Misereor: „Es geht! Anders.“

Wie sieht die Welt von morgen aus? Und was können und sollten wir ändern, mit einem neuen Blick füreinander und auf die Welt? Die Corona-Pandemie hat viele Fragen aufgeworfen, uns mit unserer Verletzlichkeit konfrontiert und Gewissheiten erschüttert. Sie hat viele Opfer gefordert und der Menschheit Grenzen aufgezeigt. Sie hat aber auch sichtbar gemacht, was möglich ist, wenn Menschen Verantwortung füreinander übernehmen: Aufmerksamkeit und Unterstützung für die Schwächsten, gegenseitige Ermutigung, Bereitschaft zu Verzicht und Einschränkung im Interesse des Gemeinwohls. Nutzen wir diese Erfahrungen: Es geht anders!

Eine andere Welt ist möglich. Es liegt in unserer Hand und in unserer Verantwortung als Christen diese mitzugestalten. Mit der Fastenaktion lädt Misereor ein u.a. folgende Fragen zu stellen: Was zählt wirklich für uns und in dieser Welt – das Gemeinwohl aller Menschen und die uns allen von Gott geschenkten Gemeingüter dieser Welt oder deren rücksichtslose Ausbeutung zugunsten derer, die eh schon alles im Überfluss haben? Können wir eine Lebensweise verantworten, die vorrangig auf Massenkonsum und materiellen Wohlstand ausgerichtet ist und dabei in Kauf nehmen, dass Natur und Umwelt, die Lebensgrundlagen auch zukünftiger Generationen, verwüstet werden? Es sind Fragen, die nicht überfordern sollen, sondern zu spürbaren Schritten der Veränderung anregen wollen. Es ist aber an der Zeit - ein Zeichen der Zeit - solch grundlegende Fragen zu stellen und den Kompass neu auszurichten.

 

Mit seinem Leitwort zur Fastenaktion äußert MISEREOR die Überzeugung, dass ein gutes Leben für alle Menschen möglich ist. Ja, es geht! Und wir schauen auf unsere Partnerorganisationen z.B. in Bolivien: Kleinbäuerliche und indigene Bevölkerungsgruppen bewirtschaften Hausgärten und Agroforstsysteme im Einklang mit der Natur. Indigene Gemeinschaften verteidigen ihre Rechte im Kampf gegen die Zerstörung ihres Lebensraumes durch Agrarindustrie, Bergbau oder die Auswirkungen des Klimawandels. Mit unseren Partnern in Bolivien und mit Ihnen gemeinsam möchten wir zeigen, dass es anders geht – in Bolivien, in Deutschland und weltweit.

Ein Jahr nach der Synode für Amazonien „Neue Wege für die Kirche und für eine integrale Ökologie" in Rom ziehen eine Gruppe von Synodenteilnehmerinnen und Beobachtern sowie die beiden Werke Adveniat und MISEREOR ein erstes Fazit: Ein intensivierter Austausch sowie die Einführung der neuen kirchlichen Amazonas-Konferenz CEAMA gelten als wichtige Folgeschritte. CEAMA soll die Beschlüsse der Synode umsetzen und dabei nahe bei den Menschen sein. Gleichzeitig bleibe noch viel zu tun, um die Ziele aus dem Abschlussschreiben der Synode „Querida Amazonia“ Realität werden zu lassen. Dafür brauche es auch den europäischen Beitrag, in Politik wie Gesellschaft.

Dr. theol. Willi Knecht, Beitrag für drs.global 1/2021, den Quartals-Newsletter der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Politische Nächstenliebe braucht ein Ende imperialer Lebensweise
Diese politische Nächstenliebe verlange eine klare Position der Kirche insgesamt, um sich gegen ungerechte politische Strukturen, wie sie in internationalen Abkommen zum Beispiel zwischen der EU und den Mercosur-Ländern vereinbart werden sollen, zu engagieren. „Wir müssen Nein sagen zu Abkommen, die Menschenrechte missachten und hohe Umweltrisiken beinhalten, oder diese Abkommen entscheidend nachbessern“, fordert Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Werks für Entwicklungszusammenarbeit MISEREOR. Spiegel begrüße deshalb ausdrücklich, dass sich das EU-Parlament Anfang Oktober gegen das aktuell vorliegende Mercosur-Abkommen ausgesprochen habe, und bestärke die Bundesregierung in diesem Kurs.

Weiterhin seien ungleiche Weltwirtschaftsstrukturen wie sie z.B. das Mercosur-Abkommen (EU u.a. mit Argentinien und Brasilien)  begünstigen würde notwendiger Bestandteil einer imperialen Lebensweise. „Eine imperiale, auf Konsum ausgerichtete Lebensweise ist nur möglich, weil wir nicht nur die dafür notwendigen Ressourcen anderen Erdteilen – gerade eben auch Amazonien – ‚rauben‘, sondern auch zerstörerische Folgen für Mensch und Mitwelt in andere Erdteile auslagern. Dieses System der strukturellen Sünde (vgl. Schlussdokument der Synode, Nr. 80) fordert alle Bereiche des Lebens – Kirche, Politik, Gesellschaft – zu Handeln und Umkehr auf.

Die Bereitschaft zu unbegrenztem Wachstum auf Kosten der Übernutzung unserer Mutter Erde und der damit verbundenen Gleichgültigkeit gegenüber Armut und Elend liegt in der DNA unserer sogenannten Leistungsgesellschaft. Wir wissen - eigentlich - auch, dass dies die ökologischen Grundlagen, d.h. die Lebensgrundlagen aller Menschen zerstört. Vorher schon hat dies die Ungleichheit und zunehmend immer mehr die Spaltung der Menschheit sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene gefördert. Zur vorherigen „Normalität“ zurückzukehren (Business as usual) würde eine Situation verlängern, die unsere eigene Zerstörung implizieren könnte. Zur berühmten TINA (Es gibt keine Alternative), der Kultur der unbegrenzten Kapitalvermehrung, müssen wir uns einer neuen Alternative stellen, so Leonardo Boff. Das bis jetzt herrschende Narrativ war geleitet und beseelt von Profitmaximierung, dem freien Markt, von stets systembedingt notwendigem Wachstum und der Beherrschung der Natur und Ausbeutung von Menschen. Das neue Narrativ wird ein radikal anderes sein müssen: Es erfordert eine radikale Abkehr von den unser Wirtschaften und Lebensweisen bislang dominierenden kapitalistischen Triebfedern Wachstum und Profit und die Hinwendung zu einer das Gemeinwohl und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt stellenden Ökonomie. Das Leben mit seinen vielen Kulturen und Traditionen - auch innerhalb der Kirche - wird eine neue Lebensweise ermöglichen, in Gemeinschaft mit allen Lebewesen und in unserem gemeinsamen Haus dem „Casa común“.