Die Sünde der Welt – das Leben aus dem Fleisch (Röm 8, 4-17; Joh 1-13)
 
Es geht hier nicht um eine neuerliche Exegese einer Textstelle, sondern anhand dieses Abschnitts soll das Grundanliegen von Paulus herausgestellt werden. Dies geschieht aus der Perspektive der Ausgegrenzten und Verachteten dieser Welt - d.h. aus einer nichteuropäischen, nämlich aus einer biblischen Perspektive.  Für sie sind die bestehenden Verhältnisse (die Welt, so wie sie ist) eine Aktualisierung der Zustände zur Zeit Jesu Christi, der zum Tod verurteilt wurde, weil er den herrschenden Götzendienst als solchen verurteilte. Vor allem Paulus und Johannes stellen diesen Glauben Jesu in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung. 
 
Die Sünde 
 
Bereits in Gen 3 wird der „Fall des Menschen“ geschildert. Entgegen seiner ursprünglichen Berufung, einem Leben in Gemeinschaft mit Gott und mit allen Menschen, will er sich selbst an Gottes Stelle setzen. Er macht sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse und Interessen, zum obersten Maßstab. Mehr haben und mehr sein als der Andere ist das Ziel dieser Art von Menschwerdung. Das Ergebnis ist die Vertreibung aus dem Paradies – Bruch mit Gott und mit der Gemeinschaft aller Kinder Gottes – und der Brudermord. 
 
Wir scheinen nun vor einem Epochenwechsel globalen Ausmaßes zu stehen: Die Gier, die man über Jahrtausende hinweg versuchte, ansatzweise in den Griff zu bekommen,  wird nun zur Grundlage allen Wirtschaftens gemacht. Das „Immer mehr, jeder für sich und einer gegen alle, wer etwas hat, der hat Recht und wer nichts hat, hat bestenfalls Pech gehabt oder ist selbst schuld“ wird zur Grundregel unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens erklärt – ohne jede Alternative. Ihr Gott ist das Geld und die Gier nach immer mehr Besitz und Macht ist die weltweit herrschende Religion. „Die bestehende Weltordnung basiert auf dem Recht des Stärkeren und der absoluten Vorherrschaft des Kapitals. Der wirtschaftliche Kreislauf wird allein von den Interessen der global Herrschenden bestimmt und führt zu immer mehr Reichtum und Macht für Wenige.“ (Aus: „Kirche der Befreiung“, St. Georg, Ulm 1984).
 
Das Fleisch
 
Die satanische Versuchung, wie Gott sein zu wollen, ist in der bestehenden Weltordnung  erstmals global installiert, sie ist „Fleisch geworden“. Die Dreifaltigkeit des Freien Marktes – Privatisierung, Deregulierung und drastische Einschnitte bei Sozialausgaben – ist zu einem nicht mehr hinterfragbaren Glaubensinhalt geworden, zum Dogma, zu dem es keine Alternative gibt. Strukturen, die von Menschen gezielt so eingerichtet wurden, dass einige Wenige sich hemmungslos auf Kosten anderer bereichern können, werden zum Naturgesetz erklärt. Die Anbetung der neuen Götter und Götzen, nämlich der Glaube an die unbegrenzte Macht des Kapitals und dessen stetiger Vermehrung, verspricht uns zwar alle Reichtümer dieser Welt, eine unbegrenzte Macht über Menschen und eine totale Verfügbarkeit über die Güter dieser Erde – eine gefährliche, schreckliche  Versuchung!  Dieser (Aber-) Glaube jedoch führt in den Abgrund. 
Die Sünde dieser Welt bedeutet nach Paulus, aus dem Fleisch geboren zu sein, nicht aus dem Geist. Und sich der Sünde unterwerfen bedeutet, von dieser Welt sein, aus Fleisch geboren zu sein (Römer 12, 13, auch Joh 3, 6).
 
Die Menschwerdung durch das Fleisch führt zum Tod, bis heute auch im buchstäblichen Sinn (z. B. dem Hungertod von Millionen Menschen jährlich). Was Paulus das „Fleischliche“ nennt, ist das, was wir z.B. Gewinnmaximierung nennen. Paulus ist verfälscht worden (wie auch Gen 3), indem daraus die so genannten „fleischlichen Sünden“ wurden, nämlich sexuelle Überschreitungen. Man versteht Paulus heute nicht mehr. Weder Augustinus, weder Luther, weder J. Ratzinger verstehen ihn – denn sie stehen bis heute in der Tradition von Platon und Aristoteles im Dienst des „Imperiums“ (der „Bestie“ nach Johannes). 
 
Das Gesetz    
 
Die Gesetzeskritik des Paulus richtet sich nicht gegen Übertretungen der vielen Einzelvorschriften (Kult, Sexualmoral, Kirchenrecht usw.), sondern gegen das Gesetz dieser Welt, dessen Befolgung für Menschheit und Natur eine tödliche Bedrohung darstellen. Im Rahmen dieses Gesetzes ist der Mitmensch nicht mehr Schwester und Bruder, sondern wird zum Rivalen oder zum Objekt der eigenen Interessen. 
 
Ein konkretes Beispiel: Die Hazienda umfasst 120 km². Sie liegt in einem grünen Tal in den Anden, mit viel Wasser und fruchtbaren Weiden. Dort weiden Zuchtstiere und in tiefer gelegenen Gebieten lässt der Besitzer Kaffee anbauen. Die Randzonen gegen die Berge hin liegen brach, sie zu bewirtschaften lohnt  sich nicht. Noch weiter, die steilen und steinigen Bergabhänge hinauf , wohnen etwa 3.000 Campesinos (Indios). Ihnen stehen pro Familie 1 ha zur Verfügung. Das reicht nicht zum Leben. Weil sie keinen Ausweg wissen, beschließen sie, auf einem Teil des brachliegenden Landes der Hazienda Kartoffeln anzupflanzen. Kurz vor der Ernte erfährt der Grundeigentümer davon. Er fordert eine Militäreinheit an, die sofort angreift. Sie eröffnet ohne Vorwarnung aus zwei Hubschraubern heraus das Feuer.  Sechs Menschen werden getötet, 21 schwer verletzt, zusätzlich werden auch die Kartoffelfelder zerstört. Der Bischof schaltet sich ein, will Anklage erheben, aber ohne Erfolg. Denn – so  die Begründung – die  Campesinos haben die Eigentumsrechte verletzt und der Staat hat die Pflicht, das Eigentum zu schützen. Der Bischof und seine Mitarbeiter werden als Kommunisten (Gottlose) bezeichnet, die sich mit Gesetzesbrechern solidarisieren und somit selbst schuldig werden. (So geschehen während meiner Arbeit als „agente pastoral“ in der Pfarrei Bambamarca, Diözese Cajamarca, Peru). Ein Gleichnis unserer Welt, so wie sie ist?       
 
Leben im Geist – Widerstand und Aufstand
 
„Das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus macht dich frei vom Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2). Leben im Geist heißt für Paulus „Leben aufgrund der Gerechtigkeit“ (Röm 1,10). Das neue Volk Gottes, die Auserwählten Gottes sind die Ausgegrenzten und Verachteten. Ohne sie gibt es nach Paulus keine Gerechtigkeit. Ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen ist wahrer Glaube, ist wahrer Gottesdienst.  Die am meisten von den Frommen verachteten Menschen zur Zeit Jesu waren die „Hirten auf dem Felde“. Ihnen aber öffnete sich der Himmel und sie waren die ersten, die die Frohe Botschaft gehört haben und die den Weg zu Jesus dem Messias fanden. Schriftgelehrte und Tempelpriester haben nichts gesehen. Sie waren blind, genau wie Saulus, der im Namen des Gesetzes logischerweise die ersten Christen verfolgte. Selbst die Jünger Jesu – wohl aber die Frauen um Maria von Magdala – sehen zuerst nicht, dass der Auferstandene mit ihnen auf dem Weg ist. Erst als er mit ihnen das Brot bricht erkennen sie ihn. Teilen wir eher das Brot oder nehmen wir es anderen weg?
 
Das Erkennungszeichen des neuen Volk Gottes ist das Brot teilen. Überall wo Menschen miteinander das Brot teilen (und alles was sie zum Leben brauchen), ist Jesus der Messias mitten unter ihnen. Dieses Brot teilen ist ein Aufstand gegen den täglichen Tod (als Folge der Tod-Sünde) und für eine Welt, in der alle Kinder Gottes in Würde leben können und das „Leben in Fülle“ haben.  Wer nicht sehen kann, sieht auch nicht, dass das Reich Gottes bereits mitten unter uns ist. Es ist dann zeichenhaft sichtbar (siehe auch LK 4, 16-30), wenn wir als das neue Volk Gottes nicht zulassen, dass es weiterhin „Armgemachte“ (Ausgegrenzte, Verachtete…) gibt und dass immer mehr Menschen unter die Räuber fallen. 
 
Weil ihm Jesus die Augen geöffnet hat, ruft Paulus auf zum Widerstand gegen den „Alten Menschen“ und dessen Grundordnung und Gesetz. Sein Glaube besteht darin, dass er den Glauben Jesu teilt und verkündet, dass es mit dem Kommen des Messias möglich ist, das Leben aus dem Fleisch zu überwinden und zu einem Leben aus dem Geist umzukehren. Der neue Geist ist erfahrbar, wenn wir in dem Schrei der Armen nach Brot und Gerechtigkeit den Ruf Gottes an uns vernehmen, umzukehren.  
 
Von der Peripherie und den Opfern aus urteilt die Weisheit Gottes. In einer vom Geist erneuerten Spiritualität werden wir hinter dem Anschein dieser Welt das Reich Gottes entdecken können. Die Armen sind die Christusse, die Gekreuzigten heute. Überall dort, wo eine befreiende Praxis entstand, wurden Christen verfolgt und ermordet – so wie die ersten Christen im römischen Reich. Doch im Aufstand gegen die „Bestie“ wird bereits die neue Welt sichtbar und erfahrbar. Daher: „Steht auf, wenn ihr Christen seid!“ 
 
Dr. theol. Willi Knecht, agente pastoral

PS: Der Beitrag wurde erbeten von "nachhaltig predigen" - eine ökumenische Bibelreihe zu den jeweiligen Lesungen und Evangelien des Kirchenjahres: Predigtanregungen zur Nachhaltigkeit - Kirchenjahr 2014/15 (http://www.nachhaltig-predigen.de)