Die Corona-Pandemie in Lateinamerika - und was dann?

Lateinamerika wurde dieses Jahr schwer von der Corona-Pandemie getroffen. So hat z.B. Peru die zweithöchste Mortalität weltweit durch Covid-19. Und die Welthungerhilfe geht davon aus, dass 30 Millionen Hungertote zusätzlich allein wegen dieser Pandemie zu beklagen sein werden. Kirchliche Stellungnahmen aus Lateinamerika stellen diese erschreckenden Zahlen in einen größeren Zusammenhang und sprechen noch von einem anderen Virus, der sich zunehmend ausbreitet: Hunger, Vertreibung und die hohe Sterblichkeit an leicht zu behandelnden Krankheiten. Die Bekämpfung oder gar Ausrottung dieses „Virus“ würde nur einen kleinen Bruchteil dessen kosten, was wir für Waffen ausgeben. Papst Franziskus: „Wir haben gegen die Erde gesündigt, gegen unseren Nächsten und letztlich gegen den Schöpfer, der für alle sorgt und möchte, dass wir in Gemeinschaft leben und miteinander teilen, was wir zum Leben brauchen.“ (Generalaudienz am „Welttag der Erde“ am 22.04.20). Er sieht in dieser Verneinung Gottes einen Virus, der das Überleben der Menschheit gefährdet. 

Für die kirchlichen Hilfswerke wie Misereor und Adveniat, ist die aktuelle Pandemie ein zentrales Thema. Einerseits werden die weltweiten Herausforderungen immer größer und andererseits nehmen die Spendeneinnahmen (auch) aufgrund der Pandemie stark ab. Drei Schwerpunkte zeichnen sich ab:

  • Ländliche Regionen: Hier sind die Gesundheitsstationen oft miserabel ausgestattet, es gibt kaum Medikamente, Diagnosemöglichkeiten und Fachpersonal. Das Virus trifft hier auf eine besonders verletzliche Gruppe von Menschen, deren Immunabwehr aufgrund ihrer Armut, den chronischen Leiden an Infektionskrankheiten sowie ihrer schlechten Ernährungssituation bei einer Infektion schnell überfordert ist. Unter dem Motto „ÜberLeben“ stellt die aktuelle Adveniat-Aktion nun diese Menschen in den Mittelpunkt.
  • Elendsviertel: Etwa die Hälfte der Bevölkerung in den Andenländern und in Zentralamerika lebt unter menschenunwürdigen Bedingungen. Durch das Zusammenleben in engen Hütten sind Abstandsregeln nicht einzuhalten. Hygienemaßnahmen sind kaum umsetzbar. („Wie zuhause bleiben, wenn man kein Zuhause hat?). Viele Menschen haben ihren Broterwerb verloren. Hunderttausende leiden Hunger. Die kirchlichen Partner vor Ort sind oft die einzigen, die an ihrer Seite bleiben und die Bedürftigen unterstützen.
  • Wer einen Arbeitsplatz hat fürchtet, ihn zu verlieren. Straßenkinder, Tagelöhner, Marktfrauen, Müllsammler und das Heer der Straßenhändler - sie alle konnten von einem Tag auf den anderen ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen. Wohnungslose und Wanderarbeiter sind besonders hart getroffen. Die Arbeitslosigkeit trifft besonders hart die Menschen, die als Tagelöhner in ihrem Überleben sehr kurzfristig bedroht sind. In Peru gibt es 17 Millionen Arbeitskräfte, von denen nur drei Millionen einen unbefristeten Arbeitsvertrag haben.

Corona bremst auch die Arbeit der Partnerorganisationen vor Ort aus, denn Straßensozialarbeit, Beratungstätigkeit, Schulungen und kulturelle Aktivitäten werden durch Kontaktsperren unmöglich. Die Partner reagieren sehr flexibel. Sie gingen schnell dazu über, in Armenvierteln Lebensmittel und Hygieneartikel zu verteilen, Berufsbildungszentren haben auf Fernunterricht umgestellt und abgelegene Dörfer werden mit Trinkwasser versorgt. MISEREOR hat ein Corona-Nothilfeprogramm aufgelegt und kann auf ein Netzwerk von Partnern bauen, die große Erfahrung in vielerlei Projekten gesammelt haben.

Daher gibt es auch Hoffnung. In Deutschland und weltweit weckt die Krise Kreativität und Solidarität. Trotz - oder gerade wegen - aller Probleme durch die Pandemie, durch Umweltzerstörung, durch Gewalt und durch soziale Ungleichheit zeigen die Menschen sich solidarisch und setzen sich sehr füreinander ein. Mit viel Kreativität und mit dem Gedanken, dass man für das Gemeinwohl arbeitet, wird einiges bewegt. Die HA X (Weltkirche) hat 51 Notprojekte mit einem Volumen von rd. 910.000€ unbürokratisch auf den Weg gebracht. Bischof Gebhard Fürst: „Corona hat uns den Blick geweitet für die Menschen in anderen Teilen der Welt, die oft noch viel mehr durch Krankheit und Tod gefährdet sind und die doch aus ihrem Glauben so viel Kraft und Hoffnung schöpfen, dass sie für uns alle Glaubenszeugen und Mutmacher sein können. Dafür bietet gerade Lateinamerika viele beeindruckende Beispiele.“

Politische Nächstenliebe braucht ein Ende imperialer Lebensweise

Dom Helder Camara, Bischof von Recife in Brasilien, sagte sinngemäß: „Wenn ich unter den Armen Brot verteile, gelte ich als Heiliger. Wenn ich aber danach frage, warum sie kein Brot haben, gelte ich als Kommunist.“ Der hingerichtete Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, sagte 1979: „Der Kapitalismus ist das Unchristlichste an der Gesellschaft, das wir haben. Es gibt einen Götzenkult um das Kapital und das Privateigentum“.

Diese politische Nächstenliebe verlangt eine klare Position der Kirche insgesamt, um sich gegen ungerechte wirtschaftlich- politische Strukturen, wie sie in internationalen Abkommen zum Beispiel zwischen der EU und den Mercosur-Ländern (Brasilien, Argentinien, u.a.) vereinbart werden sollen, zu engagieren. Misereor: „Wir müssen Nein sagen zu Abkommen, die Menschenrechte missachten und hohe Umweltrisiken beinhalten oder diese Abkommen entscheidend nachbessern“. Solche Weltwirtschaftsstrukturen sind aber das Fundament bzw. systemnotwendiger Bestandteil einer - unserer - imperialen Lebensweise. „Eine imperiale, auf Konsum ausgerichtete Lebensweise ist nur möglich, weil wir nicht nur die dafür notwendigen Ressourcen anderen Erdteilen - gerade eben auch Amazonien - ‚rauben‘, sondern auch die zerstörerischen Folgen für Mensch und Mitwelt in andere Erdteile auslagern. Dieses System der strukturellen Sünde fordert alle Bereiche des Lebens - Kirche, Politik, Gesellschaft - zu Handeln und zur Umkehr auf“ (vgl. Amazonas-Synode, Nr. 80).

Die Bereitschaft zu unbegrenztem Wachstum auf Kosten der Übernutzung unserer Mutter Erde und der damit verbundenen Gleichgültigkeit gegenüber Armut und Elend liegt in der DNA unserer sogenannten Leistungsgesellschaft. Wir wissen - eigentlich - auch, dass dies die ökologischen Grundlagen, d.h. die Lebensgrundlagen aller Menschen über kurz oder lang zerstört. Vorher schon hat dies die Ungleichheit und zunehmend immer mehr die Spaltung der Menschheit sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene gefördert. Zur vorherigen „Normalität“ zurückzukehren (Business as usual) würde eine Situation verlängern, die unsere eigene Zerstörung implizieren könnte. Zur berühmten TINA (Es gibt keine Alternative), der Kultur der unbegrenzten Kapitalvermehrung, müssen wir uns einer neuen Alternative stellen, so Leonardo Boff. Das bis jetzt herrschende Narrativ war geleitet und beseelt von Profitmaximierung, dem freien Markt, von stets systembedingt notwendigem Wachstum und der Beherrschung der Natur und Ausbeutung von Menschen.

Das neue Narrativ wird ein radikal anderes sein müssen: Es erfordert eine radikale Abkehr von den unser Wirtschaften und Lebensweisen bislang dominierenden kapitalistischen Triebfedern Wachstum und Profit und die Hinwendung zu einer das Gemeinwohl und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt stellenden Ökonomie. Das Leben mit seinen vielen Kulturen und Traditionen - auch innerhalb der Kirche - wird eine neue Lebensweise ermöglichen, in Gemeinschaft mit allen Lebewesen und in unserem gemeinsamen Haus, dem „Casa común“.  

Dr. theol. Willi Knecht, Beitrag für drs.global 1/2021, den Quartals-Newsletter der Diözese Rottenburg-Stuttgart