel noch lange hält…! Natürlich auch Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit. Doch welchen Frieden und welche Gerechtigkeit meinen wir? Einen Frieden durch Stärke statt durch Ohnmacht und eine Gerechtigkeit, die uns nichts kostet und uns möglichst nicht weh tut?

Was bedeutet Jesus für uns? So lautete die Frage. Haben wir nicht schon alles, was wir zum Leben brauchen? Wozu brauchen wir also noch Gott, wozu noch Jesus? Ist der Glaube oft nicht etwas, das halt dazu gehört, so eine Art Folklore, wo es uns warm ums Herz wird? Vertrauen wir im Grunde aber nicht eher uns selbst, sichern uns ab, schaffen uns unsere eigenen Götter (Sicherheit, materieller Wohlstand, Fortschritt, Wirtschaftswachstum) und erwarten dann davon unser Heil? Und letzte Sicherheit verschaffen wir uns im Notfall durch immer mehr Atomraketen? Und wir vergessen dabei: Allein Gott schenkt uns Sicherheit und Erfüllung! Er schenkt sie uns sogar - wir müssen nur die Hände aufmachen, statt krampfhaft, die Hände zu einer Faust geballt, unnütze Dinge festhalten zu wollen. Würden wir denn wirklich ärmer, wenn wir bestimmte Dinge loslassen und Gott mehr vertrauen würden?

Stattdessen meinen wir, auch als deutsche Kirche insgesamt, wir könnten zwei Herren gleichzeitig dienen. Jesus sagt aber, wir können nicht zwei Herren gleichzeitig dienen:

-        Wir können nicht unser Heil von Gott erwarten und gleichzeitig unser Leben darauf verschwenden, uns selbst absichern zu wollen und unser Heil selbst zu schaffen.

-        Wir können nicht die vollen Fleischtöpfe im reichen Ägypten haben wollen und gleichzeitig in das Gelobte Land aufbrechen wollen.

-        Wir können nicht um das Goldene Kalb tanzen und gleichzeitig an den Gott glauben, der dieses Goldene Kalb voller Zorn zerschmetterte.

-        Wir können nicht gleichzeitig an einer Wirtschaftsordnung festhalten wollen und davon profitieren, die zumindest mitschuldig ist am Tod von 50 Millionen Hungerstoten im Jahr und gleichzeitig an den Jesus glauben, der sich mit den Opfern dieser Weltordnung solidarisiert und der in ihnen weiterhin millionenfach gekreuzigt wird. Eine Kirche, in der die einen auf Kosten der anderen leben, kann nicht die Kirche Jesu Christ sein.

Die Indios im Andenhochland haben sich auf den Weg gemacht. Sie wissen, dass es ein gefahrvoller Weg ist, voller Entbehrungen und Verirrungen - ein Weg durch die Wüste. Für die Indios kann das konkret heißen: Verfolgungen, Gefängnis, Folter, Tod. Trotzdem brechen sie auf. Sie vertrauen den Verheißungen Gottes über alles Leid hinweg. Nur auf diesem Weg durch die Wüste ist Gott erfahrbar. Und was heißt das für uns? Wir dürfen auf jeden Fall nicht meinen, wir könnten quasi im voll akklimatisierten Luxuszug die Wüste durchrasen, auf Gleisen, die wir auch noch selbst gelegt haben. In diesem Luxuszug, von dem wir auf die Wüste sehen wie Touristen durch getönte und voll isolierende Fenster, werden wir den Ruf Gottes und des wandernden Volkes Gottes nicht hören können - diese Gleise führen in den Abgrund.

Vielmehr müssen wir uns fragen, welche Götter uns versklaven, welche Götzen wir in Wahrheit anbeten, was uns daran hindert, aufzubrechen, dem Ruf Gottes zu folgen und alles hinter uns zu lassen. Oder meinen wir gar schon am Ziel zu sein - im Gelobten Land? Liegt unser Problem - und das ist gerade vielleicht unser Elend - nicht darin, dass wir vielleicht gar nicht wissen, wohin oder gar warum wir uns auf den Weg machen sollen? Kommen wir denn nicht quasi schon als „Bekehrte“ (weil getauft) zur Welt, wozu also umkehren? Und sind wir nicht mehr oder weniger gute Kirchgänger und Kirchensteuerzahler, sind wir nicht Teil einer Kirche, die als Heilsinstitution ihren Mitgliedern das Heil garantiert?

… Die Botschaft Jesu ist für die Armen eine Frohe Botschaft, für uns Reiche ist sie ein Ruf zur Umkehr. Ohne Umkehr geht es nicht und für Reiche ist es sehr schwer umzukehren…! Uns trennt viel mehr von Gott als die Armen. Mögen uns auch nicht Verfolgung und Folter drohen wie den Indios, wir laufen aber Gefahr, unserer Berufung nicht gerecht zu werden.

Die unterdrückten und verachteten Indios wissen um den Ursprung und das Ziel ihres Aufbruchs. Sich mit ihnen auf den Weg machen heißt, den Kern der Botschaft Jesu, ja Jesus als Christus und Heiland unseres Lebens neu zu entdecken. Es heißt vor allem auch, lernen zu hören. Könnte es nicht sein, dass Gott heute nicht anders erfahrbar ist als im Hinhören auf die, denen die „Fülle des Lebens“ geraubt bzw. vorenthalten wird? Ist vielleicht ihr Schrei nach Gerechtigkeit und Brot, das Wort Gottes ans uns, hier und heute?

Es sind die Armen und Elenden dieser Welt, die uns den Weg zeigen, weil in ihnen die Liebe und die Fürsorge Gottes für die Menschen offenbar wird. Sich mit ihnen auf den Weg machen dürfen heißt, unsere Hoffnungslosigkeit, unser Leben im Golden Käfig, zurückzulassen und sich ohne Angst und voller Vertrauen der Führung Gottes anzuvertrauen. Das Evangelium wird auch für uns alle zu einer frohen und befreienden Botschaft, wenn wir Jesus den Christus immer wieder neu als Herrn unseres Lebens entdecken. Wenn wir entdecken, dass wir in erster Linie mehr Liebe und Gemeinschaft brauchen, Tag für Tag, wenn wir entdecken, dass wir Gefahr laufen zu verhungern aus Mangel an Liebe, Gemeinschaft, Anerkennung, dann werden wir offen für Gott werden und für alle, mit denen er lebt, leidet und aufersteht.

Wir sind doch alle hier versammelt, weil wir an den gleichen Jesus Christus glauben. Wo denn sonst, wenn nicht hier unter uns, wo doch Jesus mitten unter uns ist, könnten wir all das entdecken und finden, was wir suchen? Bekennen wir, dass nicht Steine, Gold und Geld unseren Hunger zu stillen vermögen, sondern allein Jesus Christus. Er ist hier unter uns, wenn wir das Brot und den Wein, die Gaben dieser Erde miteinander teilen, wenn wir die arm gemachten Menschen dabei nicht draußen lassen, sondern ihnen den Ehrenplatz einräumen, den ihnen Jesus gegeben hat. Wir haben nichts zu verlieren. Wir laufen höchstens Gefahr, nicht mehr die Lieblinge einer satten Nation zu sein, sondern die Lieblinge Gottes.

Wir feiern jetzt zusammen die Eucharistie. Ich bitte sie, diese Eucharistiefeier nicht an den Kirchenmauern enden zu lassen und ich bitte darum, dass wir gemeinsam die Kraft haben, unterwegs nicht zu verzagen, der Sehnsucht nach den vollen Fleischtöpfen zu widerstehen und uns gegenseitig zu stärken auf dem Weg durch die Wüste in das Land, das Gott allen Menschen verheißen hat. Gehen wir gemeinsam den Weg der Hoffnung. Gott wird uns begleiten und führen und er wird unseren Hunger stillen!

Dank des Bischofs: Sehr geehrter, lieber Herr Knecht, Rottenburg, 14. 04. 1987

„Hunger nach Gerechtigkeit“ - dieses Wort der diesjährigen Misereor - Aktion begleitete uns während der ganzen Fastenzeit. Es hat uns aufmerksam gemacht auf die ungerecht verteilten Lebenschancen und das ungeheure Verschuldungsproblem der Dritten-Welt-Länder. Sich zur Gerechtigkeit hin bekehren zu lassen und konkret dafür einzustehen gehören zum Wesen christlicher Buße, Umkehr und Existenz überhaupt. „Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Am 5,24f)! So darf ich Ihnen danken für Ihre Predigt, die Sie in Wasseralfingen anlässlich der MISEREOR - Fastenaktion 1987 gehalten haben und die Sie mir zugeschickt hatten. Durch Ihre persönlichen Begegnungen und Erfahrungen können Sie aus tiefer Betroffenheit heraus ansprechen und überzeugen.

Mit besten Wünschen für ein gesegnetes Osterfest, Ihr Georg Moser, Bischof

Der komplette Artikel: Hunger nach Gerechtigkeit (Predigt zur Eröffnung der diöz. Misereor-Fastenaktion 1987)


18. Dez.: Buen vivir – Gut leben

„Buen Vivir“ wird zunehmend als mögliche Alternative für das von Europa ausgehende „liberale“ Wirtschaftsmodell diskutiert. Leider werden in der aktuellen Diskussion um „Buen vivir“ die tieferen Zusammenhänge (kulturell, phil.- theol.) kaum verstanden oder willkürlich benutzt. Die spirituellen Grundlagen der andinen Weltsicht, wie auch anderer Jahrtausende alter Kulturen, können Auswege aus der Sackgasse aufzeigen, in die uns das „christliche Abendland“ weltweit geführt hat. Neue, bzw. vergessene Auffassungen vom Leben, eine völlig andere Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens und des Umgangs mit der Natur sind gefragt. Die Vision „Buen vivir“ beruht auf der „Cosmovisión andina“, der Weltschau der Andenvölker (Ekuador, Peru, Bolivien). „Buen vivir“ ist bedeutet daher etwas völlig anderes als Wachstum und Entwicklung, wie sie in der westlichen Welt verstanden werden.

Abendländische Kosmovision …

Papst Franziskus: „Warum schauen wir dann immer noch zu, wie menschenwürdige Arbeit beseitigt, so viele Familien aus ihren Häusern vertrieben, Campesinos ihrer Ländereien beraubt, Kriege geführt werden und die Natur misshandelt wird? Weil man in diesem System den Menschen, die menschliche Person, aus der Mitte gerückt und sie durch etwas anderes ersetzt hat. Weil man das Geld wie einen Gott kultisch verehrt. Weil man die Gleichgültigkeit globalisiert hat! Die Welt hat Gott vergessen, unseren Vater. Sie ist wieder eine Waise geworden, weil sie Gott beiseitegeschoben hat.“ (Ansprache an das Treffen der Volksbewegungen, 28. 10. 2014)

Europäischer Philosophie und Theologie fällt es nicht leicht, nichteuropäische Entwürfe als gleichwertig anzusehen oder gar von ihnen zu lernen. Die räumlich und zeitlich begrenzten Erfahrungen bestimmter Menschen in einer bestimmten Gegend dieser Welt können aber nicht für alle Welt verbindlich gemacht werden. So haben z.B. bestimmte Voraussetzungen der abendländischen Geistesgeschichte wie die Trennung von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Diesseits (irdisch) und Jenseits (überirdisch), heilig und profan etc. für die Menschen der Anden keine Bedeutung und erscheinen gar als unsinnig, weil sie den Jahrtausende alten Erfahrungen dieser Menschen widersprechen. In der Geschichte Europas erwiesen sich aber diese „Trennungen“ in seiner Wirkungsgeschichte als verheerend. Dies zeigt sich nicht nur bis heute in der Trennung von Pastoral, für die unverheiratete „Geistliche“ zuständig sind und Sozial, für die „weltliche“ und verheiratete Laien zuständig sind, von Diesseits und Jenseits etc. Dies zeigt sich vor allem in der Abwertung des „irdischen“ Menschen mit allen seinen konkreten Bedürfnissen wie z.B. Sexualität, Hunger und Unterdrückung, des konkreten Menschen mit seinem Leiden und seinen Sehnsüchten.

Dieses (feindliche) Gegenüber von Mensch und Natur ist ein „Alleinstellungsmerkmal“, ein weltgeschichtlicher Sonderweg, im Vergleich aller großen Kulturen und Weltreligionen. Dieser Sonderweg zeigt sich u.a. auch im davon abgeleiteten römischen Rechtssystem, in dem das Recht auf Privateigentum und dessen ungehemmter Vermehrung zur obersten Norm des Zusammenlebens und des weltweiten Handels und Wirtschaften geworden ist. Unser aktuelles Rechtssystem ist davon bis heute sehr stark geprägt (siehe u.a. die Diskussion um Freihandelsabkommen). Dagegen steht die andine Kosmovision: Wie kann man denn Erde und Wasser kaufen? Kann man denn seine Mutter verkaufen, die Mutter, die den Menschen hervorbringt und in die der Mensch zurückkehrt?

… und andine Kosmovision (Buen vivir)

Der wichtigste Aspekt in der andinen Kosmovision ist das Prinzip der Relationalität, der Erfahrung und Gewissheit, dass alles Existierende miteinander in einer Beziehung steht. Die Beziehung ist die Basis für alles und das Gegenteil für die Beziehung ist das Nichts und nicht etwa das „Absolute“, das aus sich selbst heraus existieren könnte. Eine solche Weltsicht hat konkrete Folgen für die Auffassung von der Natur, vom Menschen und von Gott. Der gesamte Kosmos ist nichts anderes als Beziehung. Es gibt grundsätzlich keine sich gegenseitig ausschließende Gegensätze, es gibt weder „das Böse“ noch „das Gute“, auch nicht „der Mensch an sich“. Es gibt keine absoluten Wahrheiten und nie ist etwas völlig falsch. Im alltäglichen Leben zeigt sich dies z.B. darin, dass ein Campesino nie strikt Nein sagt oder etwas völlig ablehnt. Eine strikte Verneinung bedeutet nämlich nichts anderes, als dass zu dem Verneinten keine Beziehung mehr möglich ist, was aber nicht sein kann. Es gibt nichts, was aus dem Netz der allgemeinen Verbundenheit herausfallen könnte.

Die Knotenpunkte in diesem Netz sind die Chakanas. Sie gleichen Brücken, sie vermitteln und setzen die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit miteinander in Beziehung. Der Mensch ist in diesem Geflecht keine unverzichtbare, aber eine sehr wichtige Chakana. In ihm berühren und kreuzen sich verschiedene Bereiche der Wirklichkeit und er hat die Fähigkeit, mit allen Bereichen der Wirklichkeit Kontakt aufzunehmen. Jeder Mensch hat seinen ganz bestimmten Ort im kosmischen Geflecht und seine größte Aufgabe ist, diesen Ort so gut auszufüllen, dass er zu einer beständigen Brücke für andere und zu anderen wird. Gelingt ihm dies, gilt er als ein weiser Mensch und er hat Autorität. Aus dieser Verflechtung oder Beziehung zu allem Seienden ergibt sich, dass ihm das Seiende in allen seinen Erscheinungsformen nicht als etwas Fremdes gegenübertritt. Die Natur ist ihm nicht wesensfremd. Die Natur kann auch nicht zum Objekt und zur Beute des „überlegenen“ Menschen werden, sondern der Mensch wird zum Diener seiner Mutter, der Erde, der Pachamama. Je besser er diese Funktion ausfüllt, desto harmonischer lebt er in seiner Umwelt. Es ist für ihn selbstverständlich, dass er existenziell von der Natur abhängig ist - und entsprechend behandelt er sie.

Die Natur als Ganzes ist ein lebendiger Organismus und der Mensch hat die Aufgabe, diesen Organismus nicht nur am Leben zu erhalten, sondern er ist auch für die Harmonie zwischen allen Bereichen verantwortlich. Das Kultivieren der Harmonie ist eine kultische Aufgabe, in christlicher Ausdrucksweise: es ist Gottesdienst. Leidet Pachamama, die Mutter Erde, leidet der Mensch und leidet der Mensch oder die Beziehung der Menschen untereinander, dann leidet der ganze Kosmos. Bringt der Mensch die Harmonie durcheinander, dann können große Katastrophen und individuelle Krankheiten die Folge sein. Kommt es zu Störungen im Gleichgewicht der Natur, dann hat der Mensch als Chakana die heilige Aufgabe, durch symbolische Handlungen im Rahmen einer Feier das Gleichgewicht wiederherzustellen. In der Feier und durch die Feier kann die aus den Fugen geratene Schöpfung oder Gemeinschaft wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. In dieser Aufgabe liegt die eigentliche Bedeutung des Menschen innerhalb der kosmischen Ordnung.

Ein Mensch ohne Beziehung ist tot. Die Gemeinschaft ist seine Lebensgrundlage und die oben erwähnten Aufgaben kann er nur innerhalb und mit der Gemeinschaft erfüllen. Die Gemeinschaft ist das eigentliche Subjekt, die Beziehung ist der Ursprung von allem. Die Beziehung verleiht dem Menschen seine Identität. Das Fundament der Identität ist die „Comunidad campesina“, die Einheit der (meist bäuerlichen) Gemeinschaft. Wer sich aus dieser Einheit ausklingt, schadet der Gemeinschaft und setzt gar deren Überleben aufs Spiel. Charakteristisches Zeichen dieser Zusammenarbeit ist die Minga. Die Minga ist die gemeinsame Arbeit zugunsten der Gemeinschaft aller. Eine harmonische Gemeinschaft ist das Abbild der kosmischen Harmonie und der Gemeinschaft mit Gott bzw. den göttlichen Mächten.

Reziprozität als weitere Grundlage andiner Kultur und Religion

Seit Jahrtausenden und über verschiedene Kulturepochen hinweg existiert in den Anden das Prinzip der Reziprozität, des wechselseitigen Gebens und Nehmens. Austausch und Verteilung der Produkte auf der Basis einer freien Übereinkunft nach den Regeln von Angebot und Nachfrage – das war auch die Basis der andinen Wirtschaft. Allerdings war bei einem Ausfall der Ernte und generell in Notzeiten der Austausch sozialisiert, d.h. sozial verträglich. Im Interesse der Gesamtheit und im Einklang mit den natürlichen und göttlichen Kräften mussten Notleidende, die unverschuldet keinen entsprechenden Gegenwert leisten konnten, dennoch mit Gütern versorgt werden. Solche Gaben an Notleidende hatten denselben Stellenwert wie die Gaben an die Mutter Erde. Die Mitversorgung eines Waisenkindes war genauso notwendig wie der Dank an die Mutter Erde, deren Güter schließlich allen Menschen zur Verfügung stehen sollten. Auf dieser Basis konnte weder eine Comunidad noch eine Großfamilie oder ein Einzelner in den Ruin getrieben werden. Es gab keine Insolvenz. Weil jeder lebendiger Bestandteil eines kreativen Netzwerkes war, konnte auch jeder - auch die alte Witwe und das Waisenkind - etwas beitragen und einbringen. Unter einem Totalausfall (z.B. Hungerstod) hätte die gesamte Gemeinschaft, ja sogar der ganze Kosmos gelitten. Schon allein deswegen war es undenkbar, ein Mitglied der Gemeinschaft dem Hungertod zu überlassen 

„Andine Theologie“ – Christliche Theologie

Jede Tätigkeit des Menschen hat automatisch eine sakrale Dimension. Wenn z.B. ein Campesino die Erde bearbeitet, dann steht er mit Gott und allen göttlichen Mächten des Universums in einer unmittelbaren Beziehung. Die Erde ist für ihn nicht nur eine Mutter, sie ist zugleich das Symbol des gesamten Universums und über seine Arbeit steht er mit dem gesamten Universum und damit auch mit allen Menschen in Beziehung. Schließlich bezieht er seine eigene Identität aus der Erfahrung, Teil eines sinnvollen und Sinn stiftenden Ganzen zu sein. Es gibt keine Trennung von profan und sakral, weltlich und überweltlich - und im christlichen Sinne von sozial und pastoral, Körper und Seele.

In der andinen Kosmovision ist die christliche Vorstellung der „Fleischwerdung Gottes“ (Inkarnation) sehr nahe liegend: Himmel und Erde werden eins, Gott wird Mensch, und der Mensch hat dadurch Teilhabe am Göttlichen. Der leidende und mitfeiernde Gott ist für den andinen Menschen eine Realität, die im Alltag und jeden Tag neu erfahren wird. Gott ist immer jemand (im bereits christianisierten Verständnis von Gott als Person), der mitleidet, mitfeiert und dem das Schicksal der Welt und des Menschen gar nicht gleichgültig sein kann. Denn wenn der Mensch leidet, leidet auch Gott.

Jesus wird zur Chakana (Brücke) schlechthin, er ist die sichtbar reale Verbindung zwischen allem Seienden, zwischen Gott und Mensch und in ihm wird deutlich, was die göttliche Ordnung ist und welche Rolle oder Standort der Mensch innerhalb dieser Ordnung einnimmt bzw. was seine Berufung und Mission ist. Auch von der andinen Kosmovision her lässt sich sagen: Jesus ist das Bild Gottes für den Menschen, als Mensch repräsentiert er Gott und Gott zeigt durch ihn, wie sein Verhältnis, seine Beziehung, zu den Menschen ist. Durch Jesus zeigt Gott den Menschen, dass er der Garant einer guten und gerechten Ordnung ist. Er garantiert, dass das Gleichgewicht und die Harmonie immer wieder neu hergestellt werden kann und dass damit die von Gott gewollte Gerechtigkeit garantiert wird: Gerechter Austausch, Brot teilen am Tisch der Gemeinschaft und Teilhabe an allen Gütern der Mutter Erde.

Die Minga

Ausgehend von den Bedürfnissen der Campesinos hat eine Kirche der Armen - eine "Kirche mit Poncho und Sombrero“ - versucht, wirtschaftliche Notwendigkeiten, Restbestände einer uralten Kultur und die Botschaft des Evangeliums zu verknüpfen. Dies war der Ausgangspunkt für eine befreiende Evangelisierung, deren Ziel es ist, gemeinsam einen Weg zu finden, einen Weg zur Überwindung materieller Not und deren Ursachen, einen Weg, der zu mehr Menschsein und dem verheißenen „Leben in Fülle“ führt, vor allem für die Menschen, denen diese Fülle vorenthalten oder geraubt wurde. Die Entdeckung der eigenen Würde, als Kind Gottes, war der Schlüssel für eine nun frei machende Evangelisierung in der Folge des Konzils - aus der Perspektive der Campesinos.

Die Entdeckung der Werte der alten und ehemals eigenen Kultur ist für das Selbstbewusstsein der heute lebenden Campesinos von großer Bedeutung. Entscheidend ist, dass in diesen wieder entdeckten Werten viele grundlegende Werte des Evangeliums enthalten sind: Solidarität, praktische und gegenseitige Hilfe, die Güter der Erde sind für alle da, Leben in Gemeinschaft, reales Brotteilen als Zeichen der Harmonie mit Gott und Mensch, usw. Die gemeinschaftliche Arbeit wurde als ein Fest und als Gottesdienst verstanden. Denn genau so wichtig wie die Arbeit war das gemeinsame Essen, die Musik, der Tanz und der Dank an den Schöpfer. Daran lässt sich heute anknüpfen.

Kommentar der Campesinos (zur 1. Station des Kreuzwegs)

…Bei vielen Gelegenheiten feiern wir noch dieses traditionelle Abendmahl, das uns immer eint, das Kraft gibt und das uns immer ermutigt, uns gegenseitig bei den dringendsten Arbeiten zu helfen. Dieses traditionelle Abendmahl realisiert sich in der gemeinsamen Fertigstellung eines Hauses, in einer Trauerfeier und bei anderen Versammlungen, bei denen wir dem Leiden und der Auferstehung Jesu gedenken…. Der Kreuzweg basiert auf den Beobachtungen der Realität, in welcher wir Campesinos leben: die Armut. Jesus teilte sein Leben, sein Fleisch und sein Blut, mit uns und für uns. Das bedeutet für uns, dass unsere Comunidad sich versammelt und das Brot und alle Früchte teilt, die die Erde hervorbringt: Kartoffeln, Mais, usw. …. Das geschieht auch in der Minga, wenn wir alle einander helfen z.B. ein Haus zu bauen. Alle helfen beim Hausbau und jeder hat dabei eine bestimmte Rolle. Zuerst markieren wir die vier Eckpunkte, die wir über Kreuz anlegen, so dass die Grundlage eines Hauses ein Kreuz darstellt und auch das Dach wird schließlich „über Kreuz“ geplant und ausgeführt. Der Pate des Hausbaus organisiert am Ende eine Feier, spricht den Segen und alle teilen das, was sie mitgebracht haben. Gott wird daher ebenfalls das Haus segnen, er erleuchtet uns und gibt uns die Kraft.

1. Station aus "Der Kreuzweg der Campesinos", von José Espíritu, Campesino und Katechet aus Bambamarca -

"Auf den ersten Blick gibt einen Unterschied zwischen dem Mahl Jesu mit seinen Freunden und unserem Festmahl. Auf dem Land haben wir keinen Tisch zum Essen. Der Tisch ist der Boden. Wenn die Menschen sich versammeln, wird ein Poncho oder je nach der Anzahl der Leute (bis zu 80 - 100 Menschen) mehrere Tücher auf den Boden gelegt, darauf werden die mitgebrachten Gaben ausgebreitet und die Leute setzen sich darum herum. Jesus trägt einen Sombrero und einen Poncho, denn Jesus ist mit den erniedrigten und den einfachen Menschen, er hat sich mit ihnen identifiziert.

Er benutzt am Tisch als Kelch einen einfachen Krug aus Erde, aus der Erde, aus der wir alle stammen. In der alten Kirche benutzt man einen Kelch aus Gold. Die Schale für das Essen ist ebenfalls aus unserem Alltag, sehr verschieden zum Hostienteller in der Kirche. Denn Jesus ist Teil unseres Alltages, er lebt mit und unter uns, den Armen. Er macht sich zum Campesino. Er wählt die Ärmsten und Kleinsten aus. Wenn wir alle unsere Kraft und unsere Opfer in eine gemeinsame Arbeit einbringen, z.B. in der Minga, dann folgen wir Jesus, der sein Leben für uns gegeben hat. Dieses Beispiel schweißt uns zusammen. Das gemeinsame Essen repräsentiert diese Liebe, die unter uns herrscht."

Der komplette Artikel: (u.a. Veröffentlichungen in „imprimatur“ und „Der geteilte Mantel“)

Buen vivir – La cosmovisión andina

Abendländische und andine Cosmovisión (Weltsicht) im Vergleich


19. Dez.: Contra: Zusätzliches Wachstum durch TTIP – und für wen?

Ein Beitrag von Dr. Willi Knecht, Mitglied u.a. des Diözesanratsausschusses „Eine Welt“ mit langjähriger Lateinamerika-Erfahrung - als Antwort an gleicher Stelle auf das „Pro“ von Minister Peter Friedrich: „TIPP - Chancen und Risiken“.

Das Transatlantische Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen den USA und der EU erhitzt die Gemüter. Selten gingen wegen einem Handelsabkommen so viele Bürger auf die Straße, denn sie ahnen: Hier geht es um mehr als ein bloßes Handelsabkommen. Es geht um die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Es ist eine Frage nach den Werten, die uns leiten. Es geht um unser Verhältnis zu Natur und Umwelt, zur Art und Weise unseres Wirtschaftens und unseres Zusammenlebens in Gesellschaft und Staat. 

Dazu ein „winziges“ Beispiel: Am 1. April 2015 trat in Baden-Württemberg - fast unbeachtet - eine Verordnung für nachhaltige Beschaffung in Kraft. Land und Kommunen dürfen und sollen bei öffentlichen Ausschreibungen Sozial- und Umweltstandards berücksichtigen, z.B. keine Produkte aus Kinderarbeit. Dies ist ein großer Erfolg der Zivilgesellschaft, deren Vorschläge für neue „Entwicklungspolitische Leitlinien des Landes Baden-Württemberg“ nahezu identisch vom Landtag übernommen wurden. Die beiden großen Kirchen leisteten einen wertvollen Beitrag. Aber ein solches Engagement widerspricht dem „Geist von TTIP“ und könnte in Zukunft ins Leere laufen oder gar verboten werden.

Auch in Kommunen und Landkreisen formiert sich daher der Widerstand gegen TIPP. Denn die USA und europäische Konzerne wollen ungehinderten Zugang zur öffentlichen und kommunalen Wasser-, Energie- und Verkehrswirtschaft in Europa. Das liegt in der Konsequenz einer Ideologie, die wie ein Mantra heruntergebetet wird: Immer mehr Privatisierung und immer weniger Staat. Wenn aber die öffentliche Daseinsfürsorge und öffentliche Güter, die dem Gemeinwohl aller dienen, vorrangig der Profitmaximierung privater Konzerne unterworfen sind, werden sie zum Spielball von Spekulationen und den Interessen von einigen Wenigen. Das, was eine Gemeinschaft im Grunde zusammenhält, gerät in Gefahr zu verschwinden bzw. zerstört zu werden. Die Gesellschaft wird noch mehr gespalten. 

Im geplanten Handelsabkommen bestimmen allein die Konzerne, wie, wo und unter welchen Kriterien sie investieren. Die Mitsprache der Bürger in ihren ureigenen Angelegenheiten wäre in Gefahr. Die „Freiheit der Märkte“ und die Interessen der Konzerne (Wirtschaft) sind sakrosankt, denn nur sie garantieren, so die herrschende Lehre, Wachstum, Wohlstand und Sicherheit. Inzwischen gibt es zahlreiche Stellungnahmen zum geplanten Handelsabkommen. Bürgerinitiativen, Kirchen, Verbände und Kommunen äußeren darin ihre Überlegungen, Bedenken und Kritikpunkte. Daher hier die zehn am meisten genannten Kritikpunkte, vornehmlich aus kirchlichen Kreisen (oft Basisgruppen): 

-        Private (!) Schiedsgerichte: Konzerne könnten Staaten auf Schadensersatz in Milliardenhöhe verklagen, wenn ihre Gewinnpläne von demokratischen Entscheidungen durchkreuzt werden.

-        Verbraucherschützer befürchten einen Wettlauf zum Abbau der Anforderungen an Sicherheitstests von Gebrauchsgütern und Lebensmitteln. 

-        Abbau von sinnvollen Regelungen und Subventionen, die dem Ziel einer Wirtschaft im Dienst des Menschen und einer Lebensweise im Einklang mit Natur und Mitmensch dienen. 

-        Zunehmende Privatisierung von lebenswichtigen Leistungen wie Wasserversorgung, Energie, Abfall, Verkehr, Gesundheitsversorgung und Bildung.

-        Ausbau der industriellen Landwirtschaft zu Lasten der kleinbäuerlichen (Bio-) Landwirtschaft. 

-       Einseitige Bevorzugung von Gentechnologie und Extraktivismus (u.a. Fracking). 

-        Weitere Deregulierung von Finanzdienstleistungen (u.a. Gefahr für Genossenschaftsbanken) und Abbau sozialer Standards für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. 

-        Patentierung (Eigentumsrechte) von genmanipulierten Pflanzen und Medikamenten.

-        Einschränkungen demokratischer Grundrechte und demokratischer Selbstbestimmung.

-        Auswirkungen auf arme Länder und deren Ernährungssouveränität (Landraub, Bergbau etc.). Agrarkonzerne der USA und EU werden ihre globale Vormachtstellung ausbauen können.

Grundsätzlich wird befürchtet, dass die demokratische Willensbildung der „Freiheit der Konzerne“ untergeordnet wird. Kultur (Literatur, Musik), Bildung und Datenschutz werden rein ökonomischen Kriterien („muss Gewinn bringen“) unterworfen. Bio- und andere Labels gelten als Behinderung des freien Wettbewerbs. Einem aus Lobbyisten gebildeten Regulierungsrat wird das letztgültige Entscheidungsrecht übertragen. Unternehmen werden quasi zu „Gesetzgebern“. Widerstand dagegen wird als Rückfall in eine unfreie Gesellschaft diffamiert. Auffallend ist, dass die Auswirkungen auf die arm gemachten Länder fast nicht thematisiert werden, am ehesten aber noch in kirchlichen Stellungnahmen.  „Dies alles geschieht, wenn im Zentrum der Wirtschaft nicht der Mensch steht, sondern Mammon, das Geld als Gott. Im Zentrum der gesamten Gesellschaft muss aber die menschliche Person stehen, das Ebenbild Gottes - geschaffen, um dem Universum einen Sinn zu geben. Wenn der Mensch zur Seite gedrängt und Mammon an seine Stelle gesetzt wird, dann kommt es zur Umkehr aller Werte.“ *

Die staatstragenden Parteien befürworten das Handelsabkommen, wenn auch mit Einschränkungen und dem Vorbehalt von Korrekturen. Sie befürchten den Abstieg Europas im Wettbewerb mit den Schwellenländern. Sie fürchten um Wachstum und Wohlstand. Es geht ihnen zudem um die „Verteidigung unserer Werteordnung“, die seit 500 Jahren darin besteht, andere Völker „in aller Freiheit“ ausbeuten zu dürfen. 

Auch die deutschen Kirchen (-leitungen) setzen immer noch auf Wachstum. Für Kardinal Marx ist ein allerdings erheblich verbessertes TTIP notwendig, um besser und nachhaltiger wachsen zu können und um die europäische Wirtschaft in Partnerschaft mit den USA konkurrenzfähig zu halten. Wäre das unsere Option – um der Armen willen?

Sind wir als deutsche Kirche vielleicht doch noch zu sehr von wirtschaftlichem Wachstum abhängig? Es ist höchste Zeit (ein Zeichen der Zeit), wieder den Anschluss zu finden, anschlussfähig nicht zum herrschenden Mainstream der herrschenden Weltordnung, sondern anschlussfähig an eine „Kirche der Armen“, an Papst Franziskus und an alle Bewegungen, die im Widerstand gegen die „Götzen dieser Welt“ aufstehen. Eine Kirche, die ihr Vertrauen - de facto - vorrangig in ihren Besitz und irdische Güter und Werte setzt, kann nicht die Kirche Jesu Christi sein.

Auf der Zweiten Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín (1968) wurde der Geist des Konzils konkret auf die Lebenswirklichkeit der Menschen angewandt. Die Bischöfe kamen zu dem Schluss: So wie die Menschen in Lateinamerika leben, als arm Gemachte, das ist nicht der Wille Gottes. Das ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit. Gott will nicht, dass Kinder verhungern, obwohl es Nahrungsmittel im Überfluss gibt. Diese theologische und gesellschaftspolitische Analyse wurde so in Europa und speziell in Deutschland nicht durchgeführt. Wäre dem so gewesen, hätte man sich vielleicht als eine Kirche entdeckt, die selbst in ein ausbeuterisches System eingebunden ist und von den herrschenden Verhältnissen mit profitiert. Das wäre eine sehr bittere Selbsterkenntnis gewesen. Aber gerade diese Einsicht ist notwendig, sonst kann es keine Umkehr geben. Als Christen sind wir nicht von dieser Welt, aber mitten in diese Welt gesandt, um sie im Geist Jesu Christi zu verwandeln. 

„Einige von euch haben es so ausgedrückt: Dieses System kann man nicht mehr ertragen. Wir müssen es ändern. Wir müssen die Würde des Menschen wieder ins Zentrum rücken und dann auf diesem Pfeiler die alternativen gesellschaftlichen Strukturen errichten, die wir brauchen. Hartnäckig sein, aber ohne Fanatismus. Leidenschaftlich, aber ohne Gewalt. Wir brauchen dazu viel Mut, aber auch Intelligenz. Wir Christen haben etwas sehr Schönes, eine ´Gebrauchsanweisung´, ein revolutionäres Programm gewissermaßen. Ich rate euch sehr, es zu lesen…!“

* Beide Zitate aus der Ansprache des Papstes beim „Welttreffen der Volksbewegungen“, 28.10.14, eig. Übersetzung).  

Der Artikel wurde veröffentlicht in „Der Geteilte Mantel“, dem weltkirchlichen Magazin der Diözese Rottenburg-Stuttgart (drs). Jährliche Erscheinungsweise, wird kostenfrei verschickt an Kirchengemeinden, kirchliche Einrichtungen, Verbände etc., Auflage 15.000. Der Artikel ist als Antwort und Stellungnahme der Kath. Ortskirche (Diözese) auf die Position der Landesregierung von BW zu werten, die in derselben Ausgabe ebenfalls veröffentlicht wird, als „Pro" von Minister Friedrich. 

Freihandelsabkommen: Betriebssystem einer neoliberalen Weltordnung (als Kommentar in drs.global 3/15)

Selbstverständlich scheint es überfällig, dass zwei weltweit bestimmende Handelsblöcke Hindernisse aus dem Weg räumen, damit Handel und Wandel besser funktionieren. Zu viele nationale Eigenheiten, Vorschriften, Einschränkungen und staatliche Eingriffe bremsen die Dynamik des freien Handels und die Wachstumskräfte, die notwendig sind, um auch in Zukunft im Wettbewerb mit aufstrebenden Mächten bestehen und um das stetige Wachstum generieren zu können, ohne das diese Art des Wirtschaftens nicht funktionieren kann. Und solange wir noch Spargel, Mangos und Bananen zu jeder Jahreszeit und möglichst billig auf dem täglich schon überreich gedeckten Tisch haben wollen, wird diese Spirale sich weiterdrehen können. Und die Flüchtlingsströme werden noch weiter zunehmen, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört werden.

Mit der zu Beginn der Neuzeit um 15000 beginnenden Eroberung der Welt durch die Europäer wurde auch deren Kosmovision zum Leitbild für alle anderen (nichtchristlichen) Völker und Kulturen erklärt. Der abendländischen Christenheit, ausgehend von griechischer Philosophie und römischem Recht auf unbeschränktes Privateigentum fiel es daher nicht schwer, die Eroberung fremder Völker und jahrhundertelange Sklaverei zu rechtfertigen. Auch die daraus entstandene Wirtschaftsordnung mit dem absoluten Vorrang des Kapitals - das Geld als Gott, wie Papst Franziskus dies nennt - wurde nun globalisiert.

Nachdem spätestens seit den 1980er Jahren der freie Handel von den letzten Fesseln sozialer Verantwortung befreit wurde, nehmen die Verwüstung der Erde und die Vertreibung der Menschen exponentiell zu. Die EU hat bereits Freihandelsabkommen mit Mexiko, Chile, Kolumbien, Peru sowie Zentralamerika geschlossen. Den „Entwicklungsländern“ wird angeboten, im Welthandel mitspielen zu dürfen. Die Spielregeln aber bestimmen die reichen Länder. An bereits bestehenden Freihandelsabkommen wie zum Beispiel zwischen den USA und Mexiko (NAFTA, 1994) lassen sich grundlegende Mechanismen des Freihandels aufzeigen:

-        Die EU und noch mehr die USA schotten ihre eigenen Märkte ab, subventionieren ihre eigenen Produkte und zwingen die armen Länder, ihrerseits ihre Märkte zu öffnen.

-        Die Spielregeln werden von den Reichen diktiert, in Auswahl: Abbau von Schutzzöllen für die einheimische Wirtschaft; freier Zugang von Auslandsinvestitionen; eine durch Monokulturen gekennzeichnete und am Export orientierte Landwirtschaft; drastischer Abbau staatlicher Leistungen u. a. im Bildungs- und Gesundheitswesen;

-       Aggressive Privatisierung von Staatsbetrieben; Aufhebung staatlicher Vorschriften zum Arbeits- und Umweltschutz, Zerschlagung von Gewerkschaften u. a.

-        Die Rechte und Freiheiten von („eigenen“) Konzernen und Finanzinvestoren werden geschützt. Sie stehen über dem Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Staaten.

-        Die armen Länder werden auf ihre Rolle als „Vorratslager der Welt“ reduziert, auf das beliebig und in „voller Freiheit“ zugegriffen werden kann.

In Mexiko sprechen Bauernverbände und Indigena-Organisationen bereits von einer Zweiten Conquista: Den indigenen Völkern wird nun auch noch der letzte Wert geraubt: Das Recht auf eigene Ernährung, d. h. das Recht auf ihre heimischen Pflanzen. Mais ist nicht nur ein Grundnahrungsmittel, sondern hat einen sehr hohen kulturell-religiösen Wert und ist Teil ihrer Identität. Ihre Angst: Wenige Konzerne werden das weltweite Monopol auf Nutzpflanzen und Tiere besitzen und können so die ganze Weltbevölkerung kontrollieren.

Mexiko kann als Versuchslabor bzw. Modell verstanden werden, wie durch Freihandelsabkommen die Vormachtstellung „des Westens“ und seiner Werte stabilisiert werden kann. Konkreter: Der Staat hat lediglich die Funktion, die „Freiheit der Märkte“ zu garantieren und die Interessen der Investoren zu schützen. Die Interessen des globalisierten Kapitals haben absoluten Vorrang. Zu dieser Wirtschaft und Politik gibt es angeblich keine Alternative, sie ist absolut. Diese Maßnahmen und Verhaltensweisen sind das Ergebnis und die logische Folge der etablierten Weltordnung. Das Fundament ist eine bestimmte Weltsicht, die als absolut verstanden wird. „Freiheit“ ist einer ihrer Schlüsselbegriffe – eine Freiheit allerdings, die die einen für sich in Anspruch nehmen, zu Lasten der anderen. Im so genannten „Freien Wettbewerb“ werden sie keine Chance haben.  Das Reden von einer Chancengleichheit - sowohl für Einzelne als auch für ganze Völker - dient dazu, all denen, die es zu "nichts bringen", als Versager abzustempeln und ihnen auch noch einzuimpfen, selbst schuld an ihrem Schicksal zu sein. Dieser Glaube (Religion) ist der am weitest verbreitete Glaube unserer Zeit. Er ist inzwischen bis in die letzten Winkel unserer Erde und unserer Seelen vorgedrungen und vergiftet zunehmend das menschliche Zusammenleben. Für welche Freiheit setzen wir uns denn als Christen ein: Für die Freiheit der Sklavenbesitzer, so viele Sklaven halten zu dürfen, wie sie wollen oder für die Freiheit der versklavten Menschen, ihre „Ketten“ zu brechen und aufzustehen?

Der vom Evangelium ausgehende Widerstand gegen eine solche Weltordnung und Geisteshaltung mag als Glaube, ja als Ideologie bezeichnet werden. Christen aber, wenn sie Christen sind, bekennen sich zu diesem Glauben. An wen oder was wir glauben, entscheidet über Leben und Tod. Die Option für die Armgemachten - für die Opfer und nicht für die Sieger - ist nicht beliebig. Sie bildet den Kern der Worte und Taten Jesu. Ist es verwunderlich, dass ein befreiender Glaube in Afrika oder Lateinamerika offenbar lebendiger ist als bei uns? Katholische Basisgruppen in Lateinamerika bezeichnen Freihandelsabkommen als „das Betriebssystem und das Instrument der neoliberalen Weltordnung“.

Das geplante Freihandelsabkommen USA – EU lässt daher aus dieser Sicht eine weitere Verschlechterung für die Menschen in Lateinamerika (und Afrika, Asien) befürchten. Es bedeutet noch mehr Extraktivismus, noch mehr industrielle, rein exportorientierte Landwirtschaft und damit noch mehr Vertreibung, noch mehr Zerstören der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, noch mehr Ausbeutung und noch mehr Ausplünderung der natürlichen Lebensgrundlagen von Mensch und Natur.

Was bisher schon USA und EU jeder für sich praktiziert haben, soll nun durch die Einführung einheitlicher Standards besser abgestimmt und somit noch effektiver werden. Wenn aber ein System, das schon jetzt wachsende Ungleichheit produziert, sowohl global als auch innerhalb der einzelnen Länder in Nord und Süd, optimiert werden soll, werden auch die Ungleichheiten optimiert. Die Kluft zwischen arm und reich, lokal wie global, wird noch größer als bisher.

Das Freihandelsabkommen mag für die Wirtschaft und Finanzinvestoren in den USA und der EU zum Segen werden. Für die Menschen in der globalen und lokalen Peripherie kann sie zum Fluch werden. Sie suchen Zuflucht, aber wir verriegeln unsere Türen (und unsere Herzen?).

Eine authentisch christlich-biblische Perspektive ist ansatzweise schon im Konzil, dann aber vor allem von der lateinamerikanischen Kirche wiederentdeckt worden. Das bedeutet, aus der Perspektive derer, die unter die Räuber gefallen und ausgeschlossen sind, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu analysieren und im Lichte der Botschaft und der Praxis Jesu Christi neu zu deuten.  Papst Franziskus greift dies nun wieder auf und füllt es mit neuem Leben: „Wir befinden uns mitten im Dritten Weltkrieg, aber auf Raten. Es gibt Wirtschaftssysteme, die Krieg führen müssen, um überleben zu können. Damit sanieren sie die Bilanzen einer Wirtschaftsweise, die Menschenopfer darbringt, um ihren Götzen zu huldigen. … Sie denken nicht an die hungernden Kinder, sie denken nicht an die zwangsweise Umgesiedelten, nicht an die zerstörten Wohnungen und nicht an so viele Menschen, denen ein würdiges Leben verweigert wird.“ (Papst Franziskus: Ansprache an die Volksbewegungen am 28. 10. 2014). 

Dieser Kommentar wurde auch übernommen von dem Portal der Deutschen Bischofskonferenz und veröffentlicht auf weltkirche.katholisch.de – mit folgendem Hinweis: „Der Artikel ist ein Grundsatzartikel aus der „Perspektive der Peripherie“ und somit Ausdruck einer authentisch-christlichen Option. Er wurde veröffentlicht als Kommentar in „drs.global" (3/15), dem Quartalsnewsletter der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Hauptabteilung Weltkirche)“  Willi Knecht, Dr. theol. - Dipl.-Pädagoge, Ulm

Der komplette und weitere Artikel auf meinen Webseiten: aus der Perspektive einer Kirche der Armen

TTIP – Der Kampf um die letzten Ressourcen

Freihandelsabkommen - Instrument der neoliberalen Weltordnung – 

TTIP - Zum Segen für wen?


20. Dez.: Brief Ulmer Christen an den Papst

"....Es geht dabei nicht nur um Pater Boff, schreibt Knecht im Kirchenblatt, sondern auch um die „Gefahr, dass die Stimme der Armen und Verhungernden, mit denen sich Jesus identifiziert, zum Schweigen gebracht wird“ - die Maßregelung Boffs werde von vielen Unrechtsregimes als Bestätigung blutiger Verfolgung von Millionen engagierter Christen aufgefasst. Überdies gehe es dabei „auch um uns“, nämlich um die eigene Glaubwürdigkeit und darum, „wie wir als Christen mit einander umgehen“. Es hänge von allen ab, was aus dieser Kirche werde, „ein Zeichen der Hoffnung für alle Menschen oder ein Ort der Resignation, der Angst, der Verzweiflung, des inneren Auszugs und der Selbstaufgabe“. Nicht zuletzt, schreibt Knecht, sei der Brief an den Papst „auch als Hilfe und Ermutigung für die Verantwortlichen unserer Kirche, wie zum Beispiel Kardinal Ratzinger, gedacht, damit sie weniger Angst vor der Zukunft und mehr Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes haben“. (Südwestpresse, 13. Juli 1985)

Brief aus Ulm an den Papst in Rom - Aktion für Leonardo Boff

Aus der Südwestpresse, 13. Juli 1985:

In mehreren katholischen Kirchengemeinden Ulms kursiert derzeit eine Unterschriftenliste, die einem Brief an Papst Johannes Paul II. in Rom Nachdruck verleihen soll. Der Brief stammt von Mitgliedern eines Gesprächskreises zur Theologie der Befreiung und ist das Ergebnis einer Veranstaltungsreihe, die sich, in zeitweiliger Zusammenarbeit mit der Volkshochschule, im Haus der Begegnung etabliert hat. In dem an den „sehr geehrten Heiligen Vater“ gerichteten Schreiben des Gesprächskreises wird der Papst gebeten, das von der römischen Glaubenskongregation gegen den brasilianischen Theologen Leonardo Boff verhängte Schweigegebot aufzuheben.

Pater Boff, einer der prominentesten Vertreter der Theologie der Befreiung, darf nach dem Spruch der römischen Glaubenskongregation ein Jahr lang keine Vorträge und Lehrveranstaltungen halten; sein theologisches Buch „Kirche: Charisma und Macht“, in dem Boff harte Kritik gegen die Kirche formuliert hat, ist von Rom offiziell beanstandet worden. Das gegen Boff verhängte „Bußschweigen“ hat bereits zahlreiche Proteste nach sich gezogen, und es sind schon verschiedene andere Schreiben - auch offizieller Kirchengremien - bekannt geworden, die in dieser Angelegenheit an den Papst oder an den Vorsitzender der römischen Glaubenskongregation, den deutschen Kardinal Joseph Ratzinger, gerichtet worden sind.

In dem Brief aus Ulm, der im Übrigen noch nicht abgesendet wurde, ist von Leiden, Schmerz und Enttäuschung darüber die Rede, „dass uns die Möglichkeit zum Dialog mit einem Glied unserer Gemeinschaft nicht mehr gegeben ist“. Gerade die Christen der Ersten Welt bedürften des Gesprächs mit einem Theologen wie Pater Boff, „der unser Gehör sensibilisiert für eine Sprache der Armen, die allzu oft ohnmächtiges Schweigen ist“. Gerade angesichts der beängstigender werdenden Kluft zwischen Erster und Dritter Welt werde aber die Mitarbeit „an der Verwirklichung des Reiches Gottes, in dem alle Menschen das Leben in Fülle haben“, dringlicher. Aus diesen Gründen solle der Papst das Schweigegebot für Pater Boff aufheben.

Das Ungewöhnliche an diesem Vorgang besteht darin, dass der Ulmer Brief an den Papst über den Arbeitskreis hinaus bekannt geworden und sozusagen in den Raum der Kirche eingedrungen ist. Zunächst in der Gemeinde St. Georg, dann auch in anderen katholischen Kirchengemeinden, ist der Brief verlesen, zumindest aber bekannt gemacht worden; gleichzeitig wurden Unterschriftenlisten aufgelegt, in die sich Hunderte von Kirchenbesuchern (die einzelnen Ergebnisse wurden noch nicht addiert) eingetragen haben. Bislang haben sich daran die Gemeinden St. Georg, St. Maria Suso, Guter Hirte und St. Franziskus beteiligt. Durch eine Veröffentlichung in der jüngsten Ausgabe des offiziellen Katholischen Kirchenblatts Ulm/Neu-Ulm/Blautal, das allein in Ulm in rund 5.000 Haushalten aufliegt, wird dem Thema aber ein zusätzlicher Stellenwert zuteil. Nicht nur, dass der Brief an den Papst kommentarlos auf der Titelseite veröffentlicht worden ist, er wurde auch noch durch eine Art Leitartikel von Willi Knecht ergänzt, dem Leiter jenes Gesprächskreises zur Theologie der Befreiung.

Knecht, als Diplomtheologe in der Gemeinde St. Georg in Ulm engagiert, hat vor über zehn Jahren seine Diplomarbeit über die Theologie der Befreiung geschrieben und kennt das Thema auch aus der Praxis. Er war vier Jahre lang, vornehmlich in der Ausbildung von Landkatecheten, in bischöflichen Auftrag in einer Gemeinde in Peru tätig. Dort hat er eine Kirche kennen gelernt, in der, wie er in seinem Beitrag für das Katholische Kirchenblatt schreibt, „viele Menschen ihre einzige Hoffnung sehen (auch bei uns), eine Kirche, die prophetisch ihre Stimme erhebt, das Unrecht auch Unrecht nennt und das Kommen eines neuen Himmels und einer neuen Erde verkündet“. Dieser prophetischen Kirche, so klagt Knecht, werde mit dem Schweigegebot aus Rom gegen Pater Boff „eine Stimme genommen“. Dazu stellt er die provozierende Frage: „Welche Ängste mögen dahinter stecken?“ Es geht dabei nicht nur um Pater Boff, schreibt Knecht im Kirchenblatt, sondern auch um die „Gefahr, dass die Stimme der Armen und Verhungernden, mit denen sich Jesus identifiziert, zum Schweigen gebracht wird“ - die Maßregelung Boffs werde von vielen Unrechtsregimes als Bestätigung blutiger Verfolgung von Millionen engagierter Christen aufgefasst.

Überdies gehe es dabei „auch um uns“, nämlich um die eigene Glaubwürdigkeit und darum, „wie wir als Christen mit einander umgehen“. Es hänge von allen ab, was aus dieser Kirche werde, „ein Zeichen der Hoffnung für alle Menschen oder ein Ort der Resignation, der Angst, der Verzweiflung, des inneren Auszugs und der Selbstaufgabe“. Nicht zuletzt, schreibt Knecht, sei der Brief an den Papst „auch als Hilfe und Ermutigung für die Verantwortlichen unserer Kirche, wie zum Beispiel Kardinal Ratzinger, gedacht, damit sie weniger Angst vor der Zukunft und mehr Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes haben“.  (Südwestpresse, 13. Juli 1985)


Es folgt der vollständiger Bericht, Titelseite, aus: „Katholisches Kirchenblatt, Ulm/Neu-Ulm und Blautal, Nr. 27 / 35. Jahrgang“ - vom 7. Juli 1985:

Der Dialog muss weitergehen! (von Willi Knecht)

„Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, bring deine Jünger zum Schweigen! Er erwiderte: Ich sage Euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.“ (Lk 19, 39 - 40).

Viele Pfarrgemeinden in Ulm und Umgebung unterhalten direkte oder indirekte Kontakte zu Pfarrgemeinden in den ärmsten Ländern der Welt. Und einige Gemeinden haben sich bereits auf eine Partnerschaft mit einer armen Gemeinde eingelassen. Diese Partnerschaften werden von der Diözese Rottenburg-Stuttgart sehr begrüßt und gefördert. Sie stellen den Gedanken der gegenseitigen, direkten und persönlichen Verantwortung innerhalb der Einen Kirche in den Vordergrund; ebenso dass Mission nicht eine Einbahnstraße ist und gerade auch wir und unsere Gemeinden im reichen Abendland der geistigen Erneuerung und vieler neuer Impulse bedürfen.

Voller Hoffnung blicken wir auf eine vitale und dynamische Kirche, in der trotz (oder gerade wegen?) allem Elend und Unterdrückung die Kraft des Evangeliums spürbar wird: in den Millionen von Campesinos, die im Glauben an Jesus Christus sich als das Volk Gottes entdecken und sich, wie einst das Volk Israel, aus der Sklaverei auf den Weg der Befreiung machen; in den zahlreichen Basisgemeinden, in denen Glaube und Alltag eine Einheit bilden, wo Gemeinschaft nicht nur ein leeres Wort ist und wo auch die Laien Zeugen der Wahrheit und Licht in der Finsternis sind; in den vielen Priestern und Bischöfen, die sich gemeinsam mit den Armen auf den Weg machen und von vielen auch tatsächlich als echte Brüder erfahren werden… Es ist eine Kirche, in der viele Menschen ihre einzige Hoffnung sehen (auch bei uns), eine Kirche, die prophetisch ihre Stimme erhebt, das Unrecht auch Unrecht nennt und das Kommen eines neuen Himmels und einer neuen Erde verkündet - in dem Bewusstsein, dass die Herrschaft Gottes bereits mit Jesus begonnen hat, dass wir in der Nachfolge Jesu uns für die Herrschaft der Liebe und der Gerechtigkeit einzusetzen haben und dass Gott selbst dies alles vollenden wird.

Dieser prophetischen Kirche wird nun eine Stimme genommen. Pater Leonardo Boff, einer der herausragenden Vertreter dieser Kirche, hinter dem die große Mehrheit der brasilianischen Bischöfe als Vertreter der größten Nationalkirche der Welt steht, wurde von Rom ein Schweigegebot auferlegt. Welche Ängste mögen dahinter stecken? Aus Treue zur Kirche akzeptiert Pater Boff das Schweigegebot. Um so mehr halten wir es für unsere Pflicht, als getaufte Christen und deshalb als Kinder Gottes zur Teilhabe an der Herrlichkeit unseres Vaters berufen, aus Treue zur Kirche Jesu Christi, unsere Stimme zu erheben. Es geht dabei nicht nur um Pater Boff, es geht um mehr. Es besteht die Gefahr, dass die Stimme der Armen und Verhungernden, mit denen sich Jesus identifiziert, zum Schweigen gebracht wird - zumal gerade von denen, die mit verantwortlich sind für diesen Hunger und dieses Elend. Durch die Umstände in Lateinamerika bedingt, wird diese Maßregelung Pater Boffs - wenn von Rom auch so nicht beabsichtigt - von vielen Unrechtsregimes als Bestätigung blutiger Verfolgung von Millionen engagierter Christen aufgefasst.

Es geht dabei auch um uns. Es ist unsere eigene Glaubwürdigkeit, auch wie wir miteinander umgehen, die auf dem Spiel steht. Es ist unsere Kirche und von uns allen (!) hängt es ab, was aus dieser Kirche wird: ein Zeichen der Hoffnung für alle Menschen oder ein Ort der Resignation, der Angst, der Verzweiflung, des inneren Auszugs und der Selbstaufgabe. Wir bitten deshalb alle Gemeinden, Gruppen und Einzelne, den folgenden offenen Brief zu unterstützen und zu seiner Verbreitung beizutragen! Dieser Brief ist auch als Hilfe und Ermutigung für die Verantwortlichen unserer Kirche, wie zum Beispiel Kardinal Ratzinger, gedacht, damit sie weniger Angst vor der Zukunft und mehr Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes haben.

Hier der Brief: Sehr geehrter Heiliger Vater

Als Glieder des einen Leibes, wie Paulus im Brief an die Korinther die christliche Gemeinschaft bildhaft beschreibt, leiden wir an dem Schweigen, das einem Glied von uns, Pater Leonardo Boff, auferlegt wurde. Zum gegenseitigen Dienen an dem einen Leib durch Gottes Geist berufen, empfinden wir Schmerz und Enttäuschung darüber, dass uns die Möglichkeit zum Dialog mit einem Glied unserer Gemeinschaft nicht mehr gegeben ist. Bedürfen wir Christen der Ersten Welt doch so sehr des Gesprächs mit einem Theologen wie Pater Boff, der unser Gehör sensibilisiert für eine Sprache der Armen, die allzu oft ohnmächtiges Schweigen ist. Im tiefen Glauben der Ärmsten der Armen, die aus ihren christlichen Basisgemeinden heraus christliches Miteinander praktizieren, erfahren wir, die durch Konkurrenz- und Leistungsdenken schon beinahe blind geworden sind, Gottes Heil bringende Gegenwart in unserer Geschichte. Unseren Blick durch Mahner wie Pater Boff auf die Armen gelenkt, können wir wieder anfangen, mit ihnen zusammen auch auf unsere Befreiung zu hoffen: Befreiung von dem Zwang einer allein auf Profit ausgerichteten Wirtschafts- und Entwicklungspolitk und Befreiung von dem Zwang, durch zunehmenden Rüstungswahnsinn zur Verelendung der ohnehin schon Armen und zum Sterben ihrer Kinder beizutragen.
Dass angesichts der beängstigend breiter werden Kluft zwischen Erster und Dritter Welt unsere Mitarbeit an der Verwirklichung des Reiches Gottes, in dem alle Menschen das Leben in Fülle haben werden, dringlicher wird, haben wir mit Pater Boff von den Armen gelernt. Wir bitten Sie deshalb, Heiliger Vater, das Schweigegebot für Pater Boff aufzuheben.

Für den Ulmer Gesprächskreis zur Theologie der Befreiung: Maria-Luise Reis, W. Knecht. 

Weitere Presseberichte:

Diözesanrat Freiburg an Ratzinger: „Wir sehen in dem verhängten Redeverbot und Schweigegebot einen Verstoß gegen die Grundrechte der Meinungs- und Gewissensfreiheit“. So heißt es in einem Schreiben, das der Vorsitzende des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Freiburg, Wilderich Graf Bodman, nach dem von der römischen Glaubenskongregation gegen den brasilianischen Theologen Leonardo Boff verhängten Bußschreiben jetzt im Auftrag des Vorstands dieser Spitzenvertretung der zwei Millionen Katholiken des Erzbistums an den Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, gerichtet hat.

„Bei uns wie bei vielen Mitchristen verstärkt sich der Eindruck, dass der charismatische Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils und die weiterhin nötigen Erneuerungsprozesse der Kirche aufgehalten werden sollen“, wird in dem Brief befürchtet. Die Auflagen gegen Pater Boff bewirkten, dass die von den lateinamerikanischen Bischöfen in Puebla bestätigte Notwendigkeit der Umkehr der Gesamtkirche im Sinne einer vorrangigen Option für die Armen unnötig behindert wird. Die getroffenen Maßnahmen unterstützten eher noch jene Kräfte, die für die Unterdrückung der Armen verantwortlich sind. Graf Bodman appelliert an Ratzinger, alle seine Kräfte dafür einzusetzen, „dass sich in der Kirche eine Einheit in der Vielfalt der vielen Geistesgaben entfalten kann, dass die Prozesse der Inkulturation des Christentums, insbesondere in den Schwesterkirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika, gefördert werden und dass theologische Klärungsprozesse durch Dialog und Argumentation erfolgen müssen“. (knd)

Papst mahnt Franziskaner zu Gehorsam (AP)

Papst Johannes Paul II. hat die Angehörigen des Franziskanerordens ermahnt, dem Beispiel ihres Ordensgründers Franz von Assisi zu folgen. Dieser habe sich nie dazu verleiten lassen,„von der Lehrmeinung und den Weisungen“ des Oberhaupts der katholischen Kirche abzuweichen, sagte der Papst in einer Audienz für 230 Franziskaner. Der Franziskanerorden hatte zuvor auf einem Seminar in Assisi seinem brasilianischen Ordensbruder Leonardo Boff „höchsten Respekt“ bekundet.
Anmerkung der Redaktion/Kirchenblatt: Der große Unterschied besteht allerdings darin, dass der Papst dem Franz von Assisi nicht einen Maulkorb verpassen ließ, sondern ihn zur Verkündigung ermunterte und bestellte, obwohl er „nur“ Laie war.

Die Antwort aus Rom
Staatssekretariat Aus dem Vatikan, am 10. August 1985 (Wappen, Stempel)

"Das Staatssekretariat bestätigt Ihr engagiertes Schreiben zum begrenzten Schweigege- bot für P. Leonardo Boff und versichert, dass Ihre Darlegungen sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen worden sind.
Beiliegend finden Sie eine kurze Pressenotiz über eine Stellungnahme von Herrn Kardinal Ratzinger, aus welcher der Ausgangspunkt der Kontroverse, die Art der getroffenen Maßnahmen und ihre Absicht deutlich hervorgehen. Auch wird daran erinnert, dass P. Boff seine unmittelbaren seelsorgerlichen Aufgaben weiterhin ausüben darf.
Weitergehende Interpretationen oder sogar polemische Unterstellungen sollten im Geiste kirchlicher und auch franziskanischer Gesinnung um der Wahrheit willen nicht vorgenommen werden. In gemeinsamer Sorge um den Weg der Kirche in unseren Tagen,
Unterschrift: Monsignore R. Marsiglio

Die beiliegende Pressenotiz (Deutschsprachige Wochenausgabe des „Osservatore Romano“, vom 9. 8. 1985): In einem Interview mit der Wiener Kirchenzeitung ging Kardinal Ratzinger bei seinem Aufenthalt in Österreich auch auf den „Fall Boff“ ein. Nach Aussage des Kardinals hat die Verfügung Roms, wonach der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff - nach Beanstandung verschiedener Thesen in seinem Buch „Kirche: Charisma und Macht“ durch die Glaubenskongregation - ein Jahr lang keine öffentlichen Äußerungen abgeben darf, „weniger den Charakter einer Strafe, als den einer Hilfe und des Schutzes“. Boff sollte durch diese Maßnahme des Vatikans davor geschützt werden, in einen „Strudel von internationalen Vorträgen und Interviews hineinzugeraten“. Dies liege auch im Interesse von Boff selbst, meinte Ratzinger.


Nachtrag 2005, 20 Jahre später: (anläßlich der Veröffentlichung im Web)

Auf meine Anregung hin veranstaltete die Ulmer Volkshochschule im Mai/Juni 1985 eine Vortragsreihe über die Theologie der Befreiung (8 Abende mit 8 Referenten, Gegner und Befürworter) im Zusammenarbeit mit den Kirchengemeinden. Aktueller Anlass: die „Instruktion über die Theologie der Befreiung“ (1984) und die Maßnahmen gegen Boff (u.a., 1985). Im ev. Haus der Begegnung fanden gleichzeitig und ergänzend unter meiner Leitung Gesprächsabende statt, in denen über die Vorträge der Theologen diskutiert werden konnten und wo ich dies anhand mit eigenen, konkreten Beispiele einer befreienden Praxis vertiefen konnte. Die Teilnahme war sehr groß (bis zu 100 Personen pro Abend) und daraus entstand dann der Brief an den Papst, der von vielen Kirchengemeinden unterstützt wurde.
Und heute? Ratzinger ist Papst, die Option für die Armen ist fast vergessen, durch römische Maßnahmen wird eine befreiende Pastoral inmitten des Volkes zerstört - und was tun wir...?

Der komplette Artikel:  Brief an den Papst (1985)


21. Dez.: Kirchenreform? - Brief einer KG an die Diözesanleitung

Der Zerfall vieler Gemeinden schreitet in dramatischer Weise voran. Die Kirchenleitungen intensivieren diesen Prozess durch die Bildung von Großgemeinden, die den dramatischen Priestermangel kaschieren soll. Damit treiben sie den Zusammenbruch der klassischen Pastoral und damit auch die Kontrolle der Gläubigen durch den Klerus voran. Die wenigen Aktiven arbeiten ehrenamtlich am Limit. Zudem werden sie mit bürokratischen Vorgaben und scheindemokratischen Gremien überladen. Ihnen obliegt die Sorge für den Erhalt der noch vorhandenen, weit überdimensionierten Infrastruktur (Renovierung der Gemeindehäuser, Kindergärten, Orgeln, Kirchtürmen, usw., usw.). Man braucht eben das Kirchenvolk für die Erledigung vieler Dinge. Man spricht zunehmend von der Bedeutung des Ehrenamtes und dessen Wertschätzung und drängt gleichzeitig die immer weniger werdenden Ehrenamtlichen noch mehr an die Ränder als zuvor. Ist diese real existierende deutsche Kirche zur Umkehr überhaupt (noch) fähig und daher fähig, sich radikal zu erneuern?

Zwei konkrete Beispiele aus den letzten Monaten: (2016)

a) Aschermittwoch: In einem Gespräch mit drei sehr engagierten Frauen (50 – 65 Jahre), Mitglieder im Kirchengemeinderat einer Ulmer Gemeinde, in verschiedenen Ausschüssen und sozial engagiert, kamen wir auf die „Reformen“ des neuen Pfarrers zu sprechen. Sie beklagten sich, dass nun (u.a.) nicht mehr in allen drei bis vor kurzem selbstständigen Kirchengemeinden ein Gottesdienst an Aschermittwoch gefeiert würde. „Das Kreuzzeichen mit der Asche auf die Stirn sei doch ein so schöner Brauch!“ Traditionell besprengt der Priester die Asche nach dem Segensgebet mit Weihwasser, legt sie denen, die vor ihn treten auf und spricht jeweils: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Ich bestätigte sie: „Stimmt, wenn euch das so wichtig ist, dann bereitet doch eine schöne Feier vor, lädt die Gemeinde ein, lest das Evangelium, sprecht darüber, segnet die Asche…“. Sie schauten mich dann nur noch entgeistert an: „Das geht doch nicht!“ Damit auch gemeint: das können wir nicht, das dürfen wir nicht, das kann doch nur der Pfarrer! Und der Pfarrer gefällt sich in seiner Rolle.... Was sollte er denn noch tun, wenn plötzlich die Laien selbst…..? Er allein ist für die Liturgie zuständig und selbst der Liturgieausschuss kann bestenfalls über den Blumenschmuck in der Kirche diskutieren. Was er dann auch sehr beharrlich tut. 

b) Vor Weihnachten baten einige ältere Frauen in meiner Gemeinde, nach der Krippenfeier an Hl Abend (17.00 Uhr), die Hl. Kommunion - im entsprechenden Rahmen und nach der Kinder-Krippenfeier - empfangen zu dürfen. Denn dies wäre für sie die einzige Möglichkeit, an Hl Abend zur Kommunion zu gehen. Das war ihnen sehr wichtig. Unbedacht wurde dies dann am Sonntag davor so auch verkündet. Dies hat jemand anonym - eben ein treuer Katholik - an die Diözesanleitung in Rottenburg gemeldet. Diese reagierte sofort und hat dieses Vorhaben strikt verboten. „Eine Krippenfeier bildet nicht den würdigen Rahmen für den Empfang der Hl. Eucharistie. Zudem besteht die Gefahr der Verwechslung.“ Die Kirchengemeinde gehorchte ohne Widerspruch – „man will schließlich ausgerechnet zu Weihnachten keinen zusätzlichen Ärger“. Und die Frauen wurden vertröstet und blieben ohne Kommunion.

Nun ließe sich über die Situation in unseren Kirchengemeinden vieles sagen. Ganze Bibliotheken ließen sich füllen, ebenso mit Vorschlägen aller Art. Seit1981 bin ich in Kirchengemeinderäten engagiert, von 2005 – 2015 u.a. auch im Leitungsteam der Gesamtkirchengemeinde Ulm. Drei diözesanweite „Gemeindeerneuerungen“ habe ich erlebt, aktuell das neue Programm „Kirche vor Ort“. Dies wird mit großem finanziellem Aufwand und noch mehr Hauptamtlichen in den Stabsstellen in der gesamten Diözese forciert. Der Bischof: „Wir haben drei Jahre lang zugehört (Dialogprozess) und jetzt setzen wird das um und starten durch!“ Bisheriges Ergebnis: Noch mehr Resignation! Denn wie es in den Kirchengemeinden wirklich aussieht, das weiß man nicht, bzw. will man nicht wissen! Erstrecht werden nicht die wahren Ursachen des Zerfalls der Gemeinden und des Glaubens analysiert.

Anmerkung zur „Gemeindeerneuerung 1988" (!) in St. Georg Ulm - als Brief der Gemeinde an Bischof und HA Pastoral. 

"In der Gemeinde St. Georg (KGR, Pastoralteam, Ausschüsse etc.) wurde in den letzten Jahren das Bedürfnis nach einer lebendigen Gemeinde, Vertiefung des Glaubens und der Besinnung auf das Wesentliche immer stärker. Es ging und geht darum, wie in einer zunehmend ungläubigen Umgebung, Vereinzelung und Hoffnungslosigkeit neue Formen und Strukturen des gemeinsam gelebten Glaubens gefunden werden können. Neue Art des Zusammenlebens, ‚Kontrastgesellschaft‘ und Gemeinschaftsbildung über die Kirchenmauern hinaus sind dafür einige Stichpunkte. Voraussetzung dafür sind eine Abkehr von kirchlicher Service - und Konsumhaltung, ein persönliches Glaubenszeugnis, prophetische Zeichen, kurz: entschiedenes Christentum. Eine Anregung für die Teilnahme an dem Programm ´Gemeindeerneuerung´, war und ist die Partnerschaft mit einer wahrhaft lebendigen Gemeinde in Peru, der wir viele Impulse verdanken.

Dies ist umso wichtiger in einer Welt, in der wegen des herrschenden Götzendienstes das Elend weltweit immer größer wird. Das Ziel ist eine Gemeinde (Gemeinschaft) als Heimat für alle Suchenden, als Ort der Hoffnung, als Licht auf dem Berg, als Sauerteig innerhalb der Gesellschaft. Um dieses angestrebte Ziel nicht aus den Augen zu verliere ist folgendes zu beachten:

1. Gemeindeerneuerung muss von der Gemeinde selbst ausgehen. Gemeindespezifische Anliegen müssen im Vordergrund stehen und dürfen nicht verdrängt werden. Die Erfahrungen anderer Gemeinden sind hilfreich, besonders wie in unserem Fall die befreiende Praxis in unserer peruanischen Partnergemeinde.

2. Die Gemeindeerneuerung selbst sollte auf dem bisherigen Stand der gemeindeinternen Diskussion aufbauen Keinesfalls darf man nicht hinter den bisherigen Diskussionsstand zurückfallen und auch nicht hinter den Stand der eigenen Diözesansynode 1985.

3. Alle Teilnehmer müssen ernst genommen werden (ernst nehmen heißt, dass man ihnen etwas zu - mutet). Teilnehmer und Gemeinde müssen Subjekt sein und nicht Objekte pastoraler Feldversuche. Deshalb ist auch ein allzu kindliches Niveau und eine vernebelnde (esoterische) Sprache zu vermeiden.

4. Die Umwelt (Gesellschaft, Wirtschaft etc.), in der die Menschen leben, darf nicht ausgeklammert werden. Es genügt nicht über Symptome zu reden (z. B. Sprachlosigkeit, Einsamkeit, Spaltung der Gesellschaft), sondern deren Ursachen sind aufzudecken. Es geht um eine Deutung der Welt im Lichte des Glaubens.

5. Reine Selbstbespiegelung oder ‚Heilung der kranken Seele’ ist kein Spezifikum der christlichen Botschaft. Subjektwerdung heißt nicht zuerst religiöse Selbstbefriedigung, sondern Übernahme von Verantwortung, Zeugnis ablegen in dieser Welt und Nachfolge Jesu.

6. Eine unverbindliche und beliebige Bibelauslegung, erst recht eine sachlich falsche Bibelauslegung, führt zu einem pflegeleichten, total verbürgerlichten und angepassten Christentum ohne wirkliche Konsequenzen (und auch umgekehrt). Gerade eine solche Bibelauslegung wird aber von Rom befördert.

7. Die Bibel lehrt uns, die Welt und unser Leben mit neuen Augen zu sehen (neue Brille). Jesus lehrt uns zu sehen mit den Augen der Ohnmächtigen, der Armen, der Außenseiter. Ohne die prophetischen Dimensionen der Frohen Botschaft (Anklage und Verkündigung), bleiben wir blind oder kreisen nur um uns selbst.

8. Als Wichtigstes: Die christologische Komponente darf nicht fehlen: eine Religion ohne Jesus den Christus (und ohne die, mit denen er sich identifiziert), ohne seine Praxis, sein Leben, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung, ist eben nicht christlich. Ein bloß (griechisch) philosophisches Konstrukt gibt kein Leben.

9. Die ekklesiologische Komponente darf nicht fehlen. Ein Ausklammern der Weltkirche - und damit ein Ausgrenzen der Armen - ist sektiererisch. Kirche ist Volk Gottes auf dem Weg in die Befreiung, auf dem Weg vom Tod ("übertünchte Gräber") zu neuem Leben, ist Gemeinde auf der Suche nach neuen Lebensformen angesichts der Realitäten dieser Welt wie Hunger durch Ungerechtigkeit, Zerstörung der Schöpfung usw. Eine solidarische Gemeinde klagt die Ursachen des Elends an und ergreift Partei für die Opfer.

10. Eine Religion ohne Forderungen, d.h. ohne Umkehr und Verkündigung der Frohen Botschaft von der nun anbrechenden Herrschaft Gottes aus der Perspektive der Opfer, ist nicht die Botschaft, die Jesus verkündet. Die Gemeinde hat die Aufgabe, lebendiges Zeichen dieser beginnenden Herrschaft Gottes in der Welt zu sein.

(i.A.: Willi Knecht, Pastoralausschuss) Anmerkung im Advent 2020: Damals blieb das ohne Echo - und heute?

Der komplette Artikel: Kirchenreform?


22. Dez.: Maßregelung gegen Jon Sobrino, UCA - San Salvador

- Zur Theologie von Sobrino und von Ratzinger: Zum Vergleich -

Benedikt XVI. nimmt für sich in Anspruch, dass er allein das Konzil authentisch zu interpretieren vermag. Doch die richtige (authentische) Interpretation des Konzils erweist sich in der Praxis als ein mehr an „Fülle des Lebens“, an Gerechtigkeit und an Freiheit besonders für die, denen dies bisher vorenthalten wurde. Aber diese Praxis, inkarniert und ausgehend von den Freuden und Hoffnungen, den Sorgen und Ängsten der Armen, wird von Rom ignoriert bzw. gar bekämpft..." 

(Erweitertes Manuskript meines Vortrags am 7. Mai 2007 in Ulm, eine Veranstaltung der Kath. Gesamtkirchengemeinde Ulm, mit 120 Besuchern). 

Einführung: Jes 53, 3-11: Der Leidende Gottesknecht steht für das Leidende Volk in Lateinamerika….  Mit dieser Bibelstelle (und es gäbe viele andere) wird der Standort deutlich, von dem aus ich diesen Abend mit Ihnen gestalten möchte. Es ist der Standort nicht nur auf der Seite der Armen, sondern aus der Mitte der Armen heraus formuliert. Im Konflikt Rom - Sobrino geht es um (völlig) verschiedene Standorte innerhalb der Einen kath. Kirche. Dass es verschiedene Standorte, d.h. auch verschiedene Zugänge zu Jesus Christus gibt, ist unbestritten. Jeder von uns ist auf irgendeine Weise konditioniert. Was ich heute abend möchte ist, den Standort der Armen Ihnen vielleicht etwas vertrauter zu machen und mit deren Augen auf das zu sehen, was innerhalb der Kirche und in der Welt generell passiert (z.B. Globalisierung). Wie unterschiedlich man sehen kann, wird schon in der Geburtsgeschichte Jesu deutlich: den Hirten auf dem Felde öffnete sich der Himmel, sie hörten zuerst die Frohe Botschaft von der Geburt des Messias mitten unter ihnen; sie fanden zu Jesus in der Krippe, weil ihr Horizont aufgebrochen wurde. Die Schriftgelehrten in Jerusalem, geblendet von ihrem eigenen Licht, hörten und sahen nichts. Deswegen spreche ich öfters von den „Hirten auf dem Felde“, den Campesinos, den verachteten Indios und ich spreche öfters von der Diözese Cajamarca, in der diese „Indios“ erfahren haben, was die Menschwerdung Gottes mitten unter ihnen für die bedeutet.
 
Am Beispiel der Kirche von Cajamarca kann man exemplarisch sehen, was das Konzil, vor allem aber die Botschaft von der Menschwerdung Gottes und dem beginnenden Reich Gottes bei den Armen und Ausgestoßenen bewirkt hat. Die richtige (authentische) Interpretation des Konzils erweist sich in der Praxis als ein mehr an „Fülle des Lebens“, an Gerechtigkeit und an Freiheit besonders für die, denen dies bisher vorenthalten wurde. Die Diözese Cajamarca gilt unter Kirchenhistorikern als eine der Diözesen, in der am besten der Geist des Konzils verwirklicht wurde - es entstand dort schon vor der Theologie der Befreiung eine befreiende Praxis, aus der heraus die Theologie der Befreiung entstanden ist. So hat Gustavo Gutiérrez dort erfahren, was konkret die Option für die Armen bedeutet. Motor der Entwicklung in der Diözese Cajamarca war Bischof José Dammert Bellido, Bischof in Cajamarca von 1962 - 1992.
 
Ähnliches geschah dann auch in anderen Ländern Amerikas, z.B. in El Salvador. Einer dieser Priester, der mitten unter den Armen lebte und mit ihnen sich auf den Weg zu einer neuen Gemeinschaft machte, war Rutilio Grande, SJ. Weil er die Ungerechtigkeiten und den Terror der Staatsmacht als nicht vereinbar mit dem Kommen des Reiches Gottes ansah und sich mit den Armen zusammen für ein menschenwürdiges Leben einsetzte, wurde er ermordet, am 12. März 1977. Seine Ermordung war der Auslöser für die Bekehrung von Erzbischof Oscar Romero. Genau 30 Jahre nach diesem Mord veröffentlicht Rom eine Ermahnung, die den Mitstreiter von Oscar Romero und den Freund von Rutilio Grande, Jon Sobrino, ermahnt, seine „gefährlichen und irrigen“ Thesen zu widerrufen. Mit dieser Ermahnung werden alle Menschen, die sich im Namen Jesu und im tiefen Glauben an die Verheißungen Gottes auf den Weg gemacht haben, als Irrende bezeichnet, als Menschen auf dem Holzweg.
(Zur Verantwortung von Johannes Paul II. im Bezug auf die Ermordung von Erzbischof Oscar Romero ) 
 
Zur Theologie (Christologie) von Jon Sobrino
 
Der Titel heißt im spanischen Original: Jesus Christus, der befreit (der frei macht). Das Werk könnte auch heißen: Jesus Christus, der Gekreuzigte. Es geht hier fundamental um die Spannung von Tod als „logische“ Folge eines bestimmten Lebens und Auferstehung. Aber dieser Tod am Kreuz war ja nicht irgendein Tod, Jesus wurde als Verbrecher, Unruhestifter, als Ketzer hingerichtet. Und das hatte und hat seine Gründe - wie noch zu sehen sein wird. Die Theologie von Sobrino steht in der Spannung zwischen Kreuz und Auferstehung - zwischen dem unbegreiflichen Leid und der Überwindung von Leid. Dabei wird dieses Leid konkret benannt, vor allem werden die Ursachen für diesen millionenfachen vorgezogenen Tod von unschuldigen Kindern, Männern und Frauen genannt. Es ist die Sünde dieser Welt (Johannes, Paulus), die Menschen ums Leben bringt und es ist die Botschaft Jesu, die ein neues Leben, ein Leben in Fülle ermöglicht. Genauer: es ist die Mensch gewordene Liebe Gottes, der sich so bis zum Äußersten mit den Menschen solidarisiert und deshalb die Menschen von Tod und Sünde befreit. Dies wird als Befreiung bezeichnet, die sich als geschichtliche - nicht bloß transzendente oder metaphysische - Erfahrung in der Nachfolge Jesu zeigt. Befreiung heißt, den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden, dass ihr Leid sich in Freude wandeln wird, dass Lahme gehen, Blinde sehen, Taube hören und Zerschlagene aufgerichtet werden. Ob die Verkündigung dieser Botschaft sich im realen Leben für die Betroffenen auswirkt oder nicht, macht die Glaubwürdigkeit dieser Botschaft und deren Verkünder aus. Bloße Worte, die nichts verändern, oder im Gegenteil gar die bestehende Ungerechtigkeit rechtfertigen, haben dagegen nichts mit der Frohen Botschaft des Jesus von Nazareth zu tun.
 
Zum Aufbau des Buches: Im 1. Band steht der historische Jesus von Nazareth im Zentrum: das Wirken Jesu - seine Botschaft vom Reich Gottes - die neue Botschaft von Gott, dem Vater - Tod am Kreuz. Der 2. Band sollte dann den verkündeten Christus, den Christus des Glaubens, zum Thema haben. Sobrino: es gibt nicht die Christologie, keine Christologie kann komplett sein und alle Aspekte umfassen. Es wird auch immer verschiedene Zugänge geben (Kontext, individuell und gesellschaftlich), das ist schon im NT so angelegt.
 
Der Papst sagt dagegen, dass man für alle Zeiten und unabhängig vom jeweiligen Kontext (Kultur) bestimmen kann, was z.B. „Christus“ bedeutet. Er verwechselt damit die regionale, europäisch (griechisch, römisch, germanisch) ausgeformte Prägung des Christentums (Inkulturation einer vorderasiatischen Religion in Europa, einem inzwischen eher unbedeutenden Teil der Weltkirche) mit dem Gesamt der Kirche Jesu Christi.
Aber das menschliche Konstrukt einer bestimmten Epoche für absolut zu erklären, ist Häresie! 
 
Charakteristisch und im Unterschied zu bisherigen europäischen Christologien (Theologien) geht Sobrino wie andere Theologen der Befreiung von einer bewussten Option aus: von der Verheißung eines neuen Lebens besonders für diejenigen, denen ein Leben in Würde gewaltsam vorenthalten wird. Diese befreiende Dimension zeigt sich durchgängig in der Botschaft Jesu und in der Person des Jesus als Messias. Im Zentrum steht das Reich Gottes, das mit ihm beginnt. Wie im NT und auch den ersten Kirchenvätern steht hier die soteriologische Perspektive im Mittelpunkt. Der Titel „Jesus der Befreier“ gibt dem Messiastitel seine ursprüngliche Bedeutung zurück. Um dies besser zu verstehen, muss man von einer konkreten Realität ausgehen, sowohl zu Zeiten Jesu (Not des Volkes, Ausschluss ganzer Bevölkerungsschichten, der „Unreinen“, der „Anderen“ etc. und die entsprechenden Messiaserwartungen) als auch heute, z.B. El Salvador: Das Kreuz ist Realität, Märtyrer sind Realität, Auferstehung ist Realität. Das Leben und Leiden Jesu ist aktuell. An Christus glauben heißt, Jesus nachfolgen. Dieser Glaube ist konfliktiv, er drängt zur Entscheidung, er realisiert sich auf der Seite der Armen.
 
Option für die Armen - der entscheidende Grundbegriff (aus: Willi Knecht: “Die Kirche von Cajamarca - Die Herausforderung einer Option für die Armen).
 
Ausgangspunkt ist immer der Mensch - und zwar nicht der Mensch „an sich“, sondern der leidende, der unterdrückte Mensch, an den Rand gedrängt oder gar von der Vernichtung bedroht. Dieser Mensch hat ein konkretes Gesicht. Ausgangspunkt ist die Frage, wie man an einen Gott der Liebe glauben kann, wenn man nicht weiß, wie man den ständigen Hunger seiner Kinder stillen kann oder: wie kann man angesichts der real existierenden tödlichen Gewalt an den Gott des Lebens glauben? Diese Realität zu sehen ist eine Sache, und dies ist unerlässlich. Eine andere Sache aber ist, wie ich mich dieser Realität gegenüber verhalte, z.B. ob ich sie gleichgültig hinnehme oder sie als ein „zum Himmel schreiendes Unrecht“ entlarve und dagegen aufstehe. Das letztere kann ich erst aufgrund einer Option tun. Die Option für die Armen beinhaltet notwendigerweise eine Option für eine bestimmte Praxis. Diese geht von einer Analyse der Situation und deren Deutung aus. Die Armut wird zuerst verstanden als ein von Menschen verursachter Zustand, der fundamental der Würde des Menschen als Kind Gottes widerspricht und damit Gott selbst. Davon muss die Armut unterschieden werden, die von Nicht-Armen freiwillig aus Solidarität mit den Armen gewählt wird. „Konkret heißt arm sein: Hungers sterben, Analphabet sein, von den anderen ausgebeutet werden, dabei noch nicht einmal wissen, dass man ausgebeutet wird, ja sogar nicht ahnen, dass man Mensch ist“. Diese Feststellung muss aber gedeutet werden: „Arme gibt es, weil es Menschen gibt, die Opfer in der Hand anderer Menschen sind“. Und theologisch gedeutet: „Das Bestehen von Armut spiegelt einen Bruch in der Solidarität der Menschen untereinander und in ihrer Gemeinschaft mit Gott, Armut ist Ausdruck von Sünde, d.h. der Verneinung von Liebe. Deshalb ist sie unvereinbar mit der Herrschaft Gottes, die ein Reich der Liebe und der Gerechtigkeit inauguriert“. Dies führt zu einer konkreten Glaubenspraxis: existentielles Engagement gegen die Ursachen der Armut und gegen jede Form von Ungerechtigkeit und für die Überwindung der Abgründe zwischen den Menschen und Leben in einer Gemeinschaft, die ein Zeichen Gottes in dieser Welt ist. Die Propheten bezeichnen dies als den „wahren Gottesdienst“ (Amos 5, 21-27). Eine solche Option ist unmissverständlich. Sie ist nicht neutral, weil Gott nicht neutral ist, sondern Partei ergreift. Erst recht meint sie nicht, dass im Grunde auch die Reichen oder alle Menschen - spirituell - arm seien. Denn Jesus und die Propheten sprechen eindeutig von den Armen als Opfer der herrschenden Ungerechtigkeit. Die Reichen sind aber nicht ausgeschlossen. Annehmen der Botschaft Jesu bedeutet für sie Umkehr, eine Bekehrung zu den Armen. Wenn die Kirche von den Armen ausgeht, ist sie für alle Menschen da, denen die Fülle des Lebens bewusst, persönlich oder strukturell, vorenthalten wird. Das Zweite Vatikanische Konzil (ansatzweise) und dann vor allem Medellín haben wie die Propheten die Armen in den Mittelpunkt gestellt. Dies geschah um der Kirche selbst und um ihrer Botschaft willen. Option für die Armen bedeutet, den Kern der christlichen Botschaft zu erkennen, Jesus nachzufolgen und (für Nicht-Arme) Christus im Armen zu begegnen. Diese Erkenntnis ist ein Akt tiefer Spiritualität und gelebter Praxis.
 
Sobrino zählt verschiedene Christologien - Christusbilder - auf, die in der Geschichte dazu dienten, die Menschen zu manipulieren und zu beherrschen. Allen ist gemein, dass der historische Jesus eigentlich ohne Bedeutung ist. Stattdessen wird der überirdische Christus verkündet - a-historisch, a-sozial, nur abstrakt usw. Dies führt dann auch zu einer entsprechenden Praxis: Sobrino erinnert an die Geschichte der Eroberung im Namen des Kreuzes mit seinen unsäglichen Folgen für die Völker Amerikas.
 
Ein konkretes Beispiel dafür, welche Konsequenzen das jeweilige Christusbild besonders für die Armen hat, ist das Beispiel des Nachfolgers von Bischof Dammert, Bischof Simón als Bischof in Cajamarca von 1992 - 2004. Bischof Simón ließ aus allen Kirchen die Jesusdarstellungen entfernen (und auf den Müll werfen), die Jesus z.B. als Indio dargestellt haben, als (Mit-) Leidenden, in zerrissener Kleidung etc. Simón: „Christus so darzustellen ist eine Gotteslästerung“. Stattdessen ließ er Bilder aufhängen, die Christus als Himmlischen Herrscher darstellen, als strahlenden Helden und buchstäblich über den Wolken schwebend und - natürlich - mit europäischem Aussehen. Jesusdarstellungen der Zeugen Jehovas und anderer Sekten sehen ähnlich aus. Bischof Simón kann sich - mit Recht? - auf den Papst berufen, erst recht nun auf Benedikt XVI.
 
Auch das nächste Beispiel zeigt, wie eine entfremdete Theologie zu einer entfremdenden Praxis führt. Oder umgekehrt: ein auf den Kopf gestelltes Christentum im Interesse der Herrschenden wird durch eine entsprechend zurechtgezimmerte Theologie gerechtfertigt - mit fatalen Folgen für die Armen.  Bischof Simón und sein Verständnis einer Option für die Armen. Ich fragte ihn 1993 danach, wie er es mit der Option für die Armen zu halten gedenke. Er erklärte mir, dass sein Vorgänger, Bischof Dammert, zwar immer von dieser Option geredet, aber genau das Gegenteil gemacht habe. Da Dammert - laut Simón - nur „Politik betrieben und sich nur um soziale Aspekte gekümmert habe“, habe er die geistige Dimension des Christentums völlig vernachlässigt. Die Menschen hätten sogar das Beten verlernt und würden nicht einmal das Vater Unser kennen. Dadurch hätte man ihnen aber die Chance auf das Ewige Leben genommen und sie damit letztlich dem Tod und der Verdammnis überlassen. Er aber - Bischof Simón - würde nun dafür sorgen, dass die Armen wieder die Sakramente der Kirche empfangen können. Damit würde ihnen die Möglichkeit gegeben, das Ewige Leben in der Vollendung mit Gott zu erhalten. Wer würde also in Wirklichkeit mehr für das Heil der Armen tun, Bischof Dammert oder Bischof Simón?
 
Seit Medellín gilt aber als Auftrag der Kirche, aus der Botschaft Jesu Christi abgeleitet (laut Sobrino):
  • Alle Menschen aus Knechtschaft befreien (auch Reiche als Sklaven ihrer Habgier)
  • Armut und deren Ursachen sind konkret zu benennen (Analyse > Sündhafte Strukturen) und die Befreiung ist irdisch konkret zu benennen (Brot für alle, Menschenwürde, Rassismus …)
  • Deuten der Welt (Wirtschaft etc.) aus der Perspektive der Armen, weil Gott selbst sich arm machte
  • Gegenwart Christi vor allem in den Unterdrückten - Arme als Sakrament der Gegenwart Christi
Doch die Aussagen von Medellín werden heute von den meisten Bischöfen in LA nicht nur nicht beachtet, sondern - meist ohne wirkliche Kenntnis - verurteilt.
 
Christus und die Kirche der Armen
 
Die Kirche ist der reale Ort für die Christologie wie für jede Theologie. Wir wissen nur etwas über Jesus, weil es danach die Kirche gab. Kirche und Lehramt haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Jesus Christus zu verkünden und eindeutig falsche Christusbilder und falsche Praktiken zu benennen (da hätte sie wahrhaft heute noch viel zu tun….). Andererseits gilt: die Kirche ist nicht der einzige Ort der Christuspräsenz, Christus ist nicht Eigentum der Kirche.
In der Kirche der Armen wird am besten deutlich (aber nicht exklusiv) was der Glaube an Christus bedeutet. Ihre zentrale christologische Aussage lautet: Im Kontext von Elend und Gewalt die Ankündigung eines Lebens in Fülle, der beginnenden Herrschaft Gottes; der Gott des Lebens überwindet die Mächte des Todes (die herrschenden Götzen). Dies ist konkret erfahrbar und gerade dadurch ein Zeichen der Offenbarung und der Gegenwart Gottes. Diese Erfahrung des Kreuzes und der Auferstehung Jesu kann für Menschen, die selbst nicht in einer Praxis der Befreiung stehen, ein notwendige Ergänzung und Bereicherung ihres Glaubens sein. Sind es doch die Armen, die zeigen, was Gott mit den Menschen vorhat. Dies gilt auch für die Mitglieder einer Glaubenskongregation und selbst für den Bischof von Rom. Damit ist kein Gegensatz gemeint, sondern - falls nötig - eine Ergänzung, eine Hilfe. Umgekehrt: auf die Erfahrungen einer Kirche der Armen, auf das gelebte Christuszeugnis von Menschen in der Nachfolge (bis zum Märtyrertod) zu verzichten, führt zu einer dramatischen Verarmung und Verkürzung des christlichen Glaubens und in dessen Folge zu einer leb- und geistlosen Kirche.
 
Sobrino, Zitat S. 58: „Wenn die Theologie die Armen ernst nimmt, wirft man ihr vor, einer Ideologie zu erliegen und wenn sie die Armen ignoriert, wird ihr ernsthaftes theologisches Denken attestiert.“
 
Das Anliegen Sobrinos ist, die Bedeutung des historischen Jesus zu betonen, weil dessen konkretes Menschsein, seine Menschwerdung, sein schrecklicher Tod am Kreuz (er wurde zu Tode gefoltert) oft vernachlässigt wird und vielmehr immer noch (oder wieder) ein sehr abstraktes Christusbild vorherrscht (angefangen bei Bultmann etc. der „Christus des Kerygma“, europäische Christologien (- Theologie der Sieger, da Rechtfertigung europäischer Herrschaft?).
Hünermann, April 2007: “Doch was will der Papst selbst? Nach eigenem Bekunden möchte er den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den „historischen Jesus im eigentlichen Sinn“ darstellen. Dazu trifft er aus dem reichen Schatz der biblischen Texte eine Auswahl und lässt eine beeindruckende Abfolge von Bildern Jesu entstehen. Auffallend ist allerdings, dass er die Praxis Jesu - seine Zuwendung zu den Armen, den Kindern, den Kranken, den Sündern - unerwähnt lässt. Dem entspricht freilich die Zielrichtung des gesamten Buches: Es geht dem Papst wesentlich um die Göttlichkeit Jesu”.
 
Das Konzil aber sagt, dass wir nur über und durch den historischen Jesus von Nazareth wissen, wer und wie Gott ist - sein Wille, Verhältnis der Menschen zu ihm und untereinander. Und wie und was der Mensch ist - d.h. was seine Berufung ist - wissen wir durch Jesus. Beides zusammen sind Grundlagen moderner Theologie (bes. von K. Rahner entwickelt) und des Konzils. Und die Geschichte Gottes mit den Menschen und umgekehrt wird dann und dort am deutlichsten, wo Not und Unterdrückung am größten sind (vom Exodus bis Lateinamerika heute).
Jesus ist die unüberbietbare Selbstoffenbarung Gottes. Dies wird geschichtlich - über konkrete Taten und Menschen - vermittelt. Inhalt der Botschaft Jesu ist das Reich Gottes. Die Offenbar einerseits ist einmalig (in Jesus), andererseits wird sie „fortgeschrieben“, ist dynamisch. In den entsprechenden Gleichnissen, Taten, Wundern, Heilungen geht es nie um „Gott an sich“ oder den „Menschen an sich“, sondern um einen Gott, der vergibt, der heilt, der verzeiht, der das Heil und Wohl der Menschen will. Die Adressaten sind jeweils ganz konkrete Menschen: Aussätzige, Verstoßene, Benachteiligte, Arme. Und Gott ist jemand, der rettet, der befreit, der eine Beziehung unter den Menschen und der Menschen mit Gott schafft. Er ist auch jemand - wie Jesus - der zürnt und verflucht, falls Menschen trotz allem nicht umkehren!
 
Als Beispiel: Streit über den Glauben Jesu: Thomas von Aquin: „Der Gegenstand des Glaubens ist etwas Göttliches, noch Ungeschautes… Da also Christus vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an Gottes Wesen in seiner Fülle schaute, konnte ER den Glauben nicht haben“ (er glaubte nicht, er wusste ja bereits alles, allwissend). Ausgangspunkt einer solchen Überlegung, die nicht biblisch ist, ist die hypostatische Union. Diese Vorstellung lässt sich nicht nur nicht mit dem biblischen Jesus in Übereinstimmung bringen, sondern sie bedeutet, dass Jesus nicht in allem mit uns gleich sei, also nicht wirklich Mensch geworden ist. Diese scholastische Position schien bisher in der modernen Theologie überwunden, nun kommt sie aber wieder zurück - nicht als theologischer Diskussionsbeitrag, sondern qua absolutes Lehramt. Jesus wusste von Anfang an in all seiner Fülle von seiner Göttlichkeit - sagt die Notifikation.
 
Zeichen und Handlungen Jesu (im Rahmen seiner Botschaft vom Reich Gottes, Jesus als der Prophet)
 
Propheten: Anklage und Verkündigung - „Kehrt um - Reich Gottes ist mitten unter euch“. Die Handlungen Jesu sind sowohl Zeichen der Gegenwart Gottes (Zeichen - noch nicht die Fülle) als auch Verheißungen.
Dies ist keine Botschaft an Individuen, sondern die Transformation der Gesellschaft ist das (vorläufige) Ziel. Die gegenwärtige Realität wird als „Gottesferne“ denunziert, weil es so viele Arme und Ausgegrenzte gibt. Das zeigt sich vor allem in der Verurteilung Jesu (Gesetz, Gotteslästerung, Tempelreinigung). Gott will zuerst das Leben. Rechter Gottesdienst ist Dienst am Menschen, besonders dem Notleidenden. Die richtige Beziehung zu Gott zeigt sich in der richtigen Beziehung zum Nächsten (siehe Jesus).
Jesus ist eine Gefahr, weil er falsche Gottesbilder entlarvt, die der Rechtfertigung eigener Interessen dienen, die Herrschaft und Unterdrückung rechtfertigen. Der real existierende Tempel ist für Jesus das Symbol der Macht: Ökonomisch, er hat die Definitionshoheit über Gut und Böse (Gott); Kult und Opfer als Hauptsache, Heilsgewissheit durch Befolgen der Gesetze und des Kultes. Jesus warnt generell vor dem Reichtum, in doppelter Hinsicht: Existenz von Reichtum bei gleichzeitig wachsender Armut ist eine Beleidigung Gottes und des Menschen. Der Reichtum (genauer: die Gier und Habsucht) wird zum Götzen, um den sich alles dreht. Folge: Leben wird verhindert oder gar zerstört. Aber auch der Reiche verfehlt sein Leben, er hängt sein Herz an Schätze, die vergehen (Luther); es kommt zu einer „Verkommerzialisierung“ aller menschlichen Beziehungen, Egoismus wird als notwendige Eigenschaft im Konkurrenzkampf gefordert; er verfehlt den Nächsten (kann ihn noch nicht mal wahrnehmen) und er verfehlt Gott.
 
Exkurs: europäische Auseinandersetzung mit Atheismus: Existenz Gottes als phil. Problem und rein phil. Diskurs, als eigentliche Herausforderung; ohne jede wirtschaftl. pol., gesell. Konsequenz und erst recht keine Analyse und Deutung bestehender Wirklichkeiten (Götzen); keine Anfrage an die wirklich herrschenden Götzen. Beispiel Walter Kasper: Die historisch konkrete Bestimmung dessen, was verabsolutiert wird, fehlt (z. B. konkret die weltweit herrschende Wirtschaftsordnung, die sich für absolut hält). Er spricht von Atheismus, ohne die Opfer des herrschenden Götzendienstes auch nur zu erwähnen. Die Verehrung ganz konkreter Götzen führt aber zum millionenfachen Tod. Analyse und Interpretation der Globalisierung im neoliberalen Gewand ist unabdingbarer Teil der Theologie, weil Aufdecken von Götzendienst, Frage nach Ursachen für den millionenfachen Tod und auf diesem Hintergrund die Verkündigung des biblischen Gottes, wie er sich in Jesus offenbart hat und der das Leben all seiner Kinder will. Die Beschäftigung mit dem vorzeitigen Tod, dessen Ursachen, die Frage nach den Verursachern und den Opfern muss zum unverzichtbaren Bestandteil der Theologie werden. In der europäischen Theologie aber geschieht das bestenfalls ansatzweise.
 
Als weiteres Beispiel für eine konkrete Verwechslung dessen, was Politik bedeutet und was vor allem entweder Glaube in der Nachfolge Jesu oder Götzendienst bedeutet liefert wiederum exemplarisch die Praxis von Bischof Simón in Cajamarca (2003): Um Cajamarca herum liegen die profitabelsten Goldabbaustätten der Welt (siehe www.cajamarca.de - Goldabbau in Cajamarca). Davon betroffen sind vor allem die Campesinos. Deren Not ist nachweisbar seit dem Beginn der Bergwerktätigkeiten größer geworden. Als diese Campesinos wegen schwerer Eingriffe in ihre Landwirtschaft (z.B. wird ihnen buchstäblich das Wasser abgegraben) die Zufahrten der Minengesellschaft blockierten und forderten, mit Vertretern der Mine zu sprechen, riefen die Minenbesitzer den Bischof zu Hilfe. Dieser sagte den Campesinos, sie sollten nach Hause gehen, der Protest sei illegal und Christen dürften sich nicht in Politik einmischen. Als die Campesinos auf ihrem Protest beharrten, schlug ihnen der Bischof seine Vermittlung vor: eine Delegation der Campesinos solle sich morgen im Bischofshaus in der Stadt Cajamarca einfinden, er würde dafür sorgen, dass Vertreter der Mine ebenfalls kommen würden. Als sich die Campesinos darauf einließen und am nächsten Morgen mit einer Delegation (10) erschienen, waren die Vertreter der Mine nicht da, dafür aber der Staatsanwalt und die Polizei, die dann die anwesenden Campesinos verhafteten. Darauf zogen etwa 20.000 Campesino in die Stadt ein, einige ketteten sich an den Bischofspalast an und riefen: „Herr Bischof, an welchen Gott glaubst du - an den wahren Gott oder an das Geld der Goldmine“?
 
Eine Theologie, in der Gott nicht wirklich Mensch geworden ist, führt zu einer Menschen feindlichen Praxis. Und ein Bischof - und solche gibt es inzwischen in Peru sehr viele - der es vorzieht, sich mit den Reichen an einen Tisch zu setzen und deren Brot zu essen und gleichzeitig die Armen ausliefert, schließt sich selbst von der Kirche Jesu Christi aus; er ex-kommuniziert sich, weil er nicht mit den Armen kommuniziert (sondern sie anlügt), weil er nicht in Gemeinschaft mit ihnen lebt und glaubt und vor allem, weil er mit ihnen nicht das Brot bricht, sondern dazu beiträgt, dass den Armen das tägliche Brot genommen wird. Und was hat das alles mit der Notifikation zu tun? Wenn eine solche befreiende Praxis, wie bei Bischof Dammert, Bischof Oscar Romero, den Jesuiten in El Salvador und so vielen anderen, von Rom als Gefahr betrachtet wird, wenn alles getan wird, um mit Hilfe von Bischofsernennungen und lehramtlichen Verurteilungen die Kirche der Armen zu zerstören, dann müssen sich der Papst und seine Glaubenskongregation ebenfalls die Frage gefallen lassen: „An welchen Gold glaubst du?“ Und die Antwort auf diese Frage zeigt sich nicht im korrekten Zitieren der Konzilstexte aus dem 4. und 5. Jahrhundert, sondern darin, in welchem Maße den Armen die Frohe Botschaft verkündet wird. Und was dies wiederum konkret bedeutet und was es bewirkt, zeigt sich exemplarisch in Cajamarca bzw. im „Pilotprojekt“ von Bischof Dammert, in der Pfarrei Bambamarca (s.u.).
 
Kreuz und Tod
 
Das Kapitel von Kreuz und Tod beginnt mit der Bestimmung dessen, was Inkarnation und Menschwerdung Gottes bei den Campesinos bedeuten. Denn Menschwerdung, Leiden, Tod und Auferstehung bilden eine unzerstörbare Einheit. Ist Gott nicht wirklich Mensch geworden, gibt es auch keine Auferstehung für die Menschen. So gab es über 400 Jahre hinweg bei den Campesinos kein Weihnachten und kein Ostern. Das Weihnachtsfest war unbekannt und die Karwoche endete mit der Trauer um den gekreuzigten Jesus. Hier nun wieder ein Beispiel aus der Praxis, aus Bambamarca:
 
In Verbreitung der Guten Nachricht spielten die Bibel und die Tatsache, dass die Campesinos die Bibel nun selbst lesen konnten, eine entscheidende Rolle. Eigentlich eine banale Erkenntnis. Doch in Bambamarca hat diese Erkenntnis das Leben der Menschen verändert. Ältere Katecheten sprechen in diesem Zusammenhang von einer Bekehrung, die alle Bereiche des Lebens umfasste. „Seit diesem Augenblick begann ich die Bibel zu lesen und kennen zu lernen. Ich besuchte viele Kurse, bis nach Lima und die Arbeit als Katechet in allen ihren Dimensionen gefiel mir immer mehr. Meine Hauptaufgabe bestand darin, die Bibel mit meinen Brüdern, den Campesinos, zu lesen. Mein Auftrag lautete: die Gute Nachricht anzukündigen... Seit dem ersten Bibelkurs auf der Hazienda Chala, mit 60 zukünftigen Katecheten, habe ich viele neue Dinge kennen gelernt, ich habe Zusammenhänge verstanden, ich habe das Leben kennen gelernt, das menschliche Wesen, was es heißt, Person zu sein, was Familie bedeutet... Seit 1962 hat sich die Kirche verwandelt - man knüpfte am Traditionellen an, aber Schritt für Schritt entdeckten wir die Situation, in der wir lebten. Vor 1962 war die Kirche völlig anders, es gab nichts für uns“.
Mit der Entdeckung der Bibel als eine „Frohe Botschaft für die Armen“, die den Beginn einer neuen Zeit verkündet, rückt sowohl das Leben und die Botschaft des Jesus von Nazareth in den Mittelpunkt, als auch dessen Verkündigung als Christus durch seine Jünger gemäß dem Zeugnis und der Praxis der ersten Christen. Jesus von Nazareth und der auferstandene Christus sind für die Campesinos eine untrennbare Einheit, die nicht zur Disposition steht. Die Geburt Jesu „draußen vor den Toren der Stadt“ unter den Indios und nicht unter den Weißen in der Stadt oder in Europa, sondern in einer Hütte und die weiteren Umstände der Geburtsgeschichten werden für die Campesinos zur aktuellen Botschaft: Jesus ist mitten unter uns geboren, in unser Elend und unsere Ausweglosigkeit hinein. Doch dieser Jesus ist für sie nicht irgendwer, er ist „Gott unter den Menschen“. Dies ist die eigentliche Entdeckung: dass Gott genau so ist, wie ihn Jesus durch seine Botschaft und sein Zeugnis gelebt hat."
 
Mit der Ankunft der neuen Pastoral hat die Situation der Ausgrenzung eine neue Sinndeutung erhalten: Jesus, Gott selbst, kam auch auf den Feldern von Bambamarca zur Welt. Er wuchs mit den Windeln aus Wolle auf, so wie sie unsere Kinder tragen; er rannte über die schlammigen Wege; er schwitzte, als er in den Mais- und Kartoffelfeldern arbeite; er ging in die Stadt hinunter, um die Leute zu trösten, die im Tausch ihrer Produkte immer betrogen wurden. Der Campesino Jesus sang und tanzte auch in froher Runde auf den Festen und Geburtstagsfeiern mit seinem Volk. Und er wurde traurig, als er von den Problemen hörte, die die Arbeit mit sich brachte. Aber vor allem teilte er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Campesinos von Bambamarca... Jesus hat sich so sehr mit seinen Leuten identifiziert, ist eins und Fleisch geworden mit ihnen, dass die Polizisten, als sie ihn gefangen nehmen wollten, ihn nicht von seinen Freunden unterscheiden konnten. Daher musste ihnen der Verräter ein Zeichen geben. Dieses Gefühl der Identifizierung hat alle, die an der Ausbildung dieser neuen Pastoral teilnahmen, überwältigt.” (Leonardo Herrera, Bambamarca). In diesem Bekenntnis ist das, was in der Theologie mit Inkarnation bezeichnet wird, auf eine authentische Weise ausgedrückt. Es ist die Menschwerdung Gottes inmitten der „Indios dieser Welt“, der misshandelten Kreatur und Schöpfung, die zusammen mit der sich daraus ergebenden Auferstehung das wesentlich und unterscheidend Christliche ausmacht - im Unterschied zu jeder anderen Religion. Dieses Einswerden Jesu mit seinen Leuten ist es, dass „diese Leute“ hat entdecken lassen, dass es Wege aus der Sklaverei gibt, weil der Gott des Lebens ihnen den Weg weist und sie führt.
Die Einführung des Weihnachtsfestes auf dem Land ist ein Ergebnis der neuen Pastoralarbeit. Im Glauben der Campesinos bedeutet dies, dass ihr Schicksal als Indios nicht naturgegeben und nicht von Gott gewollt ist, sondern dass der tödliche Kreislauf von Unterdrückung, Armut und Hoffnungslosigkeit durchbrochen wird. Auferstehung ist für sie eine „logische“ (hier: eine nicht mehr näher zu begründende Erfahrung) Konsequenz der Geburt Jesu als Sohn Gottes. Die Menschwerdung und Gegenwart Gottes sprengen notwendigerweise alle scheinbar unüberwindlichen Fesseln. Historisch gewachsene Gegebenheiten, wie Unterdrückung, Ungerechtigkeit und die Rolle der Religion, werden als solche erkannt und relativiert, d.h. sie werden entmythologisiert und nicht mehr als allmächtig und unveränderlich angesehen. Die Campesinos haben am eigenen Leib erfahren, dass über Jahrhunderte fest zementierte Zwänge überwunden werden können. Wenn der Gott des Lebens mitten unter den Menschen „wohnt“, dann ist auch die Zukunft offen und eine bessere Welt ist möglich. Wie aber Jesus selbst erfahren musste, so erfahren auch die Campesinos, dass sie auf diesem Weg verfolgt, verleumdet und eingesperrt werden. Doch weil der Weg Jesu nicht am Kreuz endete, sondern heute mitten unter ihnen lebt und sie begleitet, deswegen werden das Kreuz und der Tod nicht das letzte Wort behalten.. Das bedeutet für die Campesinos Auferstehung.
(aus: Willi Knecht: “Die Kirche von Cajamarca - Die Herausforderung einer Option für die Armen.)
 
Man braucht eine tiefe Spiritualität, um erahnen zu können, was die Menschwerdung Gottes bedeuten kann. Ein Blick auf die Menschen, die diese Menschwerdung konkret am eigenen Leib erfahren haben, kann uns helfen, neue Dimensionen unseres Glaubens und unseres Lebens zu entdecken. Das gleiche gilt für die Hingabe Jesu am Kreuz, sein Tod und seine Auferstehung.
Der Tod Jesu war vorhersehbar. Er ist die logische (innerweltlich) Folge seiner radikalen Infragestellung der “Götzen dieser Welt” (Liebe oder Gesetz, Gott oder Mammon). Der Tod Jesu ist natürlich einerseits singulär (Messias), andererseits aber alltäglich und überzeitlich. Wer aufsteht gegen die Repräsentanten der herrschenden Ordnung ist eine Gefahr und wird beseitigt. Dies ist eine sehr aktuelle Botschaft. Schuld sind nicht einige Pharisäer oder Schriftgelehrte (oder einzelne Konzernbosse etc.), sondern das Gesetz an sich, die scheinbar unabänderliche Funktionsweise von Macht- und Herrschaftsstrukturen, das Gesetz dieser Welt (Johannes, Paulus). Jesus war sich dessen natürlich bewusst, er kannte das Schicksal der Propheten. Und trotzdem ging er nach Jerusalem - in die Höhle des Löwen, ins Zentrum der Macht. Er ging seinen Weg zu Ende in radikaler Treue zu Gott und als Dienst an den Menschen. Sich im Geiste (in der Sendung) Gottes auf diese Welt einzulassen, bedeutet Todesgefahr. Aber nur so ist die Sünde dieser Welt zu überwinden. Gott kam in diese Welt, so wie sie ist, aber nicht um sie zu rechtfertigen, so wie sie ist, sondern um sie zu retten. Und diese Befreiung aus diesem scheinbar ewigen Kreislauf von Gewalt und Elend ist möglich. Das zeigt sich - heute wie zur Zeit Jesu - besonders an den Armen, denen die Frohe Botschaft verkündet wird und die selig gepriesen werden, nicht weil sie arm sind, sondern weil ihre Armut nun zu Ende geht und eine neue, andere Zeit beginnt.
 
Jesu radikale Hingabe und Konsequenz macht den Weg frei, diese Welt menschlicher bzw. dem Willen Gottes ähnlicher werden zu lassen. Die “Sünde dieser Welt” wird überwunden durch Liebe, in der Hingabe bis zum Tod. Sünde ist all das, was die Menschen ums Leben bringt, was Opfer schafft. Konkret: Indios leiden unter Hunger, Diskriminierung etc. Mit Jesus in ihrer Mitte werden sie zu Menschen, zu einer Gemeinschaft mit neuer Perspektive, die schon jetzt konkret erfahrbar ist. Die Sünde wird dadurch überwunden, dass man die Sünde auf sich nimmt, bzw. sich ihrer bewusst wird. So ist Jesus für uns gestorben, er hat die Konsequenzen der Sünde (Gewalt, Tod) auf sich genommen und gerade dadurch ihre Macht gebrochen. Gott bekennt sich zu dem Leben Jesu, einschließlich des Kreuzes. Gott selbst offenbart sich in der Hingabe Jesu als ein Gott des Lebens und einer neuen Gemeinschaft (neuen Welt), in der der Tod nicht das letzte Wort hat. Dies ist aber nicht nur eine Selbstoffenbarung Gottes, sondern es wird deutlich, wer wir sind, was unsere Aufgabe ist und zu welchem Leben wir berufen sind. Gegensatz: Gott des Lebens und Sterbenlassen Jesu?
Inkarnation Gottes ist nur dann wirklich, wenn zu 100%, also inklusive sinnloses Leid, Kreuz, Folter, Mord an Kindern etc. Solidarität mit Armen, Nachfolge Jesu bedeutet daher auch Ungerechtigkeit auf sich nehmen, verhöhnt zu werden.
 
Das gekreuzigte Volk - Warum gibt es so viele unschuldige Opfer?
 
Vom gekreuzigten Christus sprechen heißt, von den heute gekreuzigten Menschen zu sprechen. Im Leiden dieser Welt und so vieler Menschen wird Gott gekreuzigt. Gerade hier aber zeigt sich der Auftrag der Christen: dieses Leid, die Ungerechtigkeit, das Kreuz durch Hingabe zu überwinden. Weil Jesus diesen Weg gegangen ist und von Gott als Messias bestätigt wurde, ist dieser Weg nun frei. Warum schwieg Gott bei Jesu Tod, warum schweigt er heute? Auch er leidet und solidarisiert sich gerade so. Die Opfer dieser Welt sind daher die Orte der Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis, in ihnen lässt sich das wahre Wesen Gottes erahnen, sie vergegenwärtigen ihn und werden so der „Ort“ der Offenbarung Gottes heute. (einerseits einmalig, andererseits immer wieder neu in Geschichte und mit Menschen, dynamischer Prozess).
 
Traditionell: Leid, Opfer etc. - immer nur individuell (meine Errettung…). Christus hat aber einen Leib, bzw. die Kirche ist der Leib Christi. Dieser Leib Christi ist auf immer wieder neue Weise in der Geschichte gegenwärtig, besonders eben in den Menschengruppen und Völkern, die unter die Räuber gefallen sind. Welche Schuld haben sie? Keine, wie Jesus. Sie sind die Opfer einer organisierten Gewalt. Von Menschen so gemachte Strukturen und Abläufe lassen die Kluft zwischen den Menschen immer größer werden. Und wenn die Opfer aufstehen, werden sie auch noch verhöhnt, verleumdet und aktiv bekämpft - siehe der leidende Gottesknecht, Jes 53: Gott ist hier nicht nur parteiisch sondern mehr: Die Armen, die Opfer werden von Gott auserwählt, um für alle Menschen exemplarisch zu zeigen, was Erlösung und Befreiung bedeuten. Als Botschaft an die reichen Völker gilt: Das Geringe wird erwählt, um die Welt zu retten. Das gekreuzigte Volk Gottes bestätigt einerseits die Existenz und Wirkmächtigkeit der realen Sünde dieser Welt und zeigt andererseits der ganzen Menschheit den Weg zur Umkehr und die Gewissheit der Errettung durch Gott. Was dies bedeutet, ist in Jesus Christus für alle Zeit offenbar geworden.
 
Das Lehramt stellt die “gefährlichen Irrtümer” von Sobrino in sechs Punkten dar:

1. „Der kirchliche Ort der Christologie kann nicht die ‚Kirche der Armen‘ sein, sondern der apostolische Glaube, der von der Kirche an alle Generationen überliefert worden ist… Aufgrund seiner besonderen Berufung in der Kirche muss sich der Theologe ständig vor Augen halten, dass die Theologie Wissenschaft des Glaubens ist.“
 Die Kirche ist der reale Ort für die Christologie wie für jede Theologie. Wir wissen nur etwas über Jesus, weil es danach die Kirche gab. Kirche und Lehramt haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Jesus Christus zu verkünden und eindeutig falsche Christusbilder und falsche Praktiken zu benennen (da hätte sie wahrhaft heute noch viel zu tun). Andererseits gilt: die (verfasste) Kirche ist nicht der einzige Ort der Christuspräsenz, Christus ist nicht Eigentum der Kirche. Die Existenz einer Kirche der Armen erinnert die Kirche als Ganzes an ihre Fundamente und an ihre zentrale Bestimmung: Zeichen des Heils zu sein, vor allem für die Bedrängten, die Verfolgten, die Opfer. Der Ausdruck "Kirche der Armen" stammt von Johannes XXIII., der zur Einleitung des Zweiten Vatikanischen Konzils drei große Aufgaben nannte: Die Öffnung der Kirche zur Welt von heute, die Bewahrung der Einheit der Christen sowie die Anerkennung der Kirche der Armen. Kardinal Lercaro griff dieses Thema auf und erkannte, dass das Konzil dieser Aufgabe nur gerecht werden kann, wenn die Kirche das Geheimnis Jesu Christi in den Armen "zum Zentrum, zur Seele der doktrinalen und gesetzgebenden Arbeit dieses Konzils" macht. Sobrino macht nichts anderes als diesen Impuls, der sich dann vor allem in Gaudium et Spes niedergeschlagen hat und der von der lateinamerikanischen Bischofssynode in Medellín weiter getragen wurde, christologisch und ekklesiologisch auszufalten und in der konkreten Erfahrung der einfachen Menschen zu verankern. (Bischof Dammert war entscheidender Motor der Bewegung der “Kleinen Bischöfe” im Geiste von Charles de Foucauld, die feierlich gelobten, diese Kirche der Armen in ihren eigenen Diözesen auf den Weg zu bringen).
 
2. Was die „Göttlichkeit Jesu“ angeht, wird darauf hingewiesen, dass mehrere Behauptungen des Autors die Tendenz haben, die Tragweite der Erzählungen des Neuen Testaments, in denen bejaht wird, dass Jesus Gott ist, herabzumindern“. Sobrino sei der Ansicht, dass die Göttlichkeit Jesu Christi erst nach einer langen Zeit gläubiger Reflexion angenommen worden und im Neuen Testament nur „im Keim“ enthalten sein. Der Heilige Stuhl hält diesbezüglich fest: „Das Bekenntnis der Göttlichkeit Jesu Christi ist ein absolut wesentlicher Punkt des Glaubens der Kirche seit ihren Anfängen und findet seine Bezeugung schon im Neuen Testament.“
Ratzinger: “Ich respektiere den Glauben, sagt beispielsweise J. Sobrino: Die Erfahrung, die Jesus mit Gott hat, ist in ihrer Wurzel historisch. “Sein Glaube wird zur Treue”. Sobrino ersetzt in der Folge konsequent Glauben durch “Treue zur Geschichte” (1984!)
Sobrino antwortet:  Was ich im Text wörtlich sage ist: “sein Glaube an das Geheimnis Gottes verändert sich zu einer Treue zu diesem Geheimnis”… womit ich die Prozesshaftigkeit des Aktes des Glaubens aufzeigen möchte. Ich sage auch, dass “der Brief an die Hebräer auf bewundernswerte Weise zusammenfasst, wie in Jesus historische Treue gegenwärtig wird und in der Geschichte die Praxis der Liebe zu den Menschen und die Treue zum Geheimnis Gottes”. Die Auslegung Ratzingers, die Glauben durch Treue zur Geschichte ersetzen will, ist ungerechtfertigt. Ich wiederhole mehrmals: “Treue zum Geheimnis Gottes”. Keineswegs verwechsle ich Gott und Geschichte. Weiters ist die Treue keine abstrakte Geschichte, oder eine von Gott entfernte und absolut gesetzte, sondern es ist die Treue zur Liebe zu den Menschen, die im Neuen Testament eine besondere Grenzenlosigkeit besitzt und eine Vermittlung der Wirklichkeit Gottes darstellt.
 
Die Notifikation zum Umgang mit der Bibel: „Von neuem zeigt sich hier wieder die schon früher erwähnte Schwierigkeit im Gebrauch, den P. Sobrino vom NT macht. Eine hypothetische, historische Rekonstruktion, die irrig ist, hat den Vorrang gegenüber den neutestamentlichen Daten“. Sobrino legt seinen Aussagen die Ergebnisse moderner Bibelforschung zugrunde. Die können manchmal irren, ja. Aber hat die Glaubenskongregation demgegenüber einen besonders privilegierten Zugang zur Bibel - oder einen heißen Draht zu deren Urheber und Verfasser? Beispiel: Jungfrau Maria weil in Bibel von Jungfrau die Rede ist?
 
3. Die Inkarnation des Gottessohnes: “Pater Sobrino vertritt die christologische Häresie des Assumptionismus. Diese glaubt, dass der so genannte historische Jesus eine vom Logos unabhängige rein menschliche Figur sei, die von der Gottheit des Logos gleichsam aufgesogen wurde. Für die Glaubenskongregation ist in den Schriften von Pater Sobrino zuwenig klar, dass der Gottessohn mit Jesus identisch ist und umgekehrt”.
Chalkedon (451): Einheit von Gott und Mensch, 1 Person in zwei Naturen: Diese Definition ist Ergebnis eines langen Prozesses, meist in Abwehr gegen andere Meinungen und Strömungen. Diese Definition war den Evangelisten nicht geläufig. Erst in einem langsamen Prozess hat sich das Verständnis dessen entwickelt, was mit der Aussage: Gott und Mensch gemeint sein könnte. Verengung und Verkürzung des Glaubens an Jesus Christus, wenn der Versuch (es kann immer nur Versuche geben...) einer philosophisch -theologischen Erklärung über die gesamte Vielfalt der Glaubensaussagen im NT selbst und auch späterer Aussagen stellt.
 
4. “Das fundamentale Anliegen der Predigt Jesu ist das “Reich Gottes”. Dieses Konzept findet sich auch im Kern der Theologien der Befreiung, aber es wird auf der Grundlage der marxistischen Hermeneutik gelesen. Nach J. Sobrino darf dieses Reich weder auf spiritualistische, noch auf universalistische Weise, und auch nicht im Sinne eines abstrakten eschatologischen Vorbehaltes verstanden werden. Es muss auf eine parteiische Weise verstanden werden und in Hinwendung zur Praxis. Nur von der Praxis Jesu ausgehend, und nicht auf theoretische Weise, kann bestimmt werden, was das Reich bedeutet; mit der historischen Wirklichkeit zu arbeiten, die uns umgibt, um diese in das Reich zu verwandeln”.
 
Sobrino: „Es ist falsch, dass ich vom Reich Gottes auf der Grundlage der marxistischen Hermeneutik sprechen würde. Es stimmt aber, dass ich entscheidenden Wert darauf lege, die Praxis Jesu nachzuahmen, um zu einer Vorstellung zu gelangen, die uns näher zu jener Vorstellung bringt, die Jesus vom Reich Gottes hatte. Wie sagen Jeremia und Hosea: “Gerechtigkeit schaffen, bedeutet das nicht, mich zu kennen?”.
Reich Gottes wurde in Vergangenheit fast immer als ein rein geistiges und überirdisches aufgefasst (nach dem Tod). Dies widerspricht fundamental der Botschaft Jesu. Zeichen des Reiches Gottes in dieser Welt? Wenn Armen die Gute Nachricht hören, wenn Lahme laufen, Blinde sehen und den Zerschlagenen die Freiheit verkündet wird. Kirche Jesu Christ ist das Sakrament - Zeichen - dieses Neuen Lebens.
Für Sobrino ist Jesus ist der Mittler, die Verkörperung des Reiches Gottes, in Person; das Reich Gottes ist direkt auf ihn bezogen, mit seinem Auftreten und dem Beginn der Verkündigung. Es zeigt sich aber auch - wird zeichenhaft präsent in Personen wie Oscar Romero, oder in Mose, etc. Rom wirft nun Sobrino vor, dies letztere sei eine Verwässerung der kirchlichen Lehre, nach der Jesus und das Reich Gottes unmittelbar aufeinander bezogen sind. Aber das sagt ja auch Sobrino, nur malt er dies zusätzlich noch geschichtlich aus und will so zeigen, was das für uns konkret bedeuten kann; z.B. Einsatz für Gerechtigkeit.
Dazu noch ein Zitat aus dem neuen Jesusbuch des Papstes: S 83-84: „Deshalb müsse nun der Schritt zur Regno-Zentrik ….“ plus S. 92: „Vor allem wird uns dabei aufgehen….“. Mit welchem Recht spricht er so vielen gläubigen Christen, die sich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einsetzen, den Glauben ab? Denn das tut er de facto! Müssen sie sich auch noch vom Papst verhöhnen lassen? Steht eine solche Interpretation des Einsatzes für eine gerechtere Welt nicht sogar im Widerspruch zur Lehre der Kirche? Weiß Josef Ratzinger überhaupt, wovon er redet?
 
5. Das Selbstbewusstsein Christi: “Pater Sobrino leugnet das Wissen Jesu um seine Gottessohnschaft. Damit erklärt er Jesus Christus zu einem “Gläubigen wie wir. Damit reduziert er auch die Offenbarungsgewalt Christi auf jene eines Propheten oder Mystikers. Die hypostatische Union und seine Sendung zur Offenbarung und Erlösung erfordern die Vision (Visio beatifica) des Vaters und die Einsicht in den Plan der Erlösung“. Dass Jesus dieses Bewusstsein hatte widerspricht der Erkenntnis aller modernen Exegeten. Selbst Johannes Paul II: spricht “nur” von einer “einzigartigen Kenntnis  Gottes” bei Jesu.
 
6. Bezüglich des erlösenden Werts des Todes Jesu wird erklärt, dass der Theologe die Erlösungstat Christi zu etwas Moralischem verkürze und ihr keinen absoluten Wert beimesse. „Er behauptet vor allem, entgegen den universalistischen Konzeptionen, dass die Auferstehung in erster Linie eine Hoffnung für die Gekreuzigten ist, die die Mehrheit der Menschen darstellen. Diese Träumerei über die Geschichte wird durchgeführt, indem sich in der Geschichte immer wieder die Handlung Gottes wiederholt, das heißt, indem den Gekreuzigten der Geschichte Leben gegeben wird. Der Mensch hat so die Handlungen Gottes übernommen, und darin verändert sich die biblische Botschaft auf eine fast tragische Weise, wenn man daran denkt, wie sich diese Nachahmung Gottes ausgewirkt hat und sich auswirkt.“ „Die Erlösung scheint sich auf das Erscheinen des wahren Menschen zu beschränken, der sich in der Treue bis zumTod manifestiert. Der Tod Christi ist ein Beispiel (exemplum)und nicht ein sacramentum (Geschenk). Die Erlösung reduziert sich auf einen Moralismus“.
 
Sobrino deutet den Kreuzestod Jesu als vollkommene Hingabe für die Menschen, als radikalstes Zeichen der Menschwerdung Gottes bis zum Letzten, Gottessohn wird zum Opfer der Sünde dieser Welt (der Menschen) und gerade dadurch wird den Menschen eine neue Perspektive geschenkt, die Möglichkeit eines neuen Lebens in einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Diese Chance (Gnade) zu begreifen und dieses neue Leben zu beginnen, ist ja gerade unser Auftrag und unsere Berufung als Jüngerinnen Christ. Uns dies können wir nur in Gemeinschaft und im Dienst an der Gemeinschaft. Kommentar. Wenn die Auferstehung Jesu die eines Gekreuzigten ist, scheint es mir zumindest plausibel, sie theologisch als eine Hoffnung für die Gekreuzigten zu verstehen. In dieser Hoffnung können wir alle in dem selben Maß teilhaben, in dem wir auch am Kreuz teilhaben. „Soweit mein Kommentar zu den Anschuldigungen von Ratzinger. Ich erkenne meine Theologie in der Lektüre dieser Texte nicht.“
 
Bereits 1984: genau die gleichen Vorwürfe gegen Sobrino und andere Theologen der Befreiung (siehe Forum Weltkirche): „Sobrino weist darauf hin, dass die nun erhobenen Vorwürfe bereits 1984 in einem Artikel von Ratzinger formuliert worden seien (zu: Jesús en America Latina, 1982). Beunruhigend ist dies umso mehr, als Ratzinger in dem damaligen Artikel die Aussagen Sobrinos verdrehte oder gar falsch zitierte, um schließlich zum Urteil zu kommen, dass Sobrino die Formel des Konzils von Chalkedon völlig verfälsche (Jesus ist ganz Mensch und ganz Gott), dass er das Reich Gottes im Lichte einer marxistischen Hermeneutik interpretiere (Klassenkampf), die biblische Botschaft von der Auferstehung völlig verfälsche und den Menschen zum Akteur mache, der das Handeln Gottes übernehme“.
 
Mein Eindruck
 
Aus der Sicht der Armen und Ausgeschlossenen, die die befreiende Botschaft von der Menschwerdung Gottes mitten unter ihnen am eigenen Leib verspürt haben und deren Leben sich gerade deswegen verändert hat, weil sie einen Gott auf ihrer Seite (einen “Gott mit uns”) erfahren haben, sind die von Rom aufgeworfenen Fragen völlig unverständlich. Hier prallen schlicht und einfach zwei Welten aufeinander. Warum sollte die abendländisch geprägte Ausformung des Christentums per se die Einzigartigkeit Jesu Christi besser ausdrücken können, als andere kulturelle Ausformungen? Die Glaubenskongregation wirft Sobrino vor, die menschliche Erfahrung Jesu zu stark zu betonen und dabei die Einheit von Christus (Gott, Logos von Ewigkeit zu Ewigkeit) und Jesus zu gefährden. Weder Sobrino und schon gar nicht die Campesinos verstehen das so, dass dadurch die Göttlichkeit Jesu in Frage gestellt würde. Im Gegenteil: Weil Gott sich bis zum Äußersten mit den Menschen identifiziert - in der Person Jesu, des verheißenen Messias - ist Befreiung, ist Erlösung möglich geworden. Gerade dies gibt den Menschen die Kraft, ihr Leben neu zu gestalten und die “Mächte des Todes” (Ungerechtigkeit, Elend, etc) zu überwinden. In den Zeugnissen der Evangelien und in der kirchlichen Tradition gilt deswegen Jesus als der Mensch schlechthin, d.h. er zeigt (oder in ihm zeigt uns Gott), was wahres Menschsein eigentlich bedeutet und was die Berufung von uns allen ist. Sobrino unterstreicht die Leidensfähigkeit Jesu und damit die grenzenlose Solidarität mit den Verachteten, Geschundenen, Unterdrückten (eben mit dem gekreuzigten Volk), indem er darlegt, dass Jesus als Mensch nicht wissen konnte, dass er allmächtiger Gott ist, sondern auf Gottes Kraft und Güte vertrauen musste. Aber er hebt die Göttlichkeit Jesu damit nicht auf. Die Kernbotschaft Jesu ist, dass das Reich Gottes mit ihm beginnt. Er verkörpert das Reich Gottes und er zeigt es uns in seinen Worten und Taten. Deswegen können auch wir uns mit allen Kräften für dieses Reich Gottes einsetzen, damit es inmitten dieser Welt, so wie ist, immer mehr wachse und sichtbar werde - z.B. indem Menschen inmitten einer Welt voller Hunger das Brot miteinander teilen und inmitten einer Welt voller Gewalt und Ungerechtigkeit, eine geschwisterliche Gemeinschaft bilden.
 
Die Glaubenskongregation müsste man daher fragen, ob sie nicht ihrerseits diese Identifikation Gottes mit den Menschen zu sehr verwässert oder konkret auf Prof. Josef Ratzinger bezogen, ob bei ihm die Menschwerdung Gottes unter den Ausgegrenzten und Verstoßenen tatsächlich den Stellenwert hat, wie in der Bibel beschrieben. In einer platonisch ausgeprägten Theologie scheint Gott nicht wirklich “zur Welt gekommen” zu sein. Die Armen kommen auf jeden Fall bei dem Theologen Ratzinger kaum vor und wenn, dann höchstens als Objekte der Fürsorge - und selbst das ist bei ihm etwas Additionales, es gehört nicht zum Kern. Die Option für die Armen, d.h. der Eintritt in ihre Welt, ihren Hunger nach Brot und nach Gerechtigkeit teilen - das alles scheint nicht die Welt des Josef Ratzinger zu sein.
 
Was steckt hinter der Ermahnung an Jon Sobrino?
 
Kein theologisches Werk kann so komplett und orthodox sein, dass es nicht irgendwelche Lücken gäbe. Sobrino meint man darauf hinweisen zu müssen, dass er dieses nicht genau erklärt und jenes nicht ausreichend berücksichtigt habe usw. Einzige Möglichkeit, solche Ermahnungen zu vermeiden wäre, jede Art von Theologie einzustellen und nur noch die Texte der großen Konzilien zu zitieren. Aber ob man selbst dann den kompletten Glauben hätte? Und man könnte ja auch die gesamte Bibel auswendig lernen. Ob man dann ein besserer Christ wäre? Vielleicht geht es aber um etwas ganz anderes: In einer erklärenden Note zur Notifikation heißt es: „Die Sorge um die Ärmsten und Einfachsten war seit dem Anfang einer der charakteristischsten Wesensmerkmale der Sendung der Kirche“. Das scheint voll mit dem übereinzustimmen, was auch Sobrino sagt bzw. einfordert. Es bestätigt, dass die Option für die Armen zum Wesen der Kirche gehört. Das Problem - und der fundamentale Unterschied - kommt dann aber in dem 2. Satz der Note zum Ausdruck: „Die grundlegende Armut der Armen besteht darin, Christus nicht zu kennen“ und „der vorrangige Auftrag der Kirche besteht darin, den Armen den wahren Christus zu verkünden, jenen Christus, der durch seinen Tod die zentrale Figur im göttlichen Heilsplan ist. Diese Verkündigung - so interpretieren dies immer mehr Bischöfe in LA - geschieht vornehmlich oder gar ausschließlich in den Sakramenten.
 
Abgesehen davon, dass hier vom historischen Jesus wenig zu spüren ist, von seinem Umgang mit den Menschen, von seiner Botschaft vom Reich Gottes, kommt noch etwas Wesentliches dazu: Hier wird behauptet, dass das wahre und eigentliche Problem der Armen nicht der Hunger ist, nicht das unwürdige und elende Leben, nicht die Diskriminierung und Verachtung, nicht die Gewalt, die man ihnen antut und die jeden Tag unzählige Kinder ums Leben bringt…. Nein, die eigentliche Armut besteht darin, nicht Christus zu kennen, der geschickt wurde um zu sterben, damit wir von unserer Schuld erlöst würden. Nebenbei: wer sagt dem Papst, dass die Armen diesen Jesus Christus nicht kennen? Und kennen ihn denn die Reichen? Hier wird die eigentliche, die biblische Option für die Armen, in ihr Gegenteil verkehrt. Arm oder reich ist egal, es kommt nur darauf an, Christus zu kennen. Geschweige denn, dass die Ursachen der Armut genannt werden - aber dies hat ja offensichtlich mit dem Glauben nichts zu tun. Eine solche Interpretation Jesu Christi und seiner Rolle im Heilsgeschehen erinnert fatal an die Jahrhunderte währende Missionierung in Lateinamerika: Eroberer - Indios als Sünder - Rettung (Himmel) durch Bekehrung. In Wirklichkeit haben sie über 400 Jahre nie etwas von dem Mensch gewordenen Gott gehört, der Mensch geworden ist wie sie, von Jesus, der mit ihnen lebt, leidet und aufersteht. Und es erinnert mich an die wiedergeborenen Christen in den USA mit ihrer entsprechenden Ideologie von Gut und Böse und nach der der Reichtum als Gnade und Auserwählung durch Gott interpretiert werden kann.
 
Mich persönlich überraschen diese Aussagen der Glaubenskongregation nicht. Wer in derart extrem-abstrakter Weise von Gott, von Jesus, vom Glaube spricht, der kann die konkret gelebte Wirklichkeit und die Welt, wie sie ist - in die immerhin Gott seinen Sohn gesandt hat - nicht wirklich wahrnehmen bzw. er hat Angst vor all diesem „Dreck“. Wer den Ängsten und Freuden, den Sorgen und Hoffnungen der real lebenden Menschen so wenig Eigenwert - theol. Eigenwert zumisst - der vertritt eine weltlose Theologie und noch schlimmer - denn das ist die Folge davon: dies kann zu einer unmenschlichen Praxis führen.
Ist es so schwer zu erkennen, dass z.B. wie in Mt. 25 gezeigt, derjenige der Arme ist, der nichts zu essen, keine Kleidung usw. und nicht zuerst (!) derjenige, der Christus nicht kennt? Alle Theologen und kirchliche Dokumente wie das Konzil, Medellín etc. bestätigen dies, aber der Papst kann dies nicht so sehen. Oder steckt vielleicht noch ein grundsätzliches Problem dahinter und geht es um viel mehr? Wenn die Frage nach der Armut eine Frage auf Leben und Tod ist, dann müssen sich Theologie und Kirche auch um Politik, Wirtschaft und Soziologie kümmern. Wenn die Kirche ihre Aufgabe erfüllt, den Gott des Lebens und die Gegenwart Gottes in dieser Welt zu verkünden muss sie eindeutig Partei ergreifen. Wenn es aber die Hauptaufgabe der Kirche ist, egal ob arm oder reich einen abstrakten Christus zu verkünden, der durch seinen Opfertod der Kirche einen unermesslichen Gnadenschatz überlassen hat, aus dem allein sie (d.h. der Klerus) schöpfen kann, dann ist jeder Mensch heilsnotwendig auf die Vermittlung eben dieser Kirche angewiesen. Und diese Vermittlung bzw. der Empfang der zum Heil notwendigen Gnadengaben geschieht exklusiv in den Sakramenten und durch geweihte Priester. Ein Priester hat sich dann nur darum zu kümmern und wenn die Menschen was von ihm wollen, sollen sie zur Kirche gehen. Genau dies leiten immer mehr Bischöfe von den Vorgaben aus Rom ab oder begründen zumindest damit ihre Praxis.
 
Ich sage dies als bekennendes Mitglied dieser Kirche und um der Kirche willen. Denn diese wird dann immer mehr zur Kirche Jesu Christi, je mehr die Armen mit ihren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen in die Mitte gestellt werden, in die sie entsprechend dem Evangelium gehören. Unsere Herausforderung als Christen ist es auch, immer katholischer zu werden. Katholisch sein heißt heute, die globale Gemeinschaft aller Menschen, die an Jesus den Christus glauben, als die uns verbindende Gemeinschaft anzuerkennen. Die Mehrheit dieser Menschen lebt aber unter unmenschlichen Bedingungen. In ihrer Mitte wurde Gott Mensch. Daher können wir hier, die wir in der reichsten Kirche der Welt zuhause sind, dann umso mehr zur Kirche Jesu Christi werden, wenn wir uns von den Armen die Gegenwart Gottes erzählen lassen. Bildlich, zeichenhaft und real heißt das: wenn wir mit den Armen das Brot des Lebens teilen. Das ist das Fundament der Kirche. Und für eine solche Kirche setze ich mich voll ein.
 
Anhang: Die Auswirkungen einer bestimmten Lehre (und Option) auf die Praxis
 
1. Oscar Romero: Die salvadorianische Militärjunta jener Jahre huldigte der in Lateinamerika vorherrschenden "Doktrin der Nationalen Sicherheit". Weihbischof Chávez beschreibt den Kern dieser Ideologie so: "Jeder, der Veränderungen will, ist Kommunist und muss eliminiert werden." Als fester Bestandteil des Staatsapparates fungierten in El Salvador die "Todesschwadronen" zur Ermordung von Regimegegnern. Romero besuchte die Gemeinden und Christen, die zur Zielscheibe dieses Staatsterrors wurden, und ließ im Menschenrechtsbüro seines Bistums alle Vorfälle dokumentieren: "Es ist meine Aufgabe, Gewalttätigkeiten festzuhalten und Leichen aufzusammeln." In den Auftragslisten der Todesschwadronen war die Prämie für die Tötung eines Priesters höher angesetzt als die für den Mord an einem Campesino oder linken Intellektuellen. Auf Flugblättern stand die Parole: "Sei ein Patriot! Töte einen Priester!" Im Januar 1979 hatte Romero den Präsidenten von El Salvador wegen dessen Untätigkeit angesichts der fortlaufenden Ermordung von Christen exkommuniziert. Im Frühjahr des Jahres fuhr er nach Rom, um dem Papst seine Sichtweise darzulegen und ihn wegen der anhaltenden Kirchenverfolgung in El Salvador um Unterstützung zu bitten. Im Gepäck hatte er sorgfältig zusammengestellte Dokumente über die Verbrechen der Junta und ein Foto des kurz zuvor ermordeten indigenen Priesters Octavio Ortiz. Laut Augenzeugenbericht von Monsignore Jesus Delgado kam es auf dem Petersplatz zu folgendem Dialog. Der Papst: "Ah, Monsignore Romero. Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!" Romero: "Eure Heiligkeit, die Kommunisten in Salvador sind nicht dasselbe wie in Polen." Der Papst noch einmal: "Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!" Die Romero-Biographin María López Vigil schreibt, der Erzbischof habe für den folgenden Tag zumindest eine private Audienz beim Papst erbetteln können. Johannes Paul II. habe bei diesem Treffen nur über die Fülle der vorgelegten Dokumente geklagt und keines der Papiere auch nur angerührt. Er sei vom Foto des ermordeten Priesters unberührt geblieben und hätte – ohne Fragen an den Erzbischof zu stellen - "Harmonie" mit der salvadorianischen Regierung eingefordert. Verbürgt ist die große Enttäuschung Romeros nach seinem Rombesuch: "Ich glaube, ich werde nicht noch einmal nach Rom kommen. Der Papst versteht mich nicht." An der Kathedrale von San Salvador hatte es während der Reise gerade wieder ein Massaker gegeben. (siehe: Die Verantwortung von Johannes Paul II. an der Ermordung Romeros).
 
Vergeblich hatte der Vatikan Anfang 1979 die Universität Georgetown in Washington gebeten, von einer Verleihung der Ehrendoktorwürde an Romero Abstand zu nehmen. Im März 1980, so berichtet John L. Allen, entschieden sich die drei Kurienkardinäle Silvio Odino, Franjo Seper und Sebastiano Baggio dafür, dem Papst eine Amtsenthebung des Erzbischofs von San Salvador zu empfehlen. Diese Entscheidung kam nicht mehr zur Ausführung, denn wenige Tage später wurde Oscar Romero am Altar erschossen. Rom hat den Erzbischof von San Salvador vor seiner Ermordung nachweislich im Stich gelassen und sogar gedemütigt. Zur Rechtfertigung für ihre Christenverfolgung beriefen sich Faschisten in Lateinamerika gerne auf die Amtskirche. Als Joseph Ratzinger 1984 sein scharfes Dokument zur Befreiungstheologie veröffentlicht hatte, meinte Edward Schillebeeckx: "Die Diktatoren Lateinamerikas werden die Anweisung mit Freuden aufnehmen, denn sie wird ihren Zwecken dienen." 1985 deklarierte ein Prälatenkreis um Lopez Trujillo bei einem Treffen in Chile die Befreiungstheologie als "marxistische Verkehrung" des Glaubens. Pinochets Staatsfernsehen berichtete ausführlich darüber, und das Militär rechtfertigte unter Berufung auf die besagte Diagnose die Verhaftung und Folterung von kath. Priestern.

2. Zu „Ideologie und Politik: Die römische Kritik an der Befreiungstheologie gibt sich entsprechend ganz unpolitisch. Sie beruft sich aktuell vor allem auf das "objektive" Dogma, das die Staatskirche ab dem vierten Jahrhundert in philosophischer Begrifflichkeit festgeschrieben hat. Darin wird von Jesus in einer Weise gesprochen, die selbst den meisten Gläubigen unverständlich bleibt. Von philosophischer Metaphysik haben Jesus und seine Jünger in Galiläa ja gar nicht gesprochen. In der Bibel steht auch nirgends, dass die Menschen am Ende aller Zeiten gefragt würden, ob sie den Römischen Katechismus und die Dogmen der frühen Konzilien richtig aufgesagt haben. Jesus nennt vielmehr ein allgemein verständliches Kriterium: "Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen. Ich war im Gefängnis oder krank und ihr seid zu mir gekommen." (vgl. Mt Kap. 25, 31-46). In einer solchen Welt ist Roms dogmatische Option nicht neutral, sondern eine hochpolitische Parteinahme. Sie dient dem europäischen Machtanspruch innerhalb der Weltkirche und die "Option für die Armen", wird im Sinne nordamerikanischer Vorstellungen zu einer unverbindlichen "Liebe zu den Bedürftigen" verwässert.

Als Zeichen der gegenwärtigen Verfassung der Weltkirche auf der Ebene der Hierarchie kann der Umstand gewertet werden, dass die Kurienkardinäle Alfonso Lopez Trujillo (Päpstlicher Familienrat) und Dario Castrillón Hoyos (Kleruskongregation) ernsthaft als Papstkandidaten gehandelt werden. Thomas Seiterich nennt sie in „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ in Publik-Forum 23/2002 vom 6. 12. 2002 die „Haus- und Hofkapläne“ der Rechten und der Drogenkartelle in Kolumbien. Und er fährt fort, S. 28: „Würde einer dieser beiden kurialen Rechtsausleger nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. zum Pontifex gewählt, so würde die Blutspur des Kolumbienkrieges gar bis an die Spitze der römischen Weltkirche führen“ („Rechte“ in Kolumbien meint u.a. auch die paramilitärischen Todesschwadronen). Komplettiert wird dieses Panorama durch den Kardinal und Erzbischof von Lima, Cipriani, der ebenfalls als Papstkandidat (als einziger amtierender Kardinal des Opus) genannt wird und der eng mit dem Regime Fujimori verknüpft war (ist).
Anmerkung: Kurienkardinal Alfonso Lopez Trujillo, vorher u.a. auch Präsident von CELAM, der lateinamerikanischen Bischofskonferenz, war bereits 1978 maßgeblich daran beteiligt, dass Bischof Dammert nicht als Delegierter der peruanischen Bischofskonferenz nach Puebla entsandt wurde. Seine oft auch kriminellen Machenschaften sind in Lateinamerika und besonders in Peru gut bekannt und von Bischof Dammert habe ich Zeugnisse, die ich nicht veröffentlichen darf (Dammert: aus Solidarität mit der Kirche):

3. Authentische Interpretation des Konzils (8. Dez. 2005, Radio Vatikan)

Die Rezeption der Botschaften des Konzils erfolgte gemäß Benedikt XVI. auf zwei Weisen: gemäß zwei verschiedenen Interpretationen, die miteinander im Widerstreit lagen. Die erste Interpretation bezeichnete der Papst als "Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruchs" zwischen vor- und nachkonziliarer Kirche. Diese Sichtweise habe nicht den Konzilstexten Priorität eingeräumt, sondern der Geist der Erneuerung, und sie "konnte sich die Sympathie der Massenmedien und eines Teils der modernen Theologie sichern". Die andere Interpretation, die "Hermeneutik der Reform" sei die von Papst Johannes XXIII. und Papst Paul VI. gewollte Leseart des Konzils und bringe "im Stillen, aber immer sichtbarer", ihre Früchte hervor. Gemäß dieser Sichtweise bestehe das Ziel des Konzils und jeder kirchlichen Reform darin, "die Lehre rein und vollständig weiterzugeben, ohne sie abzumindern oder zu verzerren. Benedikt XVI. schloss mit den Worten: "Heute können wir in Dankbarkeit auf das Zweite Vatikanische Konzil zurückblicken. Wenn wir es mit der richtigen Hermeneutik lesen und rezipieren, kann es immer mehr eine große Kraftquelle sein für die immer notwendige Erneuerung der Kirche."

Ratzinger beschuldigt kurzerhand alle Theologen und Bischöfe, die nicht seine Interpretation des Konzils teilen, mit der Tradition der Kirche zu brechen. Beispiel Bischof Dammert, Helder Cámara u.a. - Verwechselt hier der streitbare Theologe Ratzinger vielleicht seine privaten Auseinandersetzungen vornehmlich mit deutschen Theologen mit seiner Rolle als Papst, dem Zeichen der Einheit für alle? Und die „Früchte des Konzils“ - welches sind die Kriterien für die rechten Früchte (s.u.)?

4. Griechische Philosophie als einzige Möglichkeit

Heute gibt es Strömungen mit Ideologien im Schoß der Kirche, die gegen das Evangeliums gerichtet sind. So sagt der Theologe José Ignacio González Faus: „Die Kirche installiert so einen ‚ekklesiologischen Arianismus’, der Gott als Autorität und nicht als Gemeinschaft (Kommunion, Trinität) versteht und wo die innertrinitarische Dynamik des Gebens und Empfangens durch eine heidnische Dynamik des Beherrschens und Unterwerfens ersetzt wird. Das verfälscht die zwei authentischsten Selbstaussagen Gottes für uns: Vater und Sohn. Gott ist nicht mehr Vater (oder Mutter), weil er Leben schenkt, sondern weil er ‚herrscht und befiehlt’.“ (”Calidad cristiana. Identidad y crisis del cristianismo”, José Ignacio González Faus).

5. Platonismus bei Ratzinger (nach Elmar Klinger)
  • Platonisch ist das Verständnis von Politik, wenn gesagt wird, Glaube sei nicht auch Herrschaft und daher keine Politik.
  • Platonisch ist der Assistenzialismus im Begriff des Armen, die nicht als eigene Subjekte gelten.
  • Platonisch ist der Autoritarismus im Amtsverständnis - alle Macht den Behörden.
  • Platonisch ist der Begriff des Neuen, sofern dies nur als identisch mit dem Schlechten gilt (Umsturz, „Veränderung ist von Übel“, Ruhe aber ist göttlich“).
  • Platonisch ist die Betonung der Ungleichheit statt der Gleichheit.
  • Platonisch ist die Idee vom vollkommenen Staat, der den Bürger beaufsichtigt und gängelt (Kirche) und der prinzipiell ein Klassenstaat ist (Mündige und Unmündige).
  • Platonisch ist Idee der Erziehung (Katechese): Übernahme einer Doktrin statt eigene Erfahrung.
  • Platonisch ist die Idee von der gerechten Ungerechtigkeit und Unfreiheit.
  • Platonisch ist, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie gibt.

Fazit: Die Glaubensbehörde ist ursprünglich ein Produkt des Platonismus, das 2. Vat. Konzil hat aber den Platonismus in der Kirche überwunden.

6. Vamos Caminando: (einzigartiges Dokument, da 1. Konfrontation Ratzingers mit dem befreienden Glauben der Campesinos)

Im Kontext dieser Arbeit über den Glauben und die Kirche der Menschen von Cajamarca wird deutlich, wie die Ausführungen und das Vorgehen von Kardinal Ratzinger zu bewerten sind und welchen jeweiligen Standort sie verdeutlichen. Sie umfassen das gesamte übliche Instrumentarium und die gesamte Palette aller Vorwürfe und bewusster Verdrehungen gegen eine Praxis, die ausgehend von der Botschaft Jesu die Menschen auf Gott und die Gemeinschaft hin öffnet. Es soll aber ausgehend von den Ausführungen und Deutungen Ratzingers wenigstens noch einmal auf dieses übliche Instrumentarium hingewiesen werden.

  • Ratzinger reagiert auf eine sachliche Aufzählung von Fakten mit dem Vorwurf persönlicher Diffamierung und Verleumdung. Er geht auch nicht darauf ein, dass er es ist, der falsch zitiert hat und der falsche Behauptungen aufstellt. Er stellt die Campesinos an den Pranger, verhöhnt ihren Glauben an Jesus Christus und legt ein falsches Zeugnis wider sie ab. Während dies für Campesinos tödlich sein kann, fühlt sich der Kardinal persönlich diffamiert, wenn man ihn auf sachliche Fehler aufmerksam macht. Er spricht von Pamphleten und Gerüchten, statt zu dem zu stehen, was er wirklich gesagt hat.
  • Zur leiblichen Auferstehung: der betreffende Vorwurf geht völlig an der Realität vorbei. Doch dahinter steckt mehr. Das scheinbare Beharren auf dogmatischer Rechtgläubigkeit verdeckt, dass Ratzinger und die Kirche, für die er steht, in ihrer konkreten Praxis gerade diese Leiblichkeit Jesu und des Menschen stets bekämpfen oder zumindest ignorieren - spätestens seit den Zeiten von Augustinus. Er ignoriert damit auch den realen Kontext der Campesinos und die Menschwerdung Gottes in ihrer Mitte. Diese Welt- und Leibfeindlichkeit hatte in der Geschichte und bis heute verheerende Folgen, auf die hier nicht eingegangen werden muss.
  • Der Vorwurf der Politisierung und der damit verbundenen Kritik von einer Vermischung oder Verwechslung von Religion und Politik ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen. Während der Papst Menschen heilig spricht, die den Massenmord an Zivilisten als „Beitrag zur größeren Ehre Gottes“ (so der Gründer Opus Dei zu den über 200.000 Opfern des spanischen Bürgerkrieges) bezeichnen, werden die Opfer auch noch verurteilt, wenn sie sich gegen eine solche Politik verteidigen wollen und Missstände anprangern.
  • Wenn man Ratzinger keine böse Absicht unterstellt, dann ist festzustellen, dass er selbst in persönlichen Gesprächen das herauszuhören scheint, das er schon immer vermutet hat - unabhängig davon, was der Gesprächspartner wirklich gesagt hat. Der Marxismusvorwurf an die Theologie der Befreiung erwies sich zudem bald als bloßer Vorwand, um alle die zum Schweigen zu bringen, die eine „Kirche des Volkes“ forderten und die auch die wirtschaftlichen Privilegien einer Minderheit in Frage stellten, die also wirklich an Inkarnation und leibliche Auferstehung - an die Ganzheit des Menschen - glauben. Im Übrigen ist es absurd, die Frage des Marxismus mit der Glaubenspraxis der Campesinos in Zusammenhang zu bringen.
  • Wenn Ratzinger in seinen Ausführungen von der Theologie der Befreiung als „so sehr rationalistisch, der lateinamerikanischen Kirche zutiefst fremd“ redet und sie in Zusammenhang mit der Versklavung fremder Kulturen durch eine sich normativ gebende bringt, ist das „diabolisch“ (die Wahrheit ins genaue Gegenteil verkehrend). Es war gerade diese europäische Denk- und Verfahrensweise, die zur Ausrottung ganzer Völker führte. In diese Tradition stellt sich Ratzinger selbst.
  • Die Art und Weise, in der Ratzinger von Liebe und Auferstehung redet, weist darauf hin, dass er das, was die Campesinos damit meinen, was sie erlebt und erfahren haben, nicht verstehen kann. Es geht hier um verschiedene Dimensionen menschlicher Existenz.
  • Es geht hier nicht zuerst um theologische, theoretische Auseinandersetzungen, sondern um das Leben von ganz konkreten Menschen. Die von Ratzinger diffamierten Campesinos sehen sich heute gewaltigen Repressionen ausgesetzt. Während der Gründer des Opus Dei heilig gesprochen wird, bekämpfen zwei Priester des Opus Dei die Campesinos und ihre Organisationen mit aller Macht. Die wahre Option von Glaubenshütern wie Ratzinger zeigt sich in der Praxis. Diese Option des Kardinals kann für die Campesinos tödlich sein.

Bald danach wurde Ratzinger zum obersten Glaubenshüter der römischen Kirche ernannt. Die Feier des beginnenden neuen Lebens und der Auferstehung als Sieg über die Mächte des Todes wird von den Glaubenswächtern als Rebellion oder „falscher Glaube“ interpretiert und bekämpft. Ratzinger soll hier nicht als bewusster Vertreter dieser Mächte präsentiert werden, vielmehr weist sein Verhalten auf den Zwiespalt hin, dass er - wie der Papst - einerseits mit Recht den gottlosen westlichen Materialismus anklagt, andererseits aber Gruppen und Bewegungen mit Sanktionen belegt, die de facto dagegen aufstehen. Dieser Widerspruch ist die logische Folge einer weltlosen Theologie und einer kirchlichen Institution, die von den Mächtigen je nach Bedarf benutzt oder lächerlich gemacht werden kann. 

Die beste Widerlegung einer Theologie besteht nicht in verstandesmäßigen Argumenten gegen sie, sondern in den praktischen Folgen, die sie zeitigt. Nicht nur einmal, sondern immer wieder kritisiert Bartolomé de Las Casas Sepúlveda wegen seiner intellektuellen Kühle, wegen seiner fehlenden Kenntnis der indischen Länder und wegen seiner mangelnden Einsicht in die konkreten Folgen seiner Theologie“. Gutiérrez, Gustavo: Die historische Macht der Armen. S. 162. Hier geht Gutiérrez auf den Streit zwischen Sepúlveda und Las Casas ein. Gutiérrez zitiert Las Casas: „Ich lasse in den indischen Ländern Jesus Christus, unseren Gott, zurück: gegeißelt, gequält und gekreuzigt, und zwar nicht nur einmal, sondern millionenfach“ (S. 164). Gutiérrez fährt fort: „Solch ein Gedanke wäre in der Theologie von Sepúlveda unvorstellbar: Ein Indianer, der geboren wurde, um Diener der Europäer zu sein, kann doch nicht mit Christus identifiziert werden; Herren - die können ohne weiteres mit ihm gleichgesetzt werden“. (S. 164).   Ratzinger steht nicht in der Tradition von Las Casas.

B: Konkrete Auswirkungen dieser "rein geistigen Theologie"

  1. Priesterseminare (Bücher von G. Gutiérrez in Peru verboten, Skandal-Seminar in Puno, Schriften des Konzils werden entsorgt, Die Dokumente von Medellín gelten als Werk des Teufels etc. )
  2. Keine Arbeit mit Armen mehr (deren Heil liegt allein darin, die Sakramente zu empfangen) - Sekten!!
  3. Bischöfe gegen Konzil, gegen Option für die Armen (Nuntius)
  4. Aussagen von Bischof Simón (siehe unten)
  5. Politische Optionen (Beispiel Goldmine in Cajamarca – die Bischöfe Simón und Lázaro, die jeden Protest als gottlos bezeichnen, sich selbst aber von den Mächtigen aushalten lassen).

Wörtliche Aussagen peruanischer Bischöfe (ohne dass diese je ermahnt werden, im Gegenteil!)

Priesterbild und Auffassung von Kirche
„Um Christ zu sein, bracht man die Vermittlung der von Gott bestellten Priester. Um gerettet zu werden, braucht man die Sakramente der Kirche, die diese ausschließlich über die Priester den Gläubigen schenkt. Der Priester ist der ausschließliche Vermittler zu Gott und zu seiner Gnade. Durch die Weihe wird der Priester zum alleinigen Vermittler zu Gott, er ist seinem Wesen nach mehr als der Laie. Das Priesteramt ist das Fundament der Kirche, es hat seine Bedeutung in der Repräsentanz der göttlichen Autorität. „Der Kirche geht es nur deshalb so schlecht, weil es an Gehorsam und Disziplin fehlt. Ohne Gehorsam kann man keine Kirche aufbauen“. Alle Laien werden zu reinen Statisten und Objekten erklärt, was zu einem massiven Rückzug der Laien führt, zu einem Zusammenbruch der Seelsorge gerade in den Problemzonen. Allein der Priester bestimmt, was für das Heil (Wohl) der Menschen gut ist. Dies führt automatisch zu einem starken römischen Zentralismus und damit verbundener Verachtung gegenüber der Kultur, Tradition und des Glaubens der Ortskirche.

Dualismus Seele - Körper und Drohung mit dem Jüngsten Gericht.
„Durch tägliche Bußübungen bereiten wir uns auf das Ende der Welt vor. Nur wer ohne Sünde ist, wird gerettet werden. Deshalb müssen wir ständig bereit sein“. Rettung der Seelen, Angst, Sünde, Drohungen als Mittel der Seelsorge. Es kommt allein auf die Rettung der Seelen an. Das Ende der Welt steht bevor und gerettet werden nur die Bußfertigen. Elend als von Gott gewollte Prüfung. Wer sich dagegen auflehnt, versündigt sich.

Rolle der Katecheten und der Laien
Alle Basisgruppen und Laienorganisationen (vor allem Frauengruppen), die sich nicht dem Diktat des Pfarrers unterwerfen, werden als nicht kirchlich ausgeschlossen und ihrer materiellen Basis beraubt. Wer etwas vom Pfarrer will, muss ihn aufsuchen und bezahlen. („Service“). Bemühungen von Laien, Verantwortung zu übernehmen, gelten als „Anschläge auf die Kirche“.

Bibel: „Insbesondere Frauen können ohne Anleitung durch die Priester die Bibel nicht verstehen. Die rechte Interpretation des Wortes ist eine exklusive Gabe Gottes, die durch die Weihe dem Priester geschenkt wird. Die Kirche unterweist die Gläubigen im richtigen Verständnis“. „Die Lehre der Kirche ist das in verständliche Form gebrachte Wort Gottes und steht nicht zur Diskussion“. Wenn Campesinos Bibeln (das Wort Gottes) in die Hand nehmen, gilt das als Gotteslästerung (da Campesinos unwürdig). Stattdessen müssen Artikel aus dem Katechismus auswendig gelernt werden. Die reine Lehre respektiert nicht einmal Trauernde, so ein Pfarrer in einer Totenmesse, vor aufgebahrtem Toten: „Ich werde euch nicht die Kommunion austeilen, weil niemand von euch bei mir gebeichtet hat“. Oder in einer anderen Messe: „Ihr bekommt nicht die Kommunion, denn ihr lebt zusammen und seid nicht verheiratet.“ Wer die Lehre nicht befolgt, dem wird mit der Hölle gedroht. In Rom erklären einflussreiche Leute, dass eine zu tiefe Beschäftigung mit der Bibel zu „protestantischer Verseuchung“ führt, d.h. zu Ungehorsam, Willkür, Zügellosigkeit, kurz: zum Untergang der Kirche.

Sakramente
„Die wahre Aufgabe und Berufung des Priesters ist die Spendung der Hl. Sakramente. Allein durch die Sakramente gelangt der Christ zum Heil“. „Oberstes Gebot für jeden Christen ist die Erfüllung der Sonntagspflicht und der monatlichen Beichte. Daneben sind das tägliche Gebet und die Anbetung des Allerheiligsten Altarsakramentes Zeichen eines echten Christen. Um sich um soziale Probleme zu kümmern braucht man kein Christ zu sein, das können auch Gottlose“. Alle Anstrengung gilt der Durchsetzung der monatlichen Ohrenbeichte, verbunden mit dem dazu benötigtem „Sündenbewusstsein“. Aber die bisher weit verbreitete Vorbereitung auf Erstkommunion und Firmung unter Mitwirkung der Eltern (Mütter) wird verboten, weil die Eltern (Laien) generell dazu unfähig sind.

Fazit: Diejenigen, die wirklich daran glauben, dass Gott unter den Ausgeschlossenen Mensch geworden ist, denen wird das rechte Christsein abgesprochen – von den „Schriftgelehrten und Hohen Priestern“, die schon zur Zeit Jesu die Geburt des Messias unter den Hirten von Bethlehem nicht wahrnehmen konnten oder wollten und stattdessen mit den Römern gemeinsame Sache machten und Jesus ans Kreuz brachten.


Aktion der Kath. Gesamtkirchengemeinde Ulm mit über 2.000 Unterschriften in Ulm, später bundesweit übernommen von verschiedenen kirchlichen Gruppen und Organisationen, verantwortlich Willi Knecht, im Auftrag der Gesamtkirchengemeinde.

Zum Referenten:
Zuletzt wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie in Würzburg; seit 30 Jahren eng mit der Kirche in Peru verbunden, konkrete Erfahrungen einer befreienden Praxis als Mitarbeiter des Bischofs in Basisgemeinschaften (Diözese Cajamarca, gilt als Ursprungsort einer „Kirche der Befreiung“); Aufbau von Gemeindepartnerschaften, bis heute enger Kontakt zu kirchlichen Basisgruppen in Peru; Studien über die Kirche der Armen und Gemeindepartnerschaften; Promotion über die „Herausforderung einer Option für die Armen“ und verschiedene Veröffentlichungen in theol. Zeitschriften und Büchern. Mitglied in den Gremien der eigenen Kirchengemeinde, der Gesamtkirchengemeinde Ulm und Dekanat Ehingen-Ulm.

Offener Brief   An P. Jon Sobrino SJ, San Salvador

Nachrichtlich an: Papst Benedikt XVI., Rom
William Joseph Kardinal Levada, Glaubenskongregation, Rom

Sehr geehrter Pater Jon Sobrino,
Christinnen und Christen aller Konfessionen und viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, Österreich der Schweiz und Europa haben mit Betroffenheit und Befremden zur Kenntnis genommen, dass Ihr großes Engagement für die Armen und mit den Armen in Lehre und Praxis durch eine Maßregelung der Vatikanischen Glaubenskongregation angegriffen wird. Sie, Pater Jon Sobrino, haben stets Jesus Christus im Leiden der Armen gesehen und sind Ihm gefolgt. Als herausragender Befreiungstheologe in Lateinamerika haben Sie Christologie in heutiger Zeit aus der Sicht der Ausgegrenzten und Marginalisierten formuliert. Ihr Einsatz für eine Kirche, die die Option für die Armen mit Entschiedenheit lebt, sowie ihr persönliches Zeugnis, waren und sind für uns beeindruckend, beispielhaft und ermutigend. Wir schätzen Sie und Ihre klare Option für die Armen, die sie mit großer Entschiedenheit vertreten, sehr hoch. Es macht uns betroffen, dass durch die Maßregelung die Opfer denunziert und die Täter sich in ihrem Verhalten bestätigt fühlen dürfen. In diesen schmerzlichen Momenten, die Sie derzeit zweifellos durchleben, wollen wir unsere Solidarität mit Ihnen persönlich und mit Ihrer Theologie öffentlich machen und unsere Anerkennung für Ihr beispielhaftes Leben zum Ausdruck bringen. Wir stehen an Ihrer Seite."

Dr. theol. Willi Knecht, Schlesienweg 99, D 89075 Ulm,  E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Rückgabe der Unterschriftslisten bis 10. Nov. 2007.

Im Web: Zur Theologie von Sobrino und Ratzinger - ein Vergleich 


23. Dez.: Josef Ratzinger und der Glaube der Campesinos (Die Dokumentation)

In Publik-Forum Nr. 10, 8. Jahrgang vom 18. 5. 1979, wird unter dem Titel „Schaut, das rote Tuch“ als Antwort auf Ratzinger ein Text von Horst Goldstein veröffentlicht. Darin heißt es: „Auf eine schriftliche Anfrage hin, wurde mit Datum vom 27. 4. 1979 durch den Erzbischöflichen Sekretär mitgeteilt, dass der Kardinal von dem Text ausgegangen war, der einem Katechismus der Befreiungstheologie entnommen und in einer der letzten Nummern von Publik-Forum veröffentlicht worden war’. Die Formulierungen des Herrn Kardinals lassen keinen Zweifel daran, dass dieser nun ein fleißiger Publik-Forum-Leser geworden ist, nachdem er einmal mitteilen ließ, dieses Blatt nicht zu lesen. Denn er bezieht sich in seiner Kritik auf den Publik-Forum-Sonderdruck ‚Kampf und Triumph Jesu: der Weg ist frei’ (Nr. 7/79). Wer nun aber diesen - dem nordperuanischen Glaubensbuch von Landarbeitern und für Landarbeiter ‚Vamos Caminando’ entnommenen Text liest, ist überrascht. Denn dort liest er: [2]

„Schon war der Jahrestag des Todes von Jesus Flores gekommen. Seine Familie hatte Trauer getragen, und jetzt wollen sie, wie es Brauch ist, die Trauer ablegen. Alles ist zur Feier gerüstet. An einer Wand des Hauses hängt ein schwarzes Tuch mit einem weißen Kreuz. Dahinter ist nicht sichtbar ein rotes Tuch. Aus der Küche dringt der kräftige Geruch von Eukalyptus, denn schon seit Stunden haben Tomasa Cubas und einige andere Frauen aus der Familie für das Festessen gekocht. Das Haus wird allmählich voll. Sie beten den Rosenkranz. Und dann plötzlich der Ruf: Weg mit dem schwarzen Tuch, weg! Ja, schaut, da ist das rote Tuch! Musik, Musik! Ja, wir wollen tanzen! Und wir wollen fröhlich sein! Jemand meint: Wir können dieses Fest feiern, weil wir Jesus Flores in seinem Einsatz nachfolgen. Er bleibt mit uns in unseren Kämpfen... Jede gute Sache im Leben, jeder Sieg der Liebe über den Hass, der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit über die Ausbeutung, der Einheit über die Zwietracht, gibt Zeugnis für die Auferstehung Jesu in unserem Leben.

Wer nun diesen Text liest, macht folgende Beobachtungen:

1. Der Begriff Rache kommt weder wörtlich noch in der Tendenz vor.

2. Zum Stichwort Hass heißt es: ‚Jeder Sieg der Liebe über den Hass...
gibt Zeugnis für die Auferstehung Jesu in unserem Leben’.

3. Statt von ‚Wecken des Neides’ liest man: ‚um zu befreien, müssen wir unsere
Selbstsucht ganz töten, sonst wird es immer wieder Ausbeutung geben’.

Ein Vergleich der deutschen Widergabe mit dem spanischsprachigen Original zeigt, dass auch von der peruanischen Version her die drei Beobachtungen bestätigt werden“.[3]

Nachdem Hans Hillenbrand im Auftrag Bischof Dammerts gegen das falsche Zitieren und die Inanspruchnahme des Glaubensbuches für bestimmte Zwecke und Interessen in einem nicht öffentlichen Brief vom 4. 7. 1979 an Kardinal Ratzinger protestiert hatte, antwortete der Kardinal in einem persönlichen Brief (28.7.1979).[4]

„Meine Osterpredigt ist außerhalb Münchens nur durch vage Gerüchte bekannt gemacht worden. Die Quelle, die Sie offenbar benutzt haben, hat diese Gerüchte in einer Form ausgebaut, in der die Tendenz auf Diffamierung meiner Person unverkennbar ist.

1. Ich habe weder das schwarze noch das rote Tuch kritisiert, kritisiert habe ich zweierlei an dem betreffenden Text: a) das Fehlen eines konkreten Bekenntnisses zur leiblichen Auferstehung Jesu Christi; b) die Politisierung des Reich-Gottes-Begriffes und die Tendenz zur Gewalt. Daran habe ich nichts zu ändern.

2. ... Bei meinem letzten Besuch in Südamerika hat mich Kardinal Landázuri von Lima geradezu beschwörend gebeten, wir möchten doch in Europa endlich einsehen, dass Kirche und Theologie in Lateinamerika in einer lebensgefährlichen Auseinandersetzung mit dem Marxismus stehen, deren Ernst gar nicht radikal genug einzuschätzen ist. Ähnliches haben mir auch viele andere Bischöfe und Kardinäle auf die Seele gebunden.

3. Die Befreiungstheologie ist kein amerikanisches Produkt, sondern der ganzen Tradition der lateinamerikanischen Kirche zutiefst fremd. Eine ‚Theologie’, die so sehr rationalistisch denkt und so sehr den Menschen der Ökonomie unterordnet, bedeutet die wirkliche Versklavung aller fremden Kulturen unter die Diktatur einer einzigen als normativ sich ausgebenden, die unter Missbrauch eines bestimmten Typs von intellektueller Überlegenheit den anderen ihr eigenes Recht nimmt und sich dann noch dreist als deren eigene Aussage aufspielt.

4. Ich habe nun noch zwei Fragen an Sie: a) Sie sagen, ‚man’ habe Ihnen gesagt, es bestehe wenig Aussicht, dass dieser Brief in meine Hände gelangt. Da diese Behauptung ihre Heimat gewiss nicht in Lateinamerika haben kann würde mich interessieren, wer sich hinter ‚man’ verbirgt; b) Sie sagen der ‚Vorfall’ sei unter Hunderten von Campesinos bekannt geworden. Da die Campesinos gewiss keine deutschen Pamphlete lesen, würde mich interessieren, wer es für nötig hielt, ungeklärte Gerüchte unter ihnen als Tatsachen zu verbreiten“.[5]

Hans Hillenbrand antwortete am 12. August 1979, ebenfalls in einem nicht öffentlichen Brief: „Zunächst zu den Informationsquellen: sagen wir es klar: Die ersten Nachrichten kamen über Publik-Forum, was uns aber noch nicht zum Reagieren brachte. Dann aber kamen Briefe von Gottesdienstbesuchern, die Ihre Predigt gehört hatten. In und um München leben eine ganze Menge kirchlicher und staatlicher Entwicklungshelfer, die hier gearbeitet haben und mit uns hier noch in sehr regem Kontakt stehen. Sie selbst, Familienangehörige und Freunde hatten das Rad ins Rollen gebracht. Sogar von Ekuador, was ja Patenland zu Ihrer Diözese ist, und wo ebenfalls unser Glaubensbuch verbreitet ist, bekamen wir Briefe. Daher auch die Kenntnis des Vorfalls unter den Campesinos. Ich habe leider Angst (Sie können mich feige nennen!), Ihnen die Namen der deutschen Freunde mitzuteilen, weil Ihre Formulierungen in Punkt 1 befürchten lassen, Sie könnten vielleicht sogar gerichtliche Schritte gegen diese Personen unternehmen. Ich bat die betreffenden Personen aber, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.

Was den Punkt 2 Ihres Briefes betrifft, so muss ich sagen, dass die biblische Formulierung (Mk 16.6) ‚Ha resucitado’ dreimal in dem umstrittenen Kapitel vorkommt. Bisher haben wir noch niemanden hier getroffen, der diese Formulierung als eine Negierung der leiblichen Auferstehung Christi verstanden hätte, was der Welt der Campesinos in ihrer Realitätsgebundenheit auch total fremd wäre. Übertragen Sie mit Ihrer Kritik nicht Fragestellungen Ihrer deutschen Welt zu schnell auf hiesige Verhältnisse? Den anderen Vorwurf vom ‚politischen Reich Gottes’: Im ganzen Kapitel ist weder vom Reich Gottes noch von einer expliziten oder impliziten Politisierung die Rede. Vielleicht gibt es in Deutschland eine ‚Piratenausgabe’, gegen die wir von hier aus vorgehen müssten! Ich weiß also nicht, aus welchen Sätzen oder Worten Sie Ihren Vorwurf hernehmen.

Zu Punkt drei hätte ich zu viel zu bemerken, was brieflich einfach unmöglich ist. Hier nur das: Kardinal Landázuri kennen wir sehr gut und wir schätzen ihn sehr. Er betont immer wieder, dass der Grund der ‚Marxismusmöglichkeit’ aus der Welt geschafft werden muss: die Armut, die Ungerechtigkeit und die Unfreiheit. Das Dokument der peruanischen Bischöfe für Puebla enthält dafür eine Menge Zitate. Um Medellín, Puebla und den peruanischen Bischofsdokumenten gerecht zu werden, hätten wir noch viel radikaler schreiben müssen. Haben Sie Angst, diese ‚Hintermänner’ anzugreifen? Zu Punkt 4 bedauere ich, dass Sie wieder in die Eingleisigkeit einer Theologie zurückgefallen sind, die Sie ja zuvor selber verworfen hatten.

Zur Frage der Geschichte der Theologien der Befreiung gibt es inzwischen eine Menge wissenschaftlichen Materials, das Ihre Behauptung, ‚sie seien europäischen Ursprungs’ in Zweifel zieht… Ich selbst bedauere es, dass in der Diskussion zu viele aggressive Dimensionen mitschwingen, die ich für nicht christlich halte und für die ich, wenn sie von meiner Seite kommen, um Entschuldigung bitte. Meine Gedanken wollen neben der Disconformidad zu Ihren Ideen immer die Hochschätzung für Ihre Person beibehalten, die noch aus der Konzilszeit herrührt“.

Analyse

Im Kontext dieser Arbeit über den Glauben und die Kirche der Menschen von Cajamarca wird deutlich, wie die Ausführungen und das Vorgehen von Kardinal Ratzinger zu bewerten sind und welchen jeweiligen Standort sie verdeutlichen. Sie umfassen das gesamte übliche Instrumentarium und die gesamte Palette aller Vorwürfe und bewusster Verdrehungen gegen eine Praxis, die ausgehend von der Botschaft Jesu die Menschen auf Gott und die Gemeinschaft hin öffnet. Es soll aber ausgehend von den Ausführungen und Deutungen Ratzingers wenigstens noch einmal auf dieses übliche Instrumentarium hingewiesen werden.

  1. Ratzinger reagiert auf eine sachliche Aufzählung von Fakten mit dem Vorwurf persönlicher Diffamierung und Verleumdung. Er geht auch nicht darauf ein, dass er es ist, der falsch zitiert hat und der falsche Behauptungen aufstellt. Er stellt die Campesinos an den Pranger, verhöhnt ihren Glauben an Jesus Christus und legt ein falsches Zeugnis wider sie ab. Während dies für Campesinos tödlich sein kann, fühlt sich der Kardinal persönlich diffamiert, wenn man ihn auf sachliche Fehler aufmerksam macht. Er spricht von Pamphleten und Gerüchten, statt zu dem zu stehen, was er wirklich gesagt hat.
  2. Zur leiblichen Auferstehung: H. Hillenbrand weist schon darauf hin, dass der betreffende Vorwurf völlig an der Realität vorbei geht. Doch dahinter steckt mehr. Das scheinbare Beharren auf dogmatischer Rechtgläubigkeit verdeckt, dass Ratzinger und die Kirche, für die er steht, in ihrer konkreten Praxis gerade diese Leiblichkeit Jesu und des Menschen stets bekämpfen oder zumindest ignorieren - spätestens seit den Zeiten von Augustinus. Er ignoriert damit auch den realen Kontext der Campesinos und die Menschwerdung Gottes in ihrer Mitte. Diese Welt- und Leibfeindlichkeit hatte in der Geschichte und bis heute verheerende Folgen, auf die hier nicht eingegangen werden muss.
  3. Der Vorwurf der Politisierung und der damit verbundenen Kritik von einer Vermischung oder Verwechslung von Religion und Politik ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen. Während der Papst Menschen heilig spricht, die den Massenmord an Zivilisten als „Beitrag zur größeren Ehre Gottes“ (so der Gründer Opus Dei zu den über 200.000 Opfern des spanischen Bürgerkrieges) bezeichnen, werden die Opfer auch noch verurteilt, wenn sie sich gegen eine solche Politik verteidigen wollen und Missstände anprangern.
  4. Die in Peru sehr geachtete und respektierte Autorität von Kardinal Landázuri wird für die Durchsetzung eigener Interessen in Anspruch genommen. Bischof Dammert berichtet von einem diesbezüglichen Gespräch mit Kardinal Landázuri, in dem dieser erklärte, dass er wohl von Ratzinger falsch verstanden wurde. Wenn man Ratzinger keine böse Absicht unterstellt, dann ist festzustellen, dass er selbst in persönlichen Gesprächen das herauszuhören scheint, das er schon immer vermutet hat - unabhängig davon, was der Gesprächspartner wirklich gesagt hat. Der Marxismusvorwurf an die Theologie der Befreiung erwies sich zudem bald als bloßer Vorwand, um alle die zum Schweigen zu bringen, die eine „Kirche des Volkes“ forderten und die auch die wirtschaftlichen Privilegien einer Minderheit in Frage stellten, die also wirklich an Inkarnation und leibliche Auferstehung - an die Ganzheit des Menschen - glauben. Landázuri, Dammert u.a. betonten immer, dass das Elend, die herrschende Ungerechtigkeit (auch weltweit) etc. die größte Gefahr für die Menschen in Peru darstellen. Im Übrigen ist es absurd, die Frage des Marxismus mit der Glaubenspraxis der Campesinos in Zusammenhang zu bringen.
  5. Wenn Ratzinger in seinen Ausführungen von der Theologie der Befreiung als „so sehr rationalistisch, der lateinamerikanischen Kirche zutiefst fremd“ redet und sie dann in Zusammenhang mit der Versklavung fremder Kulturen durch eine sich normativ gebende bringt, dann ist das absurd und „diabolisch“ (die Wahrheit ins genaue Gegenteil verkehrend). Es war gerade diese schon beschriebene europäische Denk- und Verfahrensweise, die zur Ausrottung ganzer Völker führte. In diese Tradition stellt sich Ratzinger selbst.
  6. Die Art und Weise, in der Ratzinger von Liebe und Auferstehung redet, weist darauf hin, dass er das, was die Campesinos damit meinen, was sie erlebt und erfahren haben, nicht verstehen kann. Es geht hier um verschiedene Dimensionen menschlicher Existenz.
  7. Es geht hier nicht zuerst um theologische, theoretische Auseinandersetzungen, sondern um das Leben von ganz konkreten Menschen. Die von Ratzinger diffamierten Campesinos sehen sich heute gewaltigen Repressionen ausgesetzt. Während der Gründer des Opus Dei heilig gesprochen wird, bekämpfen zwei Priester des Opus Dei die Campesinos und ihre Organisationen mit aller Macht. Die wahre Option von Glaubenshütern wie Ratzinger zeigt sich in der Praxis. Diese Option des Kardinals kann für die Campesinos tödlich sein.

Bald danach wurde Ratzinger zum obersten Glaubenshüter der römischen Kirche ernannt. Die Feier des beginnenden neuen Lebens und der Auferstehung als Sieg über die Mächte des Todes wird von den Glaubenswächtern als Rebellion oder „falscher Glaube“ interpretiert und bekämpft. Ratzinger soll hier nicht als bewusster Vertreter dieser Mächte präsentiert werden, vielmehr weist sein Verhalten auf den Zwiespalt hin, dass er - wie der Papst - einerseits mit Recht den gottlosen westlichen Materialismus anklagt, andererseits aber Gruppen und Bewegungen mit Sanktionen belegt, die de facto dagegen aufstehen. Dieser Widerspruch ist die logische Folge einer weltlosen Theologie und einer kirchlichen Institution, die von den Mächtigen je nach Bedarf benutzt oder lächerlich gemacht werden kann.[6]

Ein Blick auf die heutige Praxis zeigt, wie die Ausführungen Ratzingers zu sehen und welche Vorbilder ihm wichtig sind. In der Vorstellung eines Buches über den Gründer des Opus Dei, Josemaría Escrivá, sagt Ratzinger: „Hier haben wir einen Mann vor uns, der sich der Präsenz Gottes gegenüber geöffnet hat und erfährt, dass Gott immer am Werk ist, gerade auch heute, und dass wir ihn in unser Leben Einlass gewähren und handeln lassen sollen“. Heilig sein, so Ratzinger, bedeute daher nicht, „dass jemand etwas Großes aus sich heraus gemacht hat, sondern dass in seinem Leben gerade das offenbar wird, was er nicht aus sich selbst heraus schaffen kann und er transparent für das Werk Gottes wird. In anderen Worten, heilig zu sein heißt nichts anderes, als mit Gott wie mit einem Freund zu reden“.[7]

Es liegt nahe, das Leben dieses neuen Heiligen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und mit dem Glaubenszeugnis der Katecheten von Bambamarca zu vergleichen, den Autoren von Vamos Caminando wie z.B. Valentín Mejía.[8] Ein Vergleich liegt auch deshalb nahe, weil sowohl bei Escrivá als auch den Campesinos das Wegemotiv eine entscheidende Rolle spielt und Priester des Opus Dei seit 1997 in Bambamarca das Sagen haben. Am Beispiel der Campesinos ist deutlich geworden, was der Ausgangspunkt ihres Weges ist, wer sie auf diesem Weg begleitet und wohin dieser Weg weist. Ratzinger dagegen hat gezeigt, welchen Weg er für richtig hält.[9]


Anmerkungen

[1] Die folgenden Texte, die diese Auseinandersetzung dokumentieren, befinden sich im Archiv der Kirchengemeinde St. Martin, Dortmund.

[2] Es folgt der betreffende Auszug aus Vamos Caminando in der Version der bis dahin veröffentlichten Fassung (Arbeitsmappe im Selbstverlag). In dem Vorwort zu dem Sonderdruck schreibt Publik-Forum: „Ein anschauliches Beispiel, wie die Theologie der Befreiung in der pastoralen Arbeit mit Bauern und Landarbeitern in Lateinamerika umgesetzt werden kann, vermittelt ein peruanisches Glaubensbuch, also eine Art Katechismus, mit dem Titel ‚Vamos Caminando’ (Machen wir uns auf den Weg)“. Das Vorwort weist darauf hin, dass deutsche Sympathisanten den Campesinos und dem ureigenen Anliegen der peruanischen Theologen der Befreiung selten gerecht werden. Entsprechend den europäischen Denkstrukturen sind es zuerst einige Theologen als Individuen, die eine Theorie entwickelt haben um sie dann dem Volk beizubringen. Sie erleichtern den Gegnern der Campesinos, dann von „Schreibtischtätern“ reden zu können, die das Volk gegen die bestehende Ordnung aufhetzen. Diese Personalisierung und Abstrahierung ist noch aus einem anderen Grund schädlich: Wenn die manchmal innig verehrten Protagonisten der Theologie der Befreiung (Gutiérrez, Boff etc.) aus der Mode geraten oder persönlich angreifbar geworden sind, dann - so der Kurzschluss - ist auch das Thema als solches erledigt. Was aber an der Basis geschieht, interessiert dann nicht mehr, weil diese Basis (die Campesinos und ihre Praxis) zu keinem Zeitpunkt wirklich im Zentrum stand.

[3] Goldstein, Horst: „Schaut, das rote Tuch“! Archiv St. Martin, Dortmund.

[4] Der erste Brief von Hans Hillenbrand im Auftrag Bischof Dammerts ist nicht zugänglich, er enthält zudem - außer der Tatsache, dass gegen die Predigt Ratzingers protestiert und dessen Interpretation der Texte aus Vamos Caminando zurückgewiesen wurde - inhaltlich nichts Neues. Die inhaltliche Auseinandersetzung findet dagegen in dem Briefwechsel statt, der nun hier und nur hier dokumentiert ist. Dammert selbst hat keinen Brief an Ratzinger geschrieben. Unter Mitarbeitern Dammerts wird dies zwar vermutet, doch lassen sich dafür keine Belege finden. Vielmehr handelt es sich um den Brief von Hans Hillenbrand, der dann allerdings - weil im Namen Dammerts - als „Dammertbrief“ bezeichnet wurde.

[5] Antwort von Hans Hillenbrand. Archiv St. Martin, Dortmund.

[6] „Die beste Widerlegung einer Theologie besteht nicht in verstandesmäßigen Argumenten gegen sie, sondern in den praktischen Folgen, die sie zeitigt. Nicht nur einmal, sondern immer wieder kritisiert Bartolomé de Las Casas Sepúlveda wegen seiner intellektuellen Kühle, wegen seiner fehlenden Kenntnis der indischen Länder und wegen seiner mangelnden Einsicht in die konkreten Folgen seiner Theologie“ (G. Gutiérrez : Die historische Macht der Armen. S. 162). Hier geht Gutiérrez auf den Streit zwischen Sepúlveda und Las Casas ein. Gutiérrez zitiert Las Casas: „Ich lasse in den indischen Ländern - schreibt er - Jesus Christus, unseren Gott, zurück: gegeißelt, gequält und gekreuzigt, und zwar nicht nur einmal, sondern millionenfach“ (S. 164). Gutiérrez fährt fort: „Solch ein Gedanke wäre in der Theologie von Sepúlveda unvorstellbar: Ein Indianer, der geboren wurde, um Diener der Europäer zu sein, kann doch nicht mit Christus identifiziert werden; Herren - die können ohne weiteres mit ihm gleichgesetzt werden“. (S. 164).
Ratzinger steht nicht in der Tradition von Las Casas.....

[7] Die Tagespost, Würzburg, 19. März 2002.

[8] Vgl. den Bericht von Valentín Mejía 1978 (Dok. 19, V) und Peter Hertel: Schleichende Übernahme - Josemaría Escrivá, sein Opus Dei und die Macht im Vatikan. Oberursel : Publik-Forum-Verlagsgesellschaft. Mai 2002.

[9] Die Auseinandersetzung mit Ratzinger stellt auch noch in einer anderen Weise ein zeitgeschichtliches, aber bereits Geschichte bildendes Dokument dar. Die Reaktion auf die zitierte Osterpredigt von Ratzinger war in Deutschland sehr groß. Einige namhafte Theologen und theologische Zeitschriften (allein Publik-Forum in vier Ausgaben 1979) beschäftigten sich mit Bambamarca als „Beispiel einer in die Praxis umgesetzten Theologie der Befreiung“. Die Aufbruchstimmung nach dem Konzil war noch nicht ganz verklungen, die Beschäftigung mit der Theologie der Befreiung lag voll im Trend. Auch die Partnergruppen, vor allem St. Martin, Dortmund und Hl. Kreuz, Castrop-Rauxel, mischten sich intensiv und kompetent in die Debatte ein. Das Engagement deutscher Christen war ein Spiegelbild der damaligen Verfassung innerhalb der Reformkräfte der deutschen Kirche. Die damalige moralische Unterstützung hat nicht nur die professionellen Mitarbeiter um Bischof Dammert herum ermutigt, sondern sie war auch für die Campesinos eine Bestätigung für ihren eingeschlagenen Weg.

Heute ist Bambamarca erneut zu einem Modell geworden. Bischof Simón hat den Auftrag erhalten, die Pfarrei wieder „in den Schoß der Kirche zurückzuführen“. Durch die Einsetzung zweier Priester des Opus Dei als Pfarrer von Bambamarca und durch starken persönlichen Einsatz versucht er, den Widerstand zu brechen. Die Verfasser und Adressaten von Vamos Caminando sind buchstäblich unter die Räuber gefallen. Doch die Reaktion in Deutschland auf diese Vorfälle ist gleich Null. Weder Theologen, noch theologische Zeitschriften und auch nicht Publik-Forum wollen das Schicksal der ehemals bewunderten und gefeierten Campesinos zur Kenntnis nehmen. So ist das heutige Verhalten gegenüber den Vorkommnissen in Bambamarca ein korrektes Spiegelbild der gegenwärtigen Verfassung von Kirche und Theologie, kirchlicher Presse und Öffentlichkeit.

Die Solidarität mit den Räubern gab es zwar schon immer, sie ist aber größer als je zuvor. Das heutige Desinteresse am Schicksal der „Indios dieser Welt“ wird von den Betroffenen registriert und macht sie noch betroffener. Ausgerechnet dann, wenn sie am dringendsten auf Solidarität angewiesen sind, werden sie nicht mehr gehört. Potentielle deutsche Sympathisanten und Gruppen haben andere Interessenfelder und Märkte entdeckt - nämlich vornehmlich sich selbst und ihre eigene Befindlichkeit.

Josef Ratzinger und der Glaube der Campesinos (Dokumentation)


24. Dez.:  Wie geht es weiter - was tun? (2013)    

Hola compañer@s: Im kleineren Rahmen, auch auf Diözesanebene, bekam ich einige Anfragen hinsichtlich meiner Einschätzung zu Papst Franziskus. Ich habe dann viel recherchiert etc. und den diesen  „vorläufigen Befund“ verschickt (knapp 2 Seiten, siehe Papst Franziskus). In unserem Kirchenblatt in Ulm erscheint mein Beitrag zum Misereor-Sonntag, hier als Anlage in leicht erweiterter Form. Im Januar 2013 fand das kontinentale Treffen der Fidei-Donum-Priester in Lima, Peru, statt. Thema: „Prophetische Herausforderungen des 2. Vat. Konzils“. Dazu war ich eingeladen, weil die Erfahrungen einer befreienden Pastoral in Peru im Mittelpunkt standen (siehe auch den Bericht: „Fidei Donum - ein Geschenk des Glaubens“). Auch auf diesem Hintergrund und von jenem Treffen bestärkt, sind folgenden Beobachtungen zu verstehen.

Hier einige Ergänzungen und Überlegungen zu den beiden Texten "Papst Franziskus" und zur Misereor-Fastenaktion:  "Wir haben den Hunger satt!" und was das für unser weiteres Vorgehen bedeuten könnte:  

  • Deutsche Bischöfe können sich nicht mehr hinter dem deutschen Papst (oder vorher Glaubenswächter) verschanzen – vor allem im Hinblick auf die angeblich lehramtliche Klärung in Sachen Frauenordination. Hier wäre als erster Schritt besonders darauf abzuheben, dass die beiden letzten Päpste entgegen Kirchenrecht und Konzil innerkirchliche Ordnungsregelungen (keine Dogmen) als quasi unfehlbare Wahrheiten verkündet haben. Dies muss jetzt benannt und aufgearbeitet werden.
  • Staatliche Privilegien für Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die Menschen wg. ihres Geschlechts und Geschlechtlichkeit diskriminieren und auch sonst gegen Grundrechte verstoßen (z.B. Recht auf Familienplanung, freie Entfaltung der Persönlichkeit auch im sex. Bereich, etc.) müssen abgeschafft werden, ebenso die Zwangsabgabe selbst für Menschen, die exkommuniziert worden sind (Ausschluss aus Sakramenten). In den politischen Parteien ist hier eine zunehmende Sensibilität zu beobachten, auch im Hinblick auf die gesamteuropäische Rechtsprechung. Das ändert nichts an dem Recht, vielleicht sogar Pflicht, dass eine Glaubensgemeinschaft mit ihren Mitgliedern zusammen Regeln zur Orientierung und „Verfassung“ aufstellt.
  • Deutsche Bischöfe – diesmal im berechtigten Hinweis auf Weltkirche – in die Pflicht nehmen, weil: Option für die Armen als zentrale Aussage der Bibel und einer Kirche der Armen (auch im persönlichen Vorbild, siehe Katakombenpakt, u.a.). Dahinter können sie nicht mehr zurück. Deutsche Bischöfe sind zuerst an ihrem Lebenswandel zu messen, ihrer Praxis im Umgang mit den Menschen, an ihrer Barmherzigkeit etc. etc. Aber auch Bischöfe sind Menschen und dürfen fehlen – aber nur gemeinsam und auf Augenhöhe (Respekt) können wir uns gegenseitig Stütze sein.
  • Grundlage einer neuen Ökumene (statt das immer gleiche ökomenisch-sinnlose Ping-Pong): Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung, Grundfragen der Menschen heute, ausgehend von den Ängsten und Hoffnungen der Hungernden und Ausgeschlossenen aller Art – und dies nicht nur im Sinne größerer Allianzen im gesellschaftspolitischen Bereich, sondern ausgehend vom Kern der Botschaft Jesu, spirituell und sakramental
  • Der Misereortextist nicht zuerst als Kampagnenbeitrag zu verstehen, sondern als Hinweis auf ein anderes, ein grundlegend biblisches Eucharistieverständnis, ausgehend vom Kern der Botschaft Jesu. In diesem neuen (ursprünglichen) Eucharistieverständnis geht es nicht zuerst um die Amtsfrage, sondern um die gemeinsam gelebte und erfahrbare Praxis in Gemeinschaft – als Antwort auf die entsprechenden Herausforderungen (z.B. Zerstörung der Schöpfung, Hunger) und als Antwort auf die Botschaft Jesu vom anbrechenden Reich Gottes.
  • Die Gemeinde selbst wird zum Brot des Lebens und so wird Gemeinde auch zum Subjekt einer Transformation der Welt: „Herrschaft von Liebe und Gerechtigkeit“ und Aufstehen gegen die Götzen des Todes, den herrschenden Götzendienst – dies meint übrigens auch Papst Franziskus mit Entweltlichung. Dieses Verständnis ermöglicht (als „Nebeneffekt“) auch erstens ein völlig neues ökumenisches Kirchesein und zweitens wird die Frage, ob Mann oder Frau einer solchen Eucharistiefeier vorstehen (bzw. ob es überhaupt „Vorsteher*innen“ braucht), zumindest zweitrangig.

Eine solche Feier ist ein wahrhaft sakramentales Zeichen, wenn die Teilnehmenden sich von Jesus gerufen auf dem Weg wissen und wenn ihre alltägliche Praxis glaubhaft und authentisch ist. Bisherige „Ausschlusskriterien“ sind dagegen völlig willkürlich, sie sind fast ausschließlich – im weitesten Sinne - sexuell begründet und eigentlich dürfte nach diesen Kriterien fast niemand mehr zur Kommunion gehen bzw. zur Gemeinschaft der Jünger/innen Jesu gehören.

Ich möchte nur einige Gedanken in eine kreative Diskussion einbringen, die nicht nur Gedankenspiele sind, sondern die zu einer bereits bestehenden, aber bei uns fast vergessenen Praxis geführt haben (z.B. "Vamos Caminando - Glaube, Gefangenschaft und Befreiung in den peruanischen Anden", Bambamarca 1976).

Nun bietet sich vielleicht eine einmalige historische Chance (nur ein kurzes Zeitfenster!?), dies vehement einzufordern und noch besser: zu tun. Liebe Grüße, Willi Knecht


            Conclusio: (als eine Art Schlussfolgerung)

a)  Diejenigen, die am meisten verachtet werden, wie die Campesinos von Bethlehem, sind die Ersten, die die Botschaft von einem Neuen Himmel und einer Neuen Erde hören. Sie brechen auf, machen sich auf den Weg und entdecken ihren Retter und Befreier. Das heißt: Menschwerdung (seiner Berufung gerecht werden) in der Nachfolge Jesu.

b)  Menschwerdung und Auferstehung: Die Gemeinschaft der Jünger*innen von Jesus dem Christus entlarvt die herrschenden Götzen und deren Diener. Im Widerstand und Aufstehen gegen die Menschen verachtenden Ungerechtigkeiten geschieht Auferstehung. Ziel: Ein Leben in Würde für alle - vorrangig für diejenigen, denen diese Würde vorenthalten bzw. geraubt wird – im Rahmen der planetarischen Grenzen unserer „Mutter Erde“.

„Diejenigen, die am meisten verachtet werden, die Hirten von Bethlehem, sind die Ersten, die die Botschaft von einem Neuen Himmel und einer Neuen Erde hören. In der finsteren Nacht einer langen Geschichte öffnet sich ihnen der Himmel und steigt zur Erde hinab. Das Licht dringt in die Herzen der Menschen ein und zeigt ihnen den Weg. Sie folgen dem Stern und sie gelangen zu einer Hütte. Dort entdecken sie in einer Krippe ihren Retter und Befreier - während die Weisen von Jerusalem und die Mächtigen von Rom und deren Statthalter weder diese Botschaft hören noch den Stern sehen können, weil sie sich selbst für das Licht halten.“ (Willi Knecht, 1999)

   Geburt Jesu           >              Leonardo

Lucy Jochamowitz: Geburt Jesu                               Leonardo Herrera: Auferstehung in “Vamos Caminando” (1976)                                  (Bambamarca 1978)

Oscar Romero: „Ich denke, wir haben das Evangelium sehr verstümmelt. Wir haben versucht, ein sehr angenehmes Evangelium zu leben, ohne unser Leben aufzugeben, in selbstverliebter Frömmigkeit, ein Evangelium, das uns selbst gefiel.“ (Predigt 19. 6. 1977)

____________________________________________________________________

[1] Die meisten Städter von Cajamarca haben noch nie eine Comunidad in der Umgebung von Cajamarca besucht, ein Ausflug aufs Land erscheint vielen als eine abenteuerliche und gefährliche Expedition. Selbst einige sozial und kirchlich engagierte Städter, die vereinzelt von Katecheten in ihre Comunidad eingeladen worden waren, haben dadurch zum ersten Mal in ihrem Leben z.B. ein Fest auf dem Land miterlebt. Für viele Städter ist es daher unbegreiflich, warum „reiche Ausländer“ ein so großes Interesse haben, aufs Land zu gehen.

[2] Als eine peruanische Studentin aus Lima eine Familie in Deutschland besuchte, wurde ihr brauner Zucker als etwas Besonderes zum Tee angeboten. Entrüstet stand sie auf und beschwerte sich unter Tränen: man halte sie wohl für primitiv. Denn sie stamme nicht aus dem „campo“, sondern aus einer guten Familie in der Stadt.

[3] Hier: Bezeichnung für einen Menschen indigener Herkunft, der sein will wie die Weißen und dabei seine Herkunft verleugnet, ohne diese aber vergessen lassen zu können. In Cajamarca wird die Bezeichnung „Cholo“ im Allgemeinen für alle Campesinos benutzt und ist in der Regel - mit vielen Ausnahmen - negativ gemeint.

[4] Ein Campesino gilt als reich, wenn er mehr als drei Kühe und/oder zehn Schafe besitzt. Verkauft er diese, reicht ihm dies als Anzahlung für eine Hütte oder kleines Grundstück am Stadtrand.

[5] In den letzten Jahren ist noch eine andere Bewegung festzustellen: Aufgrund der zunehmenden Verarmung des Mittelstandes verkaufen oder vermieten immer mehr Familien ihr Haus im Stadtzentrum, um ein billigeres Haus am Stadtrand zu kaufen oder zu mieten, um dann von dem Differenzbetrag leben zu können.

[7] In Lateinamerika steht bei den Begriffen „Kapitalismus“ und Sozialismus“ nicht zuerst die von Karl Marx gebrauchte und „wissenschaftlich“ untermauerte Definition im Vordergrund (was nichts anderes ist als eine Art des Eurozentrismus). Sozialismus bedeutet hier zuerst eine Werteordnung, in der das Wohl der Gemeinschaft im Vordergrund steht und in der jeder Einzelne seine Verwurzelung hat (andine Kosmovision!). Von daher leiten sich entsprechende Rechte und Pflichten ab. Der Mitmensch ist zuerst Teil derselben Gemeinschaft und somit ein „Nächster“. Kapitalismus bedeutet hier eine Werteordnung, in der der Einzelne zuerst auf sich gestellt ist und in der die Gemeinschaft und der Mitmensch zuerst als ein Gegenüber bzw. als Konkurrent angesehen werden. Höchstes Ziel ist der eigene Erfolg, der sich z.B. am erworbenen Kapital messen lässt.

[8] Investitionen in unterentwickelten Ländern sind meist von der Steuer absetzbar, weil sie angeblich Arbeitsplätze schaffen, in Wirklichkeit aber meist die einheimische Kleinindustrie und das Handwerk in den Ruin treiben; und arme Länder - genauer deren Marionettenregierungen/Oberschicht - buhlen gar um die Ansiedlung großer Unternehmen mit dem Argument der billigen Arbeitsplätze - u.a. Kinderarbeit - und der niedrigen Sozial- und Umweltstandards.