Das Nein zum Anderen als Ursünde
Weil der Mensch, auch der schon erlöste und befreite Mensch, immer schon (noch) ein Sünder ist, eben weil er Mensch ist und nicht Gott, kann er auch nicht aus sich heraus eine völlig befreite und erlöste Welt schaffen. Seit es Menschen gibt und solange es Menschen geben wird, leben sie in der Versuchung, wie Gott sein zu wollen, über andere Menschen zu herrschen, mehr sein und mehr haben zu wollen und ihr eigenes Leben ohne Rücksicht auf andere genießen zu wollen. Theologen können das meist leicht und theoretisch und biblisch erklären und schreiben dicke Bücher darüber. Aber dies geschieht meist sehr abstrakt (als ob sich je ein Mensch ernsthaft überlegen würde: will ich sein wie oder nicht?) und geschichtslos. Erstrecht wird z.B. Missbrauch durch ökonomische Macht nicht aufgedeckt oder die Schuldigen oder Verursacher von Hunger nicht namentlich genannt. Zudem wird die Sünde meist immer noch als etwas rein Innerliches und Privates angesehen – als eine Angelegenheit zwischen „meinem Gott“ und mir. Das ist aber nicht gemeint, wenn in dieser Arbeit wie in der Bibel von „der Sünde der Welt“ gesprochen wird. Vielmehr gilt es zu zeigen, warum sich ausgerechnet im christlichen Europa ein derartiges Herrschaftsgebaren entwickeln konnte, eine „Kultur und Praxis des Todes“ die geprägt ist von der Gier nach mehr haben wollen und Macht über den Nächsten. Es gilt den Zusammenhang aufzuzeigen zwischen der heute bestehenden Situation in der Welt (Spaltung etc.) und der Ursünde, die sich dank der Herrschaft der Europäer, ihrer Kultur und Mentalität, weltweit etabliert hat.
„Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht“. „Denken und Sein sind dasselbe“. Um diese zwei Sätze des Parmenides kreist die gesamte griechische klassische Philosophie, insbesondere die Dialektik des Aristoteles. Für den gebildeten Griechen war seine Welt, seine Polis, das Sein schlechthin. Seine Kultur und seine Polis waren der Maßstab, mit dem er die ganze Welt maß. Und entsprechend diesem Maß unterteilte er die Welt und die Menschen. Was außerhalb dieser seiner Welt lebte, war das Nichts (der Nicht-Mensch). Das waren die Barbaren, die Sklaven und alles, was jenseits des griechischen Denkhorizontes lag. Auf diese Weise vergöttlichte der Grieche seine Welt und tötete damit die Anderen als Andere, bzw. er nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Eine solche Ontologie ist per se unterdrückerisch und imperialistisch – von einem Menschen der Peripherie, vom Standpunkt eines Barbaren her betrachtet. Diese Welt „außerhalb“ kann daher entweder nur völlig ignoriert (nicht existent), oder vernichtet oder völlig vereinnahmt werden.[22]
Von dieser Philosophie ist das gesamte abendländische Denken bis heute beeinflusst. Descartes sagte: „Ich denke, also bin ich“. Das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt seines Denkens und bis heute auch der europäischen Philosophie. Selbst J. P. Sartre, der für sich in Anspruch nimmt, die bisherige abendländische Philosophie überwunden zu haben, bleibt in dieser Subjektivität, des Kreisens um sich selbst, gefangen (wenn auch mit guten Ansätzen, diese zu überwinden). Für Fichte ist das Ich das Absolute und durch sich selbst Gesetzte. Die Grundlage seiner Philosophie ist das „Ich bin Ich“, das Ich als Totalität. Das Ich wird nicht von wo andersher, z.B. von einem anderen Menschen her konstituiert, sondern von der eigenen „Ichheit“ – im Gegensatz und in Abgrenzung zum Anderen. Fichte ist zwar ein besonders exponierter Denker dieser Art von Subjektivität, aber im Grunde bleibt auch die klassische deutsche Philosophie in diesem Ansatz gefangen. Dieser Ansatz wird z.B. von Hegel wiederholt und weitergeführt. Für ihn ist das Ganze das Eine. Die hegelianische Dialektik geht vom Ich aus und setzt sich dabei zwar einem Objekt gegenüber, aber dieses Gegenüber ist vom eigenen Ich her gedacht und konstruiert. Dieser scheinbar dynamische Prozess, der eigentlich ja über den eigenen Standpunkt hinausführen könnte und müsste, geschieht innerhalb einer Totalität und eines geschlossenen Denkhorizontes, den man nur als absolute Subjektivität bezeichnen kann. Bei Hegel und Gefolge wird diese Totalität mit dem eigenen ontologischen Horizont identifiziert, d.h. mit dem europäischen Denken, der europäischen Kultur und der europäischen (Eroberungs-) Geschichte, die so verhängnisvoll für die übrige Welt waren und noch sind. So sprechen Hegel, Fichte, Goethe u.v.m. und selbst Marx von den Menschen in Afrika und den Indianern in Amerika wie selbstverständlich von den Wilden, die bestenfalls die unterste Stufe des Menschseins erreicht haben – wenn überhaupt. (Ein nützlicher Hinweis auf die Kraft der menschliche Vernunft und dem Wissen und dem Anspruch der selbst ernannten Intellektuellen, die auch heute angesichts des Zustandes der Welt jämmerlich versagen). Der Andere wird nicht als der Andere gesehen, er wird nicht als (gleichwertiger) Mensch geachtet und respektiert. Er wird getötet, in seiner Identität ausgelöscht. „Das Schwerwiegendste ist, dass die besagte Ontologie die europäische und auf Eroberung ausgerichtete Subjektivität vergöttlicht.
Auch Karl Marx konnte dieses genuin europäische Denken nicht überwinden. Die dialektische Philosophie Hegels hat bei Marx weiter seine Gültigkeit. Die Dialektik besteht auch bei Marx in der dialektischen Ausfaltung des bestehenden, europäischen und kapitalistischen Seins. Nur ist nun für Marx das Sein die Arbeit. „Die Kategorie der Totalität als solche wird nicht überwunden. Die Möglichkeit eines Systems, das von außerhalb des bestehenden Systems entsteht, vom außerhalb des Kapitalismus her, ist unmöglich“.[24] Marx bleibt innerhalb seiner bürgerlichen Welt gefangen und kann daher nicht zum Anderen finden, der außerhalb lebt. Der Andere wird nur als Gegenpol meiner selbst gedacht, z.B. als Unterdrücker. Die neu zu entstehende Gesellschaft wird konsequenterweise als neue Totalität gedacht. Die Methode der Dialektik erweist sich ihrer Natur nach als ungeeignet um den Anderen zu hören und zu ihm zu gelangen.
Von Parmenides führt ein direkter Weg über Descartes, Hegel, Marx und Heidegger bis in die Gegenwart. „Das Bedenkliche ist, dass der Andere, der andere Mensch als der Andere (der Indio, der Afrikaner, der Asiat, die Frau usw.) zu einer Idee, zu einem Objekt, zu dem Sinn wird, der von einem ´konstituierendem Ur-Ich´ konstituiert wird: der Andere wird zu einem bloßen ´cogitatum´ ent – identifiziert, verdinglicht und entfremdet“. [25] Die Europäer, in ihrem So-Sein gerechtfertigt durch die europäische Philosophie (und ihrem Gefolge ihre Religion und Moral – oder zuerst Religion?) erhoben ihre Art zu leben, zu denken und zu glauben zum absoluten Maßstab und vergöttlichten somit sich selbst und die Ganzheit in der sie lebten. Gott als der ganz Andere, der Analektische, wurde damit getötet, ebenso alle, die nicht zu diesem System gehörten oder es nicht anerkannten. Nach biblischen Glauben wird dort, wo Gott getötet wird, auch der Mensch getötet (und umgekehrt). Menschen, die den Christus, kreuzigen, kreuzigen die gesamte Menschheit. Und überall dort, wo Menschen um der Habgier willen um ihr Leben gebracht werden, da wird Christus gekreuzigt. „Der moderne Mensch, indem er den Anderen verneint, den absolut Anderen, nämlich Gott, die absolute Andersheit, bleibt mit seinem ´Ego ´allein. Und in dem in seinem ´Ego ´ allein bleibt, ist das Schlimmste nicht, dass er auch ohne Gott bleibt, sondern dass er sich selbst als Totalität konstituiert“.[26] Diese Nein zu Gott und dem Mitmenschen kann man als die Ursünde schlechthin bezeichnen.
In der Bibel wird das gerade gesagte verdeutlicht, u.a. in dem Beispiel von Kain und Abel. Kain tötet den Anderen, seinen Bruder, und macht sich dadurch zum alleinigen Maßstab, zur Totalität. Wenn die Andersheit ausgelöscht oder verleugnet wird, ist das, was bleibt, das Eine und das Ganze. Und dieses Eine und Ganze verabsolutiert sich, notwendigerweise. Es vergöttlicht sich, weil es sich selbst zum Ausgangspunkt und Ursprung von allem macht und sich damit an die Stelle Gottes setzt, wie Gott sein will. Das ist zugleich die Urversuchung der Menschheit und aller Menschen. Denn sie sind frei, ob sie Gott als den Ursprung allen Lebens anerkennen oder sich selbst für den Ursprung halten wollen. Die Schlange sagt zu Adam: „Ihr werdet sein wie die Götter“. Kann es eine größere Versuchung geben? Doch die Geschichte der Menschheit zeigt, gerade auch die Geschichte Israels, wohin es führt, wenn der Mensch dieser Versuchung erliegt. Wer den Gott des Lebens tötet und sich an seine Stelle setzt, der zerstört die menschliche Familie, die Gemeinschaft unter den Menschen und die Schöpfung Gottes als Ganzes. Wenn der Andere ausgelöscht wird, wird das eigene Ich notwendigerweise sakralisiert und zum Götzen. Und indem man nun diesen Götzen anbetet, betet man sich selbst an oder das Werk der eigenen Hände. Wenn die Bibel von Götzendienst spricht und diesen verurteilt, so meint diesen Götzendienst. „Derjenige, der den Anderen tötet, muss sich selbst als göttlich anbeten. In diesem Fall ist der Götzendienst, dessen Fetischisierung mit der Ungerechtigkeit des Brudermords oder dem Tod des Anderen begann, als Atheismus gegenüber dem Schöpfergott zu betrachten“.[27]
Die Sünde wider den Anderen besteht so in der Verneinung des Anderen und in der Bestätigung der eigenen Totalität als göttlich und im Götzendienst. Dies wirkt sich konkret im ungerechten Verhalten gegenüber dem Nächsten aus, der Hauptsünde im NT. Höre ich nicht auf den Nächsten, den Bruder und die Schwester, und mache ich mir seine Bedürfnisse nicht zu meinen eigenen, so verneine ich ihn als Bruder und Schwester und bestätige mich als den Einzigen. Das wird besonders deutlich in der Erzählung vom Barmherzigen Samariter. Der Nächste, der Andere, ist grundsätzlich derjenige, der unter die Räuber gefallen ist und der hilflos im Straßengraben liegt, verletzt und beraubt. An ihm vorbeigehen, ihn nicht hören und nicht sehen, ihn nicht als Mitmensch zu erkennen, heißt, ihn zu verneinen, heißt Gott verneinen. Ein Priester und ein Levit gehen vorbei.
Die Propheten des AT klagen den Götzendienst und den Ungehorsam gegenüber Gott als Hauptsünde und als die Ursache für das Elend und die Ungerechtigkeiten in Israel an. Denn dieser Ungehorsam bzw. Götzendienst und Abfall von Gott, wirken sich aus in der Ablehnung des Menschen und schafft konsequenterweise Ungerechtigkeit und Elend. Die Propheten klagen aber nicht nur den Einzelnen an, sondern sie klagen die Totalisierung der bestehenden und von Menschen verursachten Unordnung an sowie die Vergöttlichung der bestehenden politischen Machtverhältnisse. Denn sie bedeuten letztlich die Institutionalisierung und Etablierung der Hauptsünde wider Gott und den Mitmenschen.
Die Propheten sprechen im Namen Gottes. Nur von der Andersheit her, von außerhalb des Systems her, kann man den Anderen hören, kann man gegen die etablierte Ungerechtigkeit ankämpfen. Das ist auch der Grund, warum die jüdische Amtskirche, Priester und Levit, nicht den Anderen sahen und an ihm vorbei gingen. Sie lebten ja in ihrer eigenen Ordnung, ihrem eigenen Kult und ihren eigenen Gesetzen; sie hatten ihre eigenen angestellten Hofpropheten und hielten sich für die Stellvertreter Gottes bzw. für sein Werkzeug - Stellvertreter eines Gottes, den sie sich selbst und in ihrem eigenen Interesse so ausgedacht haben. Sie sind so Stellvertreter ihrer selbst, ihrer eigenen Selbstherrlichkeit. Die wahren Propheten aber, wie sie uns die Bibel zeigt, werden von diesen Hohepriestern verfolgt und der endgültige Prophet, Jesus, erstrecht. Die Totalität, das selbstherrliche System, das für sich totale Unterwerfung fordert, nimmt die Kritik der biblischen Propheten nicht an, sie könnte das gar nicht, ohne sich selbst in Frage zu stellen. „Hat sich das System erst einmal vergöttlicht, ist es möglich, die wahren Propheten zu töten und im Namen des göttlichen Rechts den Schwachen zu unterdrücken“.[28] In der Folge werden im Namen des göttlichen Rechts ganze Völker ausgerottet.
[22] Die Welt des „ganz Anderen“, Gott, der von außerhalb diese geschlossene Welt aufbricht und dies gerade dadurch, dass er unter den Barbaren, den Ausgestoßenen, Mensch wird, kann in der griechischen Philosophie nicht einmal ansatzweise gedacht werden. Dass dann gerade eine solche Philosophie mit ihrer Begrifflichkeit zum „Geburtshelfer“ des Glaubens an Jesus den Messias und der im 4. Jh. entstandenen Christologie werden konnte, kann als die Ursünde des Christentums bezeichnet werden. Denn sie verhindert, die wesentliche Botschaft des Christentums zu erkennen: Die Menschwerdung Gottes, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu und dessen Frohe Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes. Diese Botschaft stellt das komplette Kontrastprogramm zur griechischen Philosophie dar. Diese genannte Ursünde wirkt bis heute weiter, nun unter römischem Gewand.
[23] Enrique Dussel: Método para una filosofía de la liberación; Salamanca 1974, S. 114
[24] Dussel: a.a.O., S. 148
[25] Dussel: Herrschaft – Befreiung, in Concilium 1974, 6/7 S. 402
[26] Dussel: Método para….; a.a.O., S 265
[27] Dussel: a.a.O., S. 247
[28] Dussel: a.a.O., S. 249