Eine Barbarische Theologie

Darunter ist eine Theologie zu verstehen, die von den Armen und Unterdrückten, von den Anderen und von den „Barbaren“ ausgeht. Eine solche Theologie wird von denen formuliert, die „außerhalb der Zivilisation des Systems und des Kapitals“ stehen und dessen Opfer sind. Für diejenigen, die nicht zu diesen Armen gehören ist es notwenig – vorrangig vor jeder Theologie – sich zu den Armen zu bekehren und sich zu seiner eigenen Verantwortung ihnen gegenüber zu bekennen. Das bedeutet eine Solidarität mit den Armen gegen die herrschende Ungerechtigkeit und weltweite Klassenherrschaft. Es ist der Aufstand derer, die um ihr Leben gebracht werden, gegen den vorzeitigen Tod. Eine Theologie, die nicht von diesen Voraussetzungen ausgeht, kann keine christliche Theologie sein. Denn sie würde Jesus den Christus verleugnen und zu einer Theologie des Kapitals werden.

„Die auf Herrschaft ausgehende Expansion der griechisch-lateinisch-germanischen Christenheit formuliert dementsprechend eine auf Herrschaft ausgerichtete Theologie. … Schließlich ermöglichte die Expansion des Kapitalismus und Neokapitalismus den darin beheimateten Christen des Zentrums, bestenfalls ein Theologie des Status quo und einen Ökumenismus der friedlichen Koexistenz zwischen UDSSR, USA und Westeuropa zu formulieren, um desto besser über die Peripherie herrschen zu können“.[60] Die genannten Mächte – im Grunde das weiße Europa – verbindet dieselbe Ideologie und die gleichen Interessen. Der Streit innerhalb von Ost und West ist nichts anderes als ein Streit um die Beute und sie werden zu wirklichen Partnern, sobald sie sich mit einem weltweiten Aufstand der Barbaren konfrontiert sehen (was noch utopisch erscheint). Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass eine derart pervertierte Theologie auch pervertierte Verhaltensweisen und pervertierte Auffassungen von der Hl. Schrift erzeugt, wie z.B. die Reduzierung des Heils und der Erlösung auf das rein Private und auf das einzelne Individuum, auf die Rettung der Seele und damit die Reduzierung der Heilserwartung auf die eigene Befindlichkeit.

Die herrschende Theologie (Theologie der Herrschaft) beruht auf den folgenden Grundlagen von Liturgie, Kultur, Politik, Wirtschaft und Sexualität (Mann - Frau). „Wegen all dem ist die europäische Theologie der Neuzeit teils unbemerkt teils offen mit einer Praxis der Weltherrschaft verquickt“.[61] Auch eine sich progressiv gebende „politische Theologie“ a la Metz führt nicht aus dieser Herrschaftstheologie heraus, trotz einiger bemerkenswerter Ansätze. Gutiérrez[62] und Assmann[63] kritisieren Metz, weil er sich zu wenig mit den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen der BRD, des Kapitalismus, der real existierende Weltwirtschaft, dem (Neo-) Kolonialismus und vor allem auch nicht mit seinen eigenen Voraussetzungen und „eingeborenen Standpunkten“ auseinandersetzt. Mangelnde Situationsanalyse führt zu mangelnder Konkretheit und letztlich zu falschen Aussagen, weil sie die Realität (das reale Leben ganz realer Menschen, besonders der Unterdrückten) außen vor lassen. Metz selbst gibt zu, von Ökonomie, Soziologie und Politik wenig zu verstehen (und die meisten Theologen sagen dies auch noch voller Stolz, da sie ja für die eigentlichen Dinge zuständig seien). Ein rechtes Verständnis (Analyse und Deutung) ist aber nach der Theologie der Befreiung gerade Voraussetzung, um die jeweilige Zeitsituation richtig analysieren zu können. Die Zeichen der Zeit zu erkennen würde z.B. bedeuten, den Schrei der Menschen nach Gerechtigkeit als Ruf und Wort Gottes zu deuten. Sie haben Hunger nach Brot und Gerechtigkeit, doch die reichen Christen teilen nicht ihr Brot mit ihnen.

Wer nicht erkannt hat und auch womöglich gar nicht erkennen will, wozu ein liberal-kapitalistisches System führt und geführt hat, noch wie es funktioniert und welche Auswirkungen es hat, bleibt innerhalb dieses Systems gefangen, da er es nicht durchschaut. (Etwas drastischer ausgedrückt: würde er die Bibel verstehen würde er auch das Wort Gottes heute hören und verstehen können). Ein Gefangensein im kapitalistischen System (das per definitionem das Kapital - Geld „Gold“, Mammon - und dessen hemmungslose Vermehrung als höchsten oder einzigen Gott verehrt), mit seinen Werten, Idolen, Götzen und Ideologien, macht eine adäquate Verkündigung der Botschaft Jesu Christi von der anbrechenden Herrschaft Gottes unmöglich. Es verhindert ein Verstehen der Frohen Botschaft als eine Botschaft der Befreiung für alle Menschen, der Armen wie der Reichen.

Da Metz wie alle europäischen Theologen in einer („geliehenen“) Wohlstandgesellschaft lebt und weder Hunger, schreiende Ungerechtigkeit und Unterdrückung aus eigener Erfahrung kennt (selbst die Herrschaft der Nazis haben die meisten „unbeschadet“ überstanden, ist es ihm fast unmöglich je in seiner Fülle zu verstehen was es heißt, um alle seine Chancen für ein würdevolles Leben gebracht zu werden, unterdrückt und verfolgt zu sein. Umgekehrt ist er (stellvertretend) auch deshalb nicht in der Lage, wirklich zu erfassen, was Befreiung bedeutet. Er kennt nicht den elementaren und existentiellen Wunsch nach Befreiung. Außerdem fehlt ihm die Erfahrung, die gewisse Menschen in ihrem Kampf gegen Unterdrückung und Elend machen. Er ist nicht in der Lage zu erkennen, worauf der Wohlstand der Wohlstandsgesellschaft, deren Teil er ist, besteht. Da er auch die Herrschaft des Zentrums nicht erleiden muss und er nicht Opfer des Klassenkampfes ist, kann er auch nicht ermessen, zu welchen Konsequenzen die Herrschaft des Zentrums in der Peripherie führt und dass ein direkter Zusammenhang zwischen diesem Elend und seinem Wohlstand besteht. Dies alles führt letzten Endes zu einer Bestätigung des Status quo, der „Totalität der Sünde“. Es führt nicht zu einer Befreiung Abels. Wie sollten auch die „Theologen des Pharao“ das versklavte Volk Gottes aus eben dieser Herrschaft des Pharao führen können?

Eine „barbarische Theologie“ ist nicht zuerst eine Wissenschaft, betrieben von Wissenschaftlern. Sie ist vielmehr eine Reflexion über die Praxis derer, die im Befreiungsprozess engagiert sind. Der Theologie geht eine ethisch-moralisch-religiöse Grundentscheidung voraus: die gelebte Solidarität mit den Unterdrückten und Opfern. In ihre Welt und ihre reale Situation einzutreten und sie so in ihrer Existenz zu bejahen, ist die Voraussetzung dafür, ihr Wort als Wort Gottes zu hören. Untrennbar mit dieser Grundoption ist eine Praxis der Befreiung verbunden. Theologie ist als dritter Schritt Reflexion über diese Praxis. „Ausgangspunkt ist somit nicht das, was die Theologen über die Wirklichkeit gesagt haben, sondern das, was die Wirklichkeit selbst uns sagt“.[64] Eine solche Theologie, die ausgeht von der Welt des Andern in der Peripherie, des „Barbaren“ und von ihm getragen und formuliert wird, wird eine andere Theologie sein als es die europäische Theologie je sein kann und sie wird deshalb auch andere Fragen und Probleme haben. „Die Frage wird daher nicht so sehr die sein, wie man in einer mündigen Welt von Gott sprechen soll, sondern vielmehr die: wie soll man Gott als Vater verkünden in einer unmenschlichen Welt? Wie soll man dem Mitmenschen beibringen, dass er ein Kind Gottes ist“?[65]

Dennoch ist die Theologie der Befreiung keine neue Theologie, sondern die traditionelle Theologie schlechthin. Deshalb ist sie nicht nur eine bloß „südamerikanische Theologie“, sondern sie ist die Theologie, die sich aus dem Zentrum des Evangeliums heraus zum Wort des Anderen in dieser Welt macht. Sie ist die erste Theologie seit 1.000 Jahren, die das Evangelium aus der Sicht und mit den Augen derer liest und deutet, die außerhalb „Jerusalems“ leben und sterben, in Hütten aus Lehm und Stroh. In ihrer Mitte aber ist Gott Mensch geworden und mit ihnen will er eine „neue Erde und einen neuen Himmel“ schaffen.

Dennoch, oder gerade deswegen: „Die Theologie der armen Völker, eine Theologie der Befreiung, passt Europa nicht in den Kram. Europa verlässt sich zu allererst auf seine univoke Universalität. Europa will nicht hören auf die Stimme des Anderen“.[66]


[60] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 402
[61] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 403
[62] G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung, S. 207 - 215
[63] H. Assmann; Teología desde la praxis…, S. 83 - 85
[64] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 403
[65] G. Gutiérrez, in Concilium a.a.O., S. 316
[66] E. Dussel: Herrschaft und Befreiung, a.a.O., S. 405