Was heißt "Entwicklung"?  

Vortrag im Januar 1970 (!) an der EWH Landau, mein 1. öffentlicher Vortrag)

Obwohl natürlich für jeden Menschen ein Mindestmaß an grundlegenden Voraussetzungen - gerade auch materiellen Bedürfnissen wie Nahrung - garantiert werden muss, quasi als eingeborenes Menschenrecht, bedeutet Entwicklung viel mehr als die nur materielle Entwicklung. Es geht um eine ganzheitliche Entwicklung aller menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben alle Völker Kriterien oder gar Standards entwickelt, welche Werte in ihrer jeweiligen Gesellschaft gefördert werden sollen. Besonders Christen sind Kriterien vorgegeben (auch wenn sie nicht als solche erkannt werden), die zur Grundlage menschlichen Zusammenlebens dienen: Das Leben in Gemeinschaft und meine Rolle in dieser Gemeinschaft; Solidarität, vorrangig mit den Schwächeren, Gerechtigkeit für alle, Gleichheit aller Menschen, weil alle in gleicher Weise Kinder Gottes sind, daher auch die unantastbare und einzigartige Würde jedes Mensche; das Recht, nicht nur auf Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, sondern auf ein Leben in Fülle. Solche Werte gab und gibt es auch in vor- und nicht christlichen Kulturen und Religionen, meist sogar wesentlich ausgeprägter als im „christlichen“ Abendland. Diese Werte gilt es neu zu entdecken. Von daher ist es eine Schande, wenn ausgerechnet vom christlichen Abendland (mit der USA als dessen Produkt) ein Geist und vor allem eine damit verbundene Praxis ausgeht, die genau diese Werte zerstört.

Entwicklungshilfe: warum – für wen – was bedeutet Entwicklung?
Vortrag in der kath. Studentengemeinde EWH Landau - Januar 1970; Wilhelm Knecht

Einleitung: Fragerunde, Vorurteile, Stand der Diskussion etc.

1. Staatliche Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik

a) Vorurteile des Bürgers (Bildleser, Stimmungsmacher, Politiker, Medien insgesamt)

  • Die wollen mit dem Geld nur Atombomben bauen
  • Die sollen doch erst einmal ihre heiligen Kühe schlachten
  • Die sind eben faul und dumm – selbst schuld – wir aber sind tüchtig
  • In 3. Welt gibt es viele Reiche, zuerst sollen die doch helfen
  • Geld dient der Aufrüstung, Waffengeschäfte
  • Die haben zu viele Kinder, sollen sich eben beherrschen

Solche „Argumente“ beruhen meist auf Nichtwissen oder sie dienen als bewusste Verschleierung der wahren Interessen. Stattdessen, als 1 Beispiel: Westeuropa ist viel dichter besiedelt als z. B Lateinamerika, Afrika etc. Und es werden in der Tat viele Diktaturen von uns aufgerüstet – warum?

b) „Staatliche Aufklärung“ – offizielle Begründung der Hilfe

Entwicklungshilfe muss sein,

  • damit unsere Absatzmärkte erhalten bleiben, bzw. neue geschaffen werden. Dies sichert und schafft auch neue Arbeitsplätze.
  • damit die 3. Welt in unser Wirtschaftssystem integriert wird und es noch besser zu unseren Gunsten funktioniert.
  • um ein Abdriften der armen Länder in den Kommunismus zu verhindern
  • Ziel: all dies ist notwendig, damit WIR unseren Wohlstand behalten und vermehren. E-Hilfe ist daher eine wirtschaftliche Notwendigkeit für uns und kommt uns letztlich wieder zugute. Sie ist eine notwendige Investition in die Zukunft der Freien Marktwirtschaft und damit in unsere Grundwerte.

c) Konkrete Beispiele für staatliche Entwicklungshilfe (Übersicht)

  • Finanzpolitik – Kredite: dies verstärkt die Abhängigkeit der armen Länder, besonders der neu unabhängig gewordenen Länder in Afrika. Mit der Gewährung von Krediten werden Bedingungen verbunden, die tief in dieSelbstbestimmung der Empfängerländer eingreifen: Steuerpolitik, öffnen für den Weltmarkt – Industrialisierung nach westlichem Vorbild, Freiheit für unsere Konzerne, etc.
  • Landwirtschaft: Stauseen, Bewässerung für den Anbau von Exportgütern, Monopolkulturen (führt zu extremer Vernachlässigung der Selbstversorgung und Mangel an den lebensnotwendigen Grundnahrungsmitteln); Raubbau an Natur, Verwüstung. Beispiel die so genannte „Grüne Revolution“: Sie diente ausschließlich den reichen Großgrundbesitzern, dies aber auch nur kurzfristig, weil durch den langfristig erhöhten Bedarf an Pestiziden, Grundwasser usw. die Gewinne aufgezehrt werden. Sie führte zu einer Konzentration des Großgrundbesitzes und zur Vernichtung von Millionen kleinbäuerlicher Betriebe und Existenzen (vor allem in Indien), zudem zu einer noch größeren Abhängigkeit von außen. Während Großbauern in Indien - staatlich subventioniert - vermehrt Reis exportieren können, nimmt der Hunger in den Landgebieten Indiens stetig zu > Millionen Hungertote als Folge.
  • Industrialisierung: Förderung von Ansiedlungen von Multis in armen Ländern, angeblich um Arbeitsplätze zu schaffen, dadurch eher Zerstörung der eh schon bescheidenen eigenen Industrie, des arbeitsintensiven Handwerks und einheimischer Traditionen. Technologische Abhängigkeit wird verstärkt.

Fazit: Wem kommt das zugute?

  1. Wem kommt das zugute? Den reichen Ländern und der einheimischen Oberschicht, die aufs Engste mit der unseren verbunden ist > gleiche Interessen. Das Volk geht leer aus. Es wird produziert, was den ausländischen Konzernen Gewinn bringt, nicht was die Menschen dort brauchen (wie auch schon in der Landwirtschaft). Durch Aufbau fremder Technologien, Wirtschaftsweise und Industrie werden das eigene Handwerk und eine nationale Industrie gezielt verhindert. Die einheimische Oberschicht (inklusive menschenverachtender Diktatoren als Marionetten) wird entgegen unserer Rede von Demokratie und Menschenrechten von uns gewaltsam an der Macht gehalten, demokratische Bewegungen (Beispiele u.a. Iran 1953, Guatemala und Brasilien 1964 usw.) werden unter der Führung der USA von den reichen Ländern gewaltsam bekämpft.
  2. Unsere Regierungen (unser? Staat?) unterstützen die eigenen Konzerne und die Wirtschaftsinteressen einer Oberschicht – und weil bei uns auch der Rest der Bevölkerung davon profitiert (billige Bananen – sichere Arbeitsplätze bei uns, u.a. durch blühenden Export) besteht bei uns diesbezüglich ein Grundkonsens. Wegen „Schaffen neuer Arbeitsplätze“ (in Wirklichkeit: Zerstörung) in den armen Ländern werden die Konzerne auch noch steuerlich privilegiert und es fließen Subventionen, die als Entwicklungshilfe deklariert werden. Unsere Politik unterstützt Terrorregime in der 3. Welt, weil sie uns zu Diensten sind (Exportlizenzen, Steuerfreiheit für Investitionen, freier Kapitalverkehr, Konzessionen zum Abbau der Bodenschätze etc.) Länder, die ausscheren wollen bzw. eine Regierung haben, die zuerst an das eigene Volk denkt bzw. von dessen Zustimmung getragen wird (Kuba, Peru, Chile, Kongo – weil u.a. Verstaatlichung der nationalen Ressourcen) wird jede Unterstützung entzogen, weil gegen unsere Interessen.
  3. Staatliche Entwicklungshilfe ist daher zuerst Hilfe für uns selbst, sie ist politisch und wirtschaftlich begründet, moralisch aber pervers, weil Menschen verachtend. Arme werden dadurch noch ärmer gemacht, Reiche werden noch reicher. Unsere europäische Kirche (dazu später) trägt diese Politik mit und rechtfertigt sie.

2. Was ist Entwicklung?

a) rein ökonomisch betrachtet:

Wachstum des Bruttosozialprodukts. Wie es dem Menschen geht, bleibt dabei ohne Interesse, eben so wenig, wem dieses Wachstum in 1. Linie zugute kommt und wem nicht. Es ist fast immer eine Industrialisierung nach europäischem Muster gemeint, verbunden mit einem immer höheren Verbrauch von Trinkwasser, reiner Luft, Boden, kurz: von lebensnotwendiger Umwelt, nicht mehr erneuerbarer Ressourcen und von Energiereserven – nur damit eine Minderheit von Menschen, die eh schon hat, was sie braucht, noch mehr hat. So ist z.B. der Verbrauch von Trinkwasser, Energie etc. pro Tag eines US-Bürgers mehr als 100 Mal höher als der eines Afrikaners. Und dieses Wirtschafts– und Entwicklungsmodell wird allen restlichen Ländern der Erde als Vorbild aufgezwungen, es wird dabei auf unsere Erfolgsgeschichte verwiesen, aber verschwiegen, dass dieser „Erfolg“ auf Völkermord, Unterjochung und Versklavung der gesamten übrigen Welt besteht – angefangen mit Beginn der Neuzeit um 1500 und mit „christlichen“ Nationen als Anführern.

Folge: Nicht nur die Kluft zwischen reichen und armen Ländern wird immer größer, sondern auch die Kluft innerhalb der einzelnen Länder, sowohl in armen Ländern wie Brasilien oder Indien, aber auch in Deutschland und den USA. Heute verhungern mehr Menschen als je zuvor. Eine rein wirtschaftlich-technokratische Sicht des Menschen ist blanker Materialismus, Motto: mehr Menschsein durch mehr Besitz und mehr Glück durch immer mehr Wohlstand? Jedwede Moral wird hier nur lästig, der Mensch definiert sich im Kontrast, in Konkurrenz, im Gegenüber zum Mitmenschen. Dies zerstört auf Dauer jeden menschlichen Zusammenhalt, weil der Kitt, der eine humane Gesellschaft zusammen halten kann, systematisch zerstört, weil als lästig für den individuellen Erfolg interpretiert.

Weitere Folge: die ganze Welt wird bis in die letzten Winkel hinein von einem materialistisch-kapitalistischen Geist (bzw. Unwerten) durchsetzt. Dies wiederum führt zu einem Auseinanderbrechen alter Kulturen. Ein Symptom als Beispiel, die Verslumung der Welt: alle wollen in die Stadt, „Sitz der Kultur, der Macht, mit der Chance auf Aufstieg“, alle wollen auf den Gipfel, doch nur eine winzige Minderheit wird es schaffen. Es ist die Illusion des Turmbaus von Babel. Einige wenige werden oben stehen, nach oben gelangt auf Kosten des Mitmenschen oder gar über die Leichen anderer hinweg.

b) Eine andere Sicht von Entwicklung

Obwohl natürlich für jeden Menschen ein Mindestmaß an grundlegenden Voraussetzungen – gerade auch materiellen Bedürfnissen wie Nahrung – garantiert werden muss, quasi als eingeborenes Menschenrecht, bedeutet Entwicklung viel mehr als die nur materielle Entwicklung. Es geht um eine ganzheitliche Entwicklung aller menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben alle Völker Kriterien oder gar Standards entwickelt, welche Werte in ihrer jeweiligen Gesellschaft gefördert werden sollen.

Besonders Christen sind Kriterien vorgegeben (auch wenn sie nicht als solche erkannt werden), die zur Grundlage menschlichen Zusammenlebens dienen: das Leben in Gemeinschaft und meine Rolle in dieser Gemeinschaft; Solidarität, vorrangig mit den Schwächeren, Gerechtigkeit für alle, Gleichheit aller Menschen, weil alle in gleicher Weise Kinder Gottes, daher auch die unantastbare und einzigartige Würde jedes Menschen, das Recht, nicht nur auf Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, sondern auf ein Leben in Fülle. Solche Werte gab und gibt es auch in vor- und nicht christlichen Kulturen und Religionen, meist sogar wesentlich ausgeprägter als im „christlichen“ Abendland. Diese Werte gilt es neu zu entdecken. Von daher ist es eine Schande, wenn ausgerechnet vom christlichen Abendland (mit der USA als dessen Produkt) ein Geist und vor allem eine damit verbundene Praxis ausgeht, die genau diese Werte zerstört.

Aufgabe der Kirche wäre es nun:

  1. Diesen Geist (Götzendienst) als den zu entlarven, der er ist und stattdessen für eine gerechtere Welt zu kämpfen, in der die genannten Werte zur Grundlage des menschlichen Zusammenlebens werden. Dann gäbe es weniger Hunger auf der Welt und man würde eine Gesellschaft dann als zivilisiert bezeichnen, wenn sie diejenigen in ihre Mitte nimmt, die ansonsten ausgestoßen sind.
  2. Zu sagen: wirtschaftlicher Fortschritt allein führt nicht automatisch zu mehr Gerechtigkeit oder zu einem „Leben in Fülle“ – oft im Gegenteil, nämlich zu Ungerechtigkeit, Konkurrenz und dem Recht des Stärkeren, zu Neid und Hass. Letztlich zu einem Verkümmern der guten Seiten des Menschen (der Mensch wird immer auch böse Seiten haben, Gewalt und Unrecht wird es immer geben – aber es kommt darauf an, ob man diese Eigenschaften ächtet, oder ob man sie zur Grundlage eines Gesellschaftssystems macht).
  3. Zu sagen worauf es wirklich ankommt, nämlich eine „Neue Erde und einen Neuen Himmel“ zu verkünden und vor allem: dies durch eine eigene Praxis als gangbare Alternative auch zu leben. Doch tut sie das?

3. Mission (kurzer Überblick)

a) in der Vergangenheit: Beispiel die Kolonialgeschichte, speziell die Missionierung Amerikas.

  • oberstes Ziel (manchmal auch nur als Vorwand): die Bekehrung, die Taufe. Nur ein getaufterMensch ist ein Mensch (Kind Gottes);
  • Zerstören einheimischer Kulturen, weil Teufelszeug; Ausrottung ganzer Völker (besser tot, aber getauft, als zur ewigen Verdammnis verurteilt zu sein)
  • Christentum als Religion des Weißen Mannes, Gott auf der Seite der Weißen, der Starken
  • Folge: es kam selten zu echten Bekehrungen, stattdessen zur Verteufelung fremder Religionen und Kulturen, Missachtung der kulturellen Eigenständigkeit, geschweige, dass man darin echt christliche Werte hätte entdecken können. Missionierung diente oft als Vorstufe (manchmal auch im Gefolge) der politischen und wirtschaftlichen Unterwerfung und Ausbeutung; Missionare oft als (vielleicht unbewusste) Handlanger der Händler und Krieger. Religion als Rechtfertigung für grausamste Kriegsverbrechen, Sklaverei und Völkermord. Religion als Opium für das Volk (Auflehnen als Sünde, Gehorsam der Sklaven als oberste Tugend, Vertrösten auf ein besseres Leben in Himmel, falls…).

b) Mission heute: alles anders?

Ziel: siehe oben, nämlich das entsprechende Gegenteil, dazu später mehr)

4. Die Rolle der Kirche in der 3. Welt (Beispiel Südamerika)

a) Vergangenheit: (pauschal, wie immer mit wichtigen Ausnahmen wie Franz von Assisi etc.) Es gab nie eine einheimische asiatische, afrikanische oder amerikanische Kirche, es war immer die europäische, die römische Kirche, die in Europa wie dann überall auf der Welt in herzlicher Verbundenheit mit den Mächtigen herrschte (Allianz von Thron und Altar); es war eine sehr reiche Kirche, sie war Stütze des jeweiligen Gesellschaftssystems, politisch und wirtschaftlich und zu dessen Rechtfertigung, stets auf der Seite der Oberschicht. Eine zutiefst ungerechte Gesellschaft wurde gesegnet und man profitierte davon; Herrschaft statt Dienst, zwar einige Almosen, um seine eigene Seele zu retten, aber nicht auf der Seite des Volkes, das mehrheitlich sehr arm war bzw. gewaltsam in Armut und Elend gehalten wurde.

b) Heute

Seit Konzil bzw. seit 1968 (Medellín): Entscheidende Wende!

  • Hinwendung zum Volk (in allen Dimensionen und in jeder Beziehung), Kirche als Volk Gottes
  • Leben in Armut als Solidarität mit den Armen
  • Radikale Kritik an Oberschicht und herrschendem Gesellschaftssystem (oft unter Lebensgefahr)
  • Gelebtes Zeugnis der Nächstenliebe, Gerechtigkeit für alle
  • Anklage der Ungerechtigkeiten, Aufdecken der Missstände, Verkünden einer neuen Gerechtigkeit
  • Beispiel: mancher Bischof aus Lateinamerika könnte bei uns nicht Beamter werden, da er als subversiv und gefährlich eingestuft würde (bei unseren Bischöfen besteht nicht diese Gefahr…)

5. Ziele der kirchlichen Entwicklungshilfe

Zuerst zu den Organisationen, Beispiel Misereor: Funktionsweise bei Projektfinanzierung: Antrag kommt immer aus einem der armen Länder, keine Privatpersonen, danach Genehmigungsverfahren, schrittweise Geldüberweisung, bei größeren Projekten Überprüfung vor Ort, Abschlussbericht, Evaluierung und Übergabe des Projekts. Spendengelder gehen zu 100% in arme Länder, hiesige Verwaltung, Werbung, etc. werden von Steuergeldern und nicht von Spenden finanziert. Jedes Projekt, Etat usw. werden veröffentlicht > Spenden kommen nur dorthin, wo sie gebraucht werden d.h. wo auch sinnvolle Projekte - aus der Sicht der Betroffenen - geplant sind und wo deren Weiterführung durch Einheimische vorgesehen ist. Dazu können von Misereor finanzierte Fachleute (Entwicklungshelfer) von den einheimischen Projektpartnern angefordert werden (für die Aufbauphase und zur Ausbildung).

a) Bewusstseinsbildung

Aufklärung über politisch – wirtschaftliche und soziale Verhältnisse (Mikro - Makro); Bewusstwerden der eigenen Würde und der Rechte. Z.B. werden über eigene Radiosender (die Gemeinschaften auf dem Land erhalten kleine Radioempfänger) gezielte Programme wie hygienische Aufklärung, Berichte über Anbaumethoden, Alphabetisierung, Begleitung von Projekten aber auch Koordination von Widerstand, Streiks, Landbesetzungen etc. Wie wirksam das ist zeigt sich darin, dass bereits viele dieser kleinen Radiostationen von Polizei oder Militär gestört oder besetzt werden.

Noch einmal: warum Aufklärung? Durch die über 400-jährige Kolonialgeschichte und Indoktrinierung durch die koloniale Kirche glauben viele Indios, dass sie nur dann wirklich Mensch werden können, wenn sie werden wie die Weißen, die Sieger. Denen gegenüber sind sie äußerst demütig, gehorsam. Sie ergeben sich in ihr Schicksal, von dem sie meinen, es verdient zu haben. Jahrhunderte lang haben sie gehört, wie primitiv sie sind, dass sie Götzen oder gar den Teufel verehren und als Strafe sind sie von Gott zum Elend verurteilt. Mit den Weißen aber meint er es gut, Gott steht auf der Seite der Starken und Mächtigen.

b) Genossenschaften, landwirtschaftliche Kooperativen

Ausschalten der Zwischenhändler, bessere und gemeinsame Produktionsmöglichkeiten, können besseres Saatgut, bessere und gemeinsame Masttiere kaufen, experimentieren mit Naturdüngern > jeder für sich allein keine Chance, werden sonst total ausgebeutet, bilden keine Marktmacht, gemeinsam dagegen sind die Kleinbauern stärker, gemeinsame Aussaat und Ernte, möglicherweise gemeinsamer Grundbesitz. Diese Art von Gemeinschaft ermöglicht langfristig auch die Zusammenarbeit in anderen Arbeiten: Straßenbau in Gemeinschaftsarbeit, Bewässerungskanäle, Bau und Unterhalt von Schulen etc.

c) Evangelisierung (Beispiel Indios)

Ihnen wurde in völlig falsches Bild vom christlichen Glauben vermittelt (s.o. - Gott der Weißen), sie haben nie wirklich Jesus Christus und seine befreiende Botschaft kennen gelernt. Durch Unterwerfung, Opfer und Kulthandlungen können das Wohlgefallen Gottes (der Götter) und der Himmel erkauft werden, Gott für sie bestenfalls Trost und Vertröstung, magisches Weltbild und magisches Gottesverständnis.

Stattdessen: Evangelium als Botschaft der Befreiung – Auflehnen gegen individuelles und kollektives Schicksal; aufdecken der Missstände und eine neue Gerechtigkeit für alle, ein „Leben in Fülle“ als konkrete Verheißung. Evangelium als unvereinbar mit Unterdrückung und Ausbeutung. Diese Botschaft wird von Unterdrückten und Entrechteten sehr gut und unmittelbar verstanden und direkt auf ihre eigene Situation bezogen. Dies sind die Voraussetzung und die Grundlage für Veränderung und ein neues Selbstbewusstsein.

d) Aufbau einer einheimischen Kirche

Selbstverantwortung, Hilfe zur Selbsthilfe (d.h. die äußeren Voraussetzungen für die genannten Ziele zu schaffen. Dafür gibt es bereits viele gute Beispiele in Afrika und Lateinamerika. Um diese Voraussetzungen zu schaffen ist materielle Hilfe (Geld) nötig: z.B.: für Radiosender, Bildungs- und Kurszentren für die Armen, für den „Anschub“ von Genossenschaften (Grundkapital), Ausbildung von Katecheten und allgemein mehr Laien, damit sie Verantwortung übernehmen können, viele Projekte in der Landwirtschaft (Aufforstung, Bewässerung, Kanäle, Terrassen, Saatgut etc.) und im Gesundheitswesen, z.B. Ausbildung von „Barfußärzten“ nach chinesischem Vorbild (Sicherung der med. Grundversorgung und Prävention).

e) Katastrophenhilfe

f) Aufbau und Unterstützung von Basisgemeinden (siehe Blatt)*

Priorität für Basisgemeinden, denn dort wird das bisher Gesagte am besten verwirklicht, da gewachsene Gemeinschaft mit gleichen Grundlagen, Problemen und Zielen. Auf der Basis des christlichen Glaubens (Engagement für eine gerechte Welt im Geiste Jesu); solche Basisgemeinden, in der fundamental christliche Werte auch gelebt werden können, können zum Fundament einer neuen Kirche auf der Seite und mit den Armen werden.

6. Begründung für eine befreiende Praxis

Warum sollte die Kirche dastun? Warum setzen Menschen ihr Leben für solche Ziele ein?

Hier nur ganz kurz (siehe Dokument, S. 30-35)*: Das Evangelium ist DIE Botschaft der Liebe zu allen Menschen, gerade zu den Armen, Verlassenen, Unterdrückten. Jesus selbst ist für sie gestorben, denn wegen seiner Liebe zu ihnen wurde er zum Tode verurteilt. Er hat sich mit „Aussätzigen“ solidarisiert, ja sogar identifiziert. Dies missfiel den frommen Scheinheiligen, den Hohen Priestern und Pharisäern, denen es vor allem um ihre eigenen Verdienste ging, um ihre Macht und ihre Herrlichkeit. Das Evangelium ist DIE Botschaft der Gerechtigkeit Gottes unter allen Menschen, dass keiner den anderen beherrscht, übervorteilt etc.; es ist die Botschaft der Brüderlichkeit und der Gleichheit aller Menschen vor Gott.

Gerade der Verhungernde, der Nackte, der Ausgeraubte ist gemäß dem Evangelium unser Bruder und unsere Schwester. Die Sache der Armen ist die Sache Christi. Deswegen: Man kann nicht nur theoretisch an Jesus glauben, in der Praxis hieße das aber: sich wirklich und total (als oberstes „Gebot“!) für Gerechtigkeit unter den Menschen und in dieser Welt einzusetzen, wo immer man gerade ist; es bedeutet, sich einzusetzen und für die da zu sein, die unter die „Räuber gefallen“ sind.

7. Die Rolle der Kirche

a) Kirche hier bei uns:noch viel zu reich, gibt zwar Almosen (und darin sind wir Weltmeister), aber sie profitiert von der Unterdrückung und Ausbeutung der Dritten Welt (selbst unsere Kirchensteuer - und damit laut offizieller Verlautbarungen unser „Seelenheil“, weil man aus der Kirche ausgestoßen wird, wenn man keine Steuer bezahlt - hängt von wirtschaftlicher Stärke und stetigem Wachstum ab). Die westeuropäische Kirche macht es sich inmitten dieser Gesellschaft und Wirtschaftsordnung sehr bequem, sie ist angepasst und verteidigt die herrschenden Gesellschaftsstrukturen und vor allem eine weltweite Wirtschaftsordnung, die die Mehrheit der Menschheit in immer größeres Elend stürzt. So kann sie – gemessen an ihrer Praxis - nie die Kirche Jesu Christi sein und werden. Sie schafft so auch eine immer größere Kluft in der Kirche selbst, da sie es duldet, dass die einen Christen auf Kosten der anderen Christen leben, diese letztlich um ihr Leben bringen. Kurz: die deutsche Kirche braucht dringend eine radikale Umkehr, ansonsten ist sie zum Absterben verurteilt.

b) Was wäre zu tun? (hier bei uns und in der Kirche)

  • Radikale Umkehr, das bedeutet „neue“ Werte (die alten, urchristlichen Werte) und neue Ziele finden und selbst danach zu leben bzw. Zeugnis davon abzulegen. Abkehr von Profitdenken, von Karriere- und Machtdenken. Der Mensch ist wichtiger als jede Produktionssteigerung und der Profit für wenige.
  • Selbst ein Zeugnis materieller Armut geben und mehr Demut gegenüber den neuen Aufbrüchen in der 3. Welt, d.h. auf das zu hören, was uns die armen Völker sagen wollen und gemeinsam mit ihnen lernen. Ihr Ruf nach Befreiung ist der Ruf Gottes an uns „Satte“. Sich immer mehr bewusst werden, dass das Leben sinnvoller wird, wenn man nicht immer mehr haben will, sondern seine Bereicherung darin sieht, im Mitmenschen den Bruder und die Schwester zu erkennen (statt in ihm einen Konkurrenten, vor dem man Angst hat oder den man „besiegen“ muss).
  • Aufgabe der Kirche hier bei uns wäre es, alternative Lebensstile zu entwickeln und beispielhaft vorzuleben, Modelle und Gemeinschaften, in denen nicht der Wunsch und die Gier nach immer mehr Konsum und Besitz dominant sind, sondern Vertrauen, Offenheit und Da-Sein für andere. Beides, immer haben wollen und gleichzeitig für andere da zu sein, schließen sich aus. Gibt es keine Umkehr, wird es zu einer wirtschaftlichen und psychologischen (weil innere Verwahrlosung und Desorientierung) Katastrophe kommen. Doch die Kirche hat eine Botschaft. Sie muss nur selbst daran glauben und danach leben. Dann bräuchte sie sich um die Zukunft keine Sorgen zu machen, dann Gott wird mit ihr und inmitten ihr sein. Sie wird das Zelt Gottes unter den Menschen sein!


* Die hier angegeben Dokumente habe ich nicht mehr gefunden, ansonsten wörtliche Übertragung der handschriftlichen Aufzeichnungen vom Januar 1970 - also vor dem Bekanntwerden einer Theologie der Befreiung und vor meiner Arbeit in Cajamarca, Peru!                         

Willi Knecht, 6. Januar 2010