Einleitung: Der barmherzige Samariter

Zuerst: Ich bin keines dieser Opfer! Wie kann ich aber „aus der Sicht der Opfer“ schreiben? „Si yo fuera indio…!“ (Bartolomé de Las Casas). Las Casas war zuerst auch kein Opfer, er war Großgrundbesitzer usw. Aber im Kontakt mit den Opfern wurde er bekehrt, er hat sich bedingungslos auf die Seite der Opfer gestellt.
Im Bezug auf die massenhaft Ausgeschlossenen - weltweit - sind wir es, die nicht unmittelbar betroffen sind. Wir hier gehören alle zu einer mehr oder weniger bürgerlichen Mittelschicht, wir sind nicht die unmittelbaren Opfer. Dennoch gilt auch für uns das Beispiel des Samariters, oder z.B. die Stelle in MT 25 vom Weltgericht (mit Hungernden das Brot teilen, und viele andere Beispiele Jesu).Wie also wirklich das Brot teilen mit denen, denen man es wegnimmt?

Ich will das kurz am Beispiel eines Bischofs zeigen, Bischof Dammert aus Cajamarca - dazu später etwas mehr. Auch die Bischöfe Helder Camara, Leónidas Proaño, Oscar Romero kamen aus einer „anderen Welt“ und ließen sich von den Armen bekehren. Bischof Dammert kam auch aus der Ferne (Lima, Oberschicht), doch begab er sich mitten hinein in die Wirklichkeit, die für die meisten Menschen in Cajamarca eine leidvolle war(1). Die Annäherung gelang - und sie ist prinzipiell jedem möglich - und diese Grundhaltung ermöglichte ihm, die Armen als Opfer zu sehen, die „unter die Räuber gefallen sind“. Das Sehen allein reicht aber nicht aus.

Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter sahen auch der Levit und der Priester den Menschen im Straßengraben. Doch entsprechend ihrer Option bzw. Theologie hatten sie andere Prioritäten. Der Tempel war wichtiger, weil sie dort Gott zu begegnen glaubten. So konnten sie den unter die Räuber Gefallenen zwar sehen, sich aber nicht mit ihm solidarisieren, weil sie Wichtigeres zu tun hatten. Und sie konnten ihn erstrecht nicht als Opfer erkennen. Der Samariter aber hat ein „Herz“ und er lässt „sich bewegen“. Er lässt alles liegen und stehen und geht auf den Menschen im Straßengraben zu, weil er in ihm nicht nur das Opfer, sondern auch den Menschen entdeckt, in dem er Gott begegnet. Für den Samariter bedeutet zudem „sehen“, die Situation des unter die Räuber Gefallenen zu erkennen und sich davon berühren zu lassen. Dies bedeutet für ihn, sich um ihn zu kümmern, sich in seine Lage hinein zu versetzen und mit zu leiden. Er teilt mit ihm das Leid und dadurch können die Wunden geheilt werden. Für Dammert sind diese Menschen der wahre Tempel Gottes. Ihnen ein „Barmherziger Samariter“ zu sein und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, ist wahrer Gottesdienst.

Als Christen in Deutschland befinden wir uns eher in der Situation des Priesters oder Leviten, die gewohnheitsmäßig ihren Weg zum Gottesdienst im Tempel in Jerusalem gehen. Sie können gar nicht sehen, dass der unter die Räuber Gefallene etwas mit ihnen zu tun haben könnte und erstrecht nicht mit ihrem eigenen Glauben an Gott. Der Mensch im Straßengraben wird nicht als Mensch und nicht als Opfer erkannt. Es zählt nur das Opfer im Tempel. Jesus aber stellt diese religiöse Ordnung auf den Kopf. Es gibt nichts Wichtigeres als der Mensch im Straßengraben. Er ist das „Sakrament Gottes“ (Gutiérrez). Dieses neue Sehen ist selbst schon eine religiöse Kategorie. Dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen bedeutet, den scheinbar rechten Weg des Glaubens zu verlassen. Nun gilt es aber nicht nur dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen, sondern danach zu fragen, wie es zu dem Verbrechen kommen konnte und danach, wie die Wege beschaffen sind, die fromme Menschen dazu verleitet - im Vertrauen auf den richtigen Weg - an den realen Opfern vorüberzugehen. Wer hat mit welchem Interesse die Wege so geplant und gebaut, dass sie zwar zum Tempel in Jerusalem führen, nicht aber zu dem Menschen im Straßengraben, und diesen - strukturell bedingt - gar nicht als Mensch wahrnehmen können? Es geht also darum, als Mensch „auf dem Weg“, z.B. als Christ seine Verantwortung gegenüber dem Opfer und seine eigene Verwicklung zu erkennen und seinen Weg zu ändern.

Schlüssel für den Zugang zu den Betroffenen ist das Entstehen von Vertrauen. Dann sind es die Betroffenen selbst, die auf ihre Situation hinweisen. Dies setzt von Außenstehenden die Bereitschaft voraus, zuerst zu hören und (mit-) fühlen zu können. Bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit geht es daher nicht zuerst um eine Aneinanderreihung von Fakten, es geht vielmehr darum, eine bestimmte Haltung einzunehmen, die wiederum ihren Ursprung in einer bestimmten Option hat. Diese Haltung führt gewissermaßen von selbst dazu, die beschriebene Wirklichkeit verändern zu wollen. Es ist die grundsätzliche Haltung Gottes, so wie sie Jesus gelebt hat, der immer auf der Seite der Schwachen und Elenden steht - laut AT und NT nicht zuerst weil sie Arme sind, sondern weil sie Opfer von Ungerechtigkeit sind, einer Ungerechtigkeit, die nicht naturgegeben, sondern von Menschen verursacht ist.

Die zu beschreibende Wirklichkeit (Strukturen, Wirkweisen, kausale Zusammenhänge) war und ist heute eine globale Wirklichkeit. Es ist eine Situation „die zum Himmel schreit“! Medellín und Dammert kannten noch nicht den Begriff der Globalisierung, auch wenn sie damals schon (wenn auch auf andere Weise) wirkmächtig war und das Leben der Menschen bestimmte. Dammert wies aber immer auf die weltwirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten hin. Er war sich bewusst, dass es nicht nur darum ging, dem unter die Räuber Gefallenen ein „Barmherziger Samariter“ zu sein, sondern alles zu tun, damit Strukturen geschaffen werden, in der Menschen vor den Räubern geschützt werden, anstatt die Räuber selbst zu den „Hütern des Weges“ zu machen und z.B. als Garanten des Weltfriedens und der Freiheit zu preisen

1. Die Option für die Armen als Primat des Evangeliums

„Seitens der Kirche müssen wir aufzeigen, dass wir mit der Armut nicht nur ein weltliches Problem vor uns haben, sondern ein fundamental theologisches Problem“ (2).

Die Geschichte des Glaubens an den einen Gott, der sein Volk befreit und mit ihm einen Bund geschlossen hat, beginnt mit der Erfahrung eines kleinen Volkes, das seine Befreiung aus der Sklaverei diesem Gott zuschreibt und ihm Treue gelobt hat. Die Propheten haben im Auftrag Gottes dieses Volk immer wieder gemahnt, nicht von diesem Weg abzukommen. Allein schon die Existenz von Armen ist für die Propheten ein Zeichen des Abfalls von Gott.

Gerechtigkeit für die Armen zu schaffen ist der Wille Gottes, sich dafür einzusetzen ist wahrer Gottesdienst. Die Option Gottes für die Ausgestoßenen konkretisiert sich („wird Fleisch und Blut“) in der Geburt Jesu „im Stall von Bethlehem“ und es waren die „Hirten von Bethlehem“ denen zuerst diese Frohe Botschaft verkündet wurde und die den Weg zu Jesus fanden. In seinem ersten öffentlichen Auftreten verkündet Jesus den Beginn einer neuen Zeit, den Anbruch des Reiches Gottes: Lahme werden gehen, Blinde werden sehen und Gefangene werden befreit werden. Diese neue Zeit steht denen zuerst offen, die im Verhungernden und den seiner Kleider Beraubten den Mensch gewordenen Gott entdecken. Dies ist für mich ein Akt tiefer Spiritualität.

Doch eine solche Botschaft ist absolut unvereinbar mit der weltweit herrschenden Praxis in Wirtschaft und Politik. Jesus wird zum Tode verurteilt. Doch Gott identifiziert sich mit dem „Gotteslästerer“ und bestätigt die Wahrheit seiner Botschaft. Derjenige, der als Gesetzesbrecher von den Mächtigen dieser Welt ausgestoßen wurde, wird zum Gericht über diese und zur Hoffnung für alle, die heute und in Zukunft ausgestoßen werden und denen gewaltsam vorenthalten oder geraubt wird, was sie zum Leben brauchen. Von diesem Standpunkt aus, aus der Sicht der Opfer, ist für Christen die Welt und alles, was sich in der Welt ereignet, zu deuten und zu beurteilen. Diese Option ist die Option Gottes. In der Bibel ist diese Option das zentrale Thema - von der Schöpfungsgeschichte bis hin zum Auftrag an die Jünger Jesu, diese Botschaft bis „an die Grenzen der Erde“ zu verkünden. Diese Deutung der Geschichte und der heutigen Welt ist ein Glaubensakt und der Mensch kann sich dafür entscheiden oder dagegen. Es ist eine Entscheidung für das Leben, vor allem für die, „die sterben, bevor sie gelebt haben“ und eine Entscheidung gegen den täglichen Tod.

Der Begriff „Option für die Armen“ beinhaltet schon in der Formulierung, dass dieser Begriff nicht von den Armen selbst stammt. Er stammt von Menschen, die ihre Mitmenschen als Arme erst entdecken (3). Die Bedeutung von Medellín (1968) liegt auch darin, dass spätestens dort einige Bischöfe nach ihren eigenen Aussagen gelernt haben, die Armen und die Realität, in der diese leben, zu hören und zu sehen. Das heißt mit anderen Worten, dass ihnen als Priester und Bischöfe das Hören und Sehen verloren gegangen war und nun erst wieder neu entdeckt werden konnte. Dabei haben ihnen aber die Armen geholfen. Der Begriff „Option für die Armen“ wird von den Armen selbst nicht benutzt, nur von Nicht -  Armen. Priester und Theologen entdecken die Welt der Armen. Diese hat es aber schon immer gegeben. Das bedeutet nichts anderes als eine Rückkehr bzw. Umkehr zu den Quellen des Christentums (4). 

Die Kirche ist im Verlauf der Geschichte wie das Volk Israel vom Weg Gottes mit seinem Volk abgewichen. Propheten wie Las Casas haben diese Missstände als Abkehr vom Evangelium angeklagt. Das Zweite Vatikanische Konzil (ansatzweise) und dann vor allem Medellín (5) haben wie die Propheten die Armen in den Mittelpunkt gestellt. Dies geschah um der Kirche selbst und um ihrer Botschaft willen. Option für die Armen bedeutet, den Kern der christlichen Botschaft zu erkennen, Jesus nachzufolgen und (besonders für Nicht-Arme) Christus im Armen zu begegnen. Diese Erkenntnis ist ein Akt tiefer Spiritualität und gelebter Praxis. Ein Blick auf die Spiritualität von Franz von Assisi kann hier hilfreich sein. „Wenn Franziskus dadurch, dass er den Leprakranken umarmt, dem Glauben das zurückgibt, was ihm nach dem Evangelium entspricht, dann müssen wir heute eine ganz entschiedene Option für die neuen "Leprosen" treffen. Ihre Stigmata sind Ausschluss, Marginalisierung und Armut, eine ergreifende und schreckliche Armut“ (6).

Das Verhalten Jesu zu den Aussätzigen seiner Zeit kann als exemplarisch für die Einstellung Jesu gelten. Auch heute trifft die Rede von den Aussätzigen den Kern der Sache in doppelter Weise. Die Zuneigung Jesu gilt den Menschen, die buchstäblich „ausgesetzt“ werden: dem Elend, der Gewalt, dem Tod. Und sie werden bewusst isoliert und ausgesetzt, sie vegetieren „vor den Toren der Stadt“, die die Zivilisation bedeuten. Draußen vor den Toren aber leben immer mehr Menschen, so wie auch Josef und die schwangere Maria keine Herberge in der Stadt fanden und Jesus daher im Stall „zur Welt kam“.

Die Option für die Armen beinhaltet notwendigerweise eine Option für eine bestimmte Praxis. Diese geht von einer Analyse der Situation und deren Deutung aus. Die Armut wird zuerst verstanden als ein von Menschen verursachter Zustand, der fundamental der Würde des Menschen als Kind Gottes widerspricht und damit Gott selbst. Davon muss die Armut unterschieden werden, die von Nicht-Armen freiwillig aus Solidarität mit den Armen gewählt wird. „Konkret heißt arm sein: Hungers sterben, Analphabet sein, von den anderen ausgebeutet werden, dabei noch nicht einmal wissen, dass man ausgebeutet wird, ja sogar nicht ahnen, dass man Mensch ist“ (7). Diese Feststellung muss aber gedeutet werden: „Arme gibt es, weil es Menschen gibt, die Opfer in der Hand anderer Menschen sind“ (8).

Und theologisch gedeutet: „Das Bestehen von Armut spiegelt einen Bruch in der Solidarität der Menschen untereinander und in ihrer Gemeinschaft mit Gott, Armut ist Ausdruck von Sünde, d.h. der Verneinung von Liebe. Deshalb ist sie unvereinbar mit der Herrschaft Gottes, die ein Reich der Liebe und der Gerechtigkeit inauguriert“ (9). Dies führt zu einer konkreten Glaubenspraxis: existentielles Engagement gegen die Ursachen der Armut und gegen jede Form von Ungerechtigkeit und für die Überwindung der Abgründe zwischen den Menschen und Leben in einer Gemeinschaft, die ein Zeichen Gottes in dieser Welt ist. Die Propheten bezeichnen dies als den „wahren Gottesdienst“ (Amos 5, 21-27). Eine solche Option ist unmissverständlich. Sie ist nicht neutral, weil Gott nicht neutral ist, sondern Partei ergreift. Sie ist auch nicht zu verwechseln mit Mildtätigkeit (Almosen) oder Betreuung von Armen im Stil von Mutter Teresa (deren vorbildlicher subjektiver Einsatz dennoch unbestritten bleibt).

Erstrecht meint sie nicht, dass auch die Reichen oder alle Menschen - spirituell - arm seien. Die Reichen sind aber nicht ausgeschlossen. Annehmen der Botschaft Jesu bedeutet für sie Umkehr, eine Bekehrung zu den Armen. Wenn die Kirche von den Armen ausgeht, ist sie für alle Menschen da. Arme sind auch alle Menschen, die dies nicht nur im wirtschaftlichen Sinne sind, sondern alle, die aus rassistischen, kulturellen, sexistischen, politischen Motiven gewaltsam daran gehindert sind, in Würde als Mensch zu leben - biblisch gesprochen: denen die Fülle des Lebens bewusst, persönlich oder strukturell, vorenthalten wird.

Die Geschichte Jesu Christi geht weiter in Menschen wie Oscar Romero, die mit ihrem Einsatz für die Armen Zeugnis ablegen von der Botschaft Jesu: „Die Welt, der die Kirche dienen muss, ist die Welt der Armen und die Armen entscheiden, was es für die Kirche heißt, wirklich in dieser Welt zu leben. Die Kirche wird verfolgt, weil sie die Armen verteidigt. Was sie tut, ist nicht mehr und nicht weniger als das Unglück der Armen zu teilen. Die Armen sind der Körper Christi heute. Durch sie lebt er heute, in der Geschichte“. „Als Hirte ist es meine Aufgabe, mein Leben zu geben für diejenigen, die ich liebe, für das ganze Volk von El Salvador, selbst für diejenigen, die mich töten wollen. Mein Tod wird ein Beweis der Hoffnung für die Zukunft sein, und für mein Volk will ich sterben. Ein Bischof wird sterben, aber die Kirche Gottes, das ist die Kirche des Volkes, wird nie verschwinden“ (10).

Zum weiteren Verlauf: Obwohl man sich in Puebla (1979) noch gegen Missverständnisse wehrte, so war in der Folge der Begriff „Option für die Armen“ immer stärker gezielten Missverständnissen ausgesetzt bzw. er verlor in der Praxis der Kirche zunehmend an Bedeutung. So wird die „Option für die Armen“ im so genannten Weltkatechismus Roms noch nicht einmal erwähnt (übrigens auch nicht der zentrale Begriff Jesu: der Anbruch des Reiches Gottes). Diese Auseinandersetzungen können hier nicht geführt werden. Es soll aber an einem besonders drastischen Beispiel gezeigt werden, wie die Option für die Armen bewusst umgedeutet wird und unter Berufung auf diese Option die Armen ausgegrenzt werden.

Bei den Gesprächen mit Bischof Simón, dem Nachfolger Dammerts in Cajamarca, fragte ich ihn auch danach, wie er es mit der Option für die Armen zu halten gedenke. Er erklärte mir, dass sein Vorgänger, Bischof Dammert, zwar immer von dieser Option geredet, aber genau das Gegenteil gemacht habe. Da Dammert - laut Simón - nur „Politik betrieben und sich nur um soziale Aspekte gekümmert habe“, habe er die geistige Dimension des Christentums völlig vernachlässigt. Die Menschen hätten sogar das Beten verlernt und würden nicht einmal das Vater Unser kennen. Dadurch hätte man ihnen aber die Chance auf das Ewige Leben genommen und sie damit letztlich dem Tod und der Verdammnis überlassen. Er aber - Bischof Simón - würde dafür sorgen, dass die Armen wieder die Sakramente der Kirche empfangen können. Damit würde ihnen die Möglichkeit gegeben, das Ewige Leben in der Vollendung mit Gott zu erhalten. Wer würde also in Wirklichkeit mehr für das Heil der Armen tun, Bischof Dammert oder Bischof Simón?

Die Interpretation von Bischof Simón ist dem System immanent und daher logisch. Die Aussagen von Priestern und Bischöfen über das Evangelium bzw. zentrale Anliegen und Bestandteile des Evangeliums sind daher darauf hin zu überprüfen, von welchem Standpunkt aus sie getroffen werden. Prüfstein ist auch hier ihre jeweilige Praxis, ihr Umgang mit den Armen und generell mit den Mitmenschen. So kann es vorkommen, dass ein Bischof von seinem Standort her die Botschaft Jesu in seinem gegenteiligen Sinn versteht, z.B. als Rechtfertigung seiner eigenen, machtvollen Position. Derartiges ist auch schon im Evangelium selbst zu beobachten. Jesus und diejenigen, die ihn dem Tod auslieferten, glaubten formal an den gleichen Gott und hatten die gleiche Heilige Schrift.

Doch Jesus und die Mehrzahl der Schriftgelehrten und Hohen Priester zogen daraus gegenteilige Schlüsse: Jesus optierte für die Menschen ohne Macht, für die eigene Ohnmacht. Diejenigen, die im Besitz der Macht waren, optierten in der Mehrheit für die Macht bzw. für das Gesetz, das diese Macht rechtfertigt und stützt. Je machtvoller sich kirchliche Instanzen aufführen, desto tödlicher ist dies für das Evangelium und die Menschen, die sich am Evangelium ausrichten. Am Beispiel von Cajamarca wird deutlich, dass diese Bischofsernennung als gezielte Option gegen die Armen zu verstehen ist. Sie ist daher gegen das Volk Gottes gerichtet, gegen die Kirche Jesu Christi.

2. Die Diözese Cajamarca als Exempel

„In den Anden im Norden Perus begann vor über vierzig Jahren in den Herzen der Gedemütigten eine Hoffnung zu keimen: eine Hoffnung auf ein Leben in Würde, in Gerechtigkeit und dass alle Menschen als Kinder des Einen Vaters ein Leben in Fülle haben mögen. Durch das Evangelium, das sie zum ersten Mal hörten, entdeckten sie, dass Gott selbst, Jesus Christus, mitten unter ihnen geboren wurde, um alle ihre Leiden und Hoffnungen mit ihnen zu teilen. Dies geschah in der gleichen Region, in der ein spanischer Priester eine Schlüsselrolle bei der Gefangennahme und Ermordung Atahualpas spielte. Und so begann damals die grausamste Epoche in der Jahrtausende alten Geschichte unseres Volkes von Cajamarca. Nach 430 Jahren voller Massaker, voller Verachtung, die wir erleiden mussten und in der man uns all das geraubt hatte, was uns gehörte, kam wieder ein Priester. Es kam ein Guter Hirte, der ein offenes Herz für die Campesinos hatte. Er lehrte sie mit seinem persönlichen Zeugnis der Bescheidenheit und Demut die authentische Botschaft von Jesus dem Christus.

Seine Ankunft in Cajamarca fiel zusammen mit dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, zu dessen Eröffnung Johannes XXIII. zum ersten Mal von der Notwendigkeit einer Kirche mit den Armen und der Armen gesprochen hatte, und dies als die einzig authentische Art bezeichnete, die wahrhaftige Kirche Jesu Christi zu sein. Das Entstehen und der Weg dieser ‚Kirche mit Poncho und Sombrero’ zog sogar die Aufmerksamkeit von Christen in den reichen Ländern auf sich und weckte in ihnen ein Interesse und eine Solidarität mit den Ärmsten. Aber das Wichtigste war, dass sich die seit jeher Ausgestoßenen zum ersten Mal gehört und respektiert fühlten, sie fühlten sich als Gestalter ihres eigenen Schicksals. ‚Wir entdeckten, dass wir auch wer sind’. Der erste Indiokatechet der Welt, mit der päpstlichen Erlaubnis zu taufen und die Botschaft vom beginnenden Reich Gottes zu verkünden, drückt es so aus: ‚Bischof Dammert hat mich gelehrt, dass ich eine Person bin, dass ich Christ bin und Peruaner’. Oder mit den Worten des Dichters Arguedas: ‚Er hat mich gelehrt, dass ein Christenmensch mehr Wert ist als ein Tier’.“ (11).

Die Menschen von Cajamarca haben das Evangelium als eine befreiende Botschaft erfahren. Innerhalb weniger Jahre stürzten Vorstellungen und Auffassungen von Gott und der Welt in sich zusammen, die unverrückbar erschienen. Denn den Eroberern bis heute schien es in ihrer scheinbaren Allmacht gelungen zu sein, ihre eigenen Vorstellungen und die Rechtfertigungen ihrer Herrschaft und ihrer Überlegenheit in den Herzen und Köpfen der Menschen von Cajamarca zu verankern und durch entsprechende Gesetze und Mechanismen abzusichern.

Cajamarca ist ein geschichtlich einzigartiger Ort, an diesem Ort verdichtet sich die globale Geschichte der Eroberung und Zerstörung. Wie in einem Brennglas zeigen sich an diesem einen Ort Probleme und Chancen der „Einen Welt“. Die Region Cajamarca ist nicht nur eine der ärmsten Zonen Lateinamerikas, sondern sie war auch Schauplatz der ersten Konfrontation zwischen Europa und Südamerika, zwischen Christentum und andiner Kultur. Cajamarca ist ein Ort der Weltgeschichte. Hier kam es zu dem ersten gewaltsamen Zusammenstoß zweier Kulturen, die zur Zerstörung der einen und zum Sieg der anderen Kultur und Religion führte. Die Auswirkungen dieser Weltherrschaft lassen sich bis heute konkretisieren. Über Jahrhunderte diente Cajamarca, wie andere Orte der Welt, als Quelle des Reichtums für die Europäer. Mit der Entdeckung und der Erschließung großer Goldvorkommen bei Cajamarca schließt sich der Kreis. Werden auch diesmal die Fremden die alleinigen Nutznießer sein, oder werden diesmal die Menschen von Cajamarca einen Anteil an den „Gütern der Schöpfung“ erhalten, auf die alle Menschen in gleicher Weise einen rechtmäßigen Anspruch haben?

Die Diözese Cajamarca besitzt internationales Ansehen. Die Arbeit der Diözese Cajamarca wurde auch in Deutschland bekannt, Werke aus Cajamarca wurden in Deutschland übersetzt (z.B. Vamos Caminando). Die Sozialpastoral und die Kirche in Cajamarca gelten zusammen mit der in Recife (Helder Camara) und Riobamba (Leonidas Proaño) als Modell einer einheimischen Kirche auf der Seite der Armen. Der peruanische Kirchenhistoriker Jeffrey Klaiber bezeichnet die sozialpastorale Arbeit in der Diözese Cajamarca als das beste Beispiel in Peru für die Umsetzung der Beschlüsse und vor allem des Geistes des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wegen ihres ehemaligen Bischofs (1962 - 1992) eignet sich die Diözese Cajamarca daher in hervorragender Weise für eine exemplarische Darstellung des kirchlichen Aufbruchs in Lateinamerika seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dies bezieht sich zum einen auf die Person des Bischofs selbst. Vor allem aber meint es die Campesinos, die in der Folge einer von Dammert und seinen Mitarbeitern ausgehenden Evangelisierung sich als „Kinder des einen Vaters “ (wie sie es ausdrücken) mit einer einzigartigen Würde und unveräußerlichen Rechten entdeckt haben. Spätestens seit den 70er Jahren hatte Bischof Dammert in Deutschland den Ruf, einer der entschiedensten Bischöfe Lateinamerikas auf der Seite der Armen zu sein.

Als charakteristisches Merkmal der Erneuerungen des Konzils gilt in der Interpretation der Campesinos die Entdeckung der Kirche als das (unterdrückte) Volk Gottes, das sich im Kontext von Geschichte und Gegenwart auf dem Weg zu einer integralen Erlösung und Befreiung befindet. Das Glaubensbuch der Campesinos von Bambamarca heißt in der deutschen Übersetzung: „Machen wir uns auf den Weg! Glaube, Gefangenschaft und Befreiung in den peruanischen Anden“. Dieser Titel ist programmatisch für die sozialpastorale Arbeit in der Diözese Cajamarca und für das Selbstverständnis der Campesinos als Kirche Jesu Christi (im Original heißt es zutreffender: Wir Campesinos suchen mit Christus den Weg der Befreiung).

Am Beispiel von Cajamarca lassen sich die entsprechenden Reaktionen auf eine Praxis der Befreiung sowohl vor Ort, als auch national und international aufzeigen. So gerieten nicht nur Bischof Dammert und einige seiner Mitarbeiter ins Blickfeld der römischen Kurie, sondern auch Publikationen der Campesinos, in denen sie ihren Glauben bezeugen, wurden als Beleg für Marxismus und Gewalt gedeutet. Hier lässt sich exemplarisch zeigen, wie z.B. die akademische Auseinandersetzung über die Theologie der Befreiung sowohl zum Vorwand theoretischer Diskussionen in Europa als auch zum Vorwand wurde, um soziale Bewegungen als Terrorismus und Kommunismus und kirchlich als Häresie zu diffamieren - mit den entsprechenden Konsequenzen für die Armen und ohne diese authentisch zu Wort kommen zu lassen oder sie zu hören.

Bischöfe wie Dammert haben Wege in die Zukunft aufgezeigt, die auch für die deutsche Kirche als Orientierung dienen können. Seine Option, seine Überlegungen zu den Aufgaben der Laien, den Aufgaben der Kirche allgemein, seine Analyse des jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontextes erscheinen sehr modern und in die Zukunft weisend - gerade auch angesichts der aktuellen und zukünftigen Situation in der deutschen Kirche. Was deutschen Gemeinden möglicherweise noch bevorsteht, eine radikale Reduzierung auf das Wesentliche (dies zu entdecken wird die eigentliche spirituelle Herausforderung sein) ist in der Diözese Cajamarca bereits seit den sechziger Jahren ausprobiert und praktiziert worden, einschließlich der damit einhergehenden Konflikte.

Neben seinem persönlichen Zeugnis der Armut als Bischof der Indios, machen die in seiner Diözese gemachten Erfahrungen den Bischof von Cajamarca zu einem für die reiche Kirche notwendigen Diskussionspartner. Nimmt man Bischof Dammert (nicht) ernst, nimmt man auch die „Indios dieser Welt“ (nicht) ernst. Für die deutsche Kirche, für die Theologie und die konkrete Praxis in den deutschen Kirchengemeinden, kann es nicht gleichgültig sein, ob die „Indios dieser Welt“ (die Hirten von Bethlehem, die ersten Adressaten der befreienden Botschaft Gottes) in die Ecke gestellt werden oder in die Mitte, in der sie entsprechend dem Evangelium gehören.

3. Globalisierung – wie sie von Lateinamerika her verstanden und erlebt wird.

Die katholische Kirche könnte mit Recht den Begriff der Globalisierung für sich in Anspruch nehmen, weil sie noch authentischer, weil ursprünglicher, den Gedanken der „einen Welt, der einen Schöpfung“, entwickelt hat. Dies (Partnerschaften, Weltkirche) werde ich in der Folge aber nicht Globalisierung nennen. Wir haben uns leider diesen Begriff, genauer: die Definitionshoheit, rauben lassen. Der christliche Glaube hat eine eigene, eine biblische Deutung der Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, an deren Ende die Einheit aller Menschen und der Menschen mit Gott steht. Diese Geschichte beginnt damit, dass Gott ein völlig unbedeutendes und versklavtes Volk ausgewählt und in die Freiheit geführt hat. Dies hat eine Bedeutung für alle Völker. Der Gott der Hebräer wird spätestens im NT als Gott aller Menschen geglaubt. Im Neuen Testament wird endgültig der räumliche und zeitliche Rahmen gesprengt. Im christlichen Glauben gibt es weder „Grieche noch Jude“ (Paulus), oder heute: weder „Indio noch Deutscher“. Die Kirche als „pilgerndes Volk Gottes in der Geschichte“ (II. Vat. Konzil) ist die Sammlung und Gemeinschaft aller Menschen auf dem Weg. Und dieser Weg hat ein Ziel: die Versöhnung und die Einheit der Menschen mit Gott und mit sich.

Globalisierung wird hier nun so aufgefasst, dass sie heute als weltweite Kolonialisierung der Seelen und Köpfe ungebremster denn je zuvor in Erscheinung tritt und in das Bewusstsein der Menschen eindringt. Die Globalisierung wird in der Folge als eine bisher beispiellose und weltweite Entfesselung des Kapitalismus verstanden, mit tödlichen Folgen für immer mehr Menschen und die gesamte Natur. Die gegenwärtige Globalisierung unter wirtschaftlichen und kulturellen Vorzeichen ist als direkte Folge bzw. Weiterführung der im 15. Jahrhundert begonnenen Eroberung der Welt durch das christliche Abendland zu sehen. Ein biblisches Bild hierfür ist der Turmbau zu Babel. Wenn alle Menschen immer höher hinauf und immer mehr haben wollen, dann zerbricht die menschliche Gemeinschaft. Es gibt immer mehr Verlierer und Opfer. Es entsteht eine Gesellschaft, in der die Macht über andere zum höchsten Gut wird. Es gibt dann keine gemeinsame Sprache mehr. Genau das geschieht heute - nicht erst seit der „neuen Phase“ Globalisierung etwa seit 1985 - 1990, aber verschärft durch sie.

Am Beispiel von Cajamarca und Bambamarca lässt sich zeigen, was Globalisierung für die Mehrheit der Menschen bedeutet. Das so genannte globale Dorf wird dabei als ein Ort deutlich, indem nicht - wie oft propagiert - alle Menschen in gleicher Weise Zugang zu dem haben, was moderne Zivilisation bedeutet oder zumindest zu dem, was sie zum Leben brauchen; es ist auch kein Ort, in dem alle miteinander kommunizieren und in dem sich dank moderner Wirtschaftsweisen und deren Möglichkeiten alle Menschen einander näher kommen und sich immer mehr als Bürger der einen Welt verstehen. Es ist vielmehr ein Ort, in dem genau das Gegenteil geschieht und in dem für die in Armut gehaltenen Menschen nur dann eine Verbesserung ihrer Lebensumstände erreicht werden kann, wenn sie sich gegen diese Form einer Globalisierung und deren wirtschaftliche Lehrsätze und religiöse Dogmen zur Wehr setzen.

Bambamarca z.B. ist nicht ein Ort, in den die Moderne noch nicht vorgedrungen ist und in dem gerade deswegen noch archaische Strukturen herrschen würden, sondern im Gegenteil: Bambamarca - wie viele Orte in den Randzonen dieser Welt - steht im Brennpunkt und ist deshalb sehr aktuell und modern, weil an solchen Orten die Auswirkungen des herrschenden globalen Systems am deutlichsten sichtbar werden und das System sich als das entlarvt, was in Wirklichkeit ist (12 ).

Ein Blick auf Bambamarca zeigt, wie im kleinen Maßstab geschieht, was im großen Maßstab vorgegeben ist: eine Minderheit, die kleine städtische Schicht im Zentrum (Mestizen), lebt von der Arbeit der großen Mehrheit, den Campesinos, die in allen Bereichen des Daseins an den Rand gedrängt sind und entsprechend diskriminiert werden - rassistisch, wirtschaftlich, kulturell, politisch, religiös. Dieser Rassismus ist ein Abbild des weltweit herrschenden Rassismus. Dieser zeigt sich z.B. darin, dass nach westlichem Selbstverständnis das Leben eines US-Bürgers offensichtlich hundertmal mehr Wert ist, als das Leben eines Guatemalteken oder Angolaners. Und selbstverständlich findet dies seine wirtschaftliche Entsprechung darin, dass jedem neugeborenen US-Bürger ein Energie- und Ressourcenverbrauch zugestanden wird - quasi als eingeborenes Naturrecht - der bis zum Hundertfachen über dem eines Angolaners liegt. Es kann und soll hier nicht nachgewiesen werden, ob oder wie sehr dieser Rassismus mit einem religiösen Sendungsbewusstsein als ein von Gott auserwähltes Volk zu tun hat. In Cajamarca jedenfalls finden sich auffällige Entsprechungen. Die weltweite Herrschaft und der damit einhergehende Rassismus reproduzieren sich auch auf nationaler und dann auch auf regionaler Ebene.

Die globalen Spielregeln haben ihre Gültigkeit bis hinein in die kleinsten Einheiten menschlichen Zusammenlebens. Sie dringen nicht nur bis in die entlegensten Orte der Welt vor, sondern auch in die letzten Winkel unserer Seelen und unseres Denkens. Tiefste menschliche Beziehungen werden verkommerzialisiert, töten den Dialog und die Wahrheit und die Liebe. Von dieser Totalität her beziehen diese Spielregeln und Werte ihren Wahrheitsanspruch und damit ihre universelle Gültigkeit - ohne scheinbare Alternative. Folgende Zusammenhänge, wie sie sich in Bambamarca von der Basis her begründen lassen und die sich im globalen Maßstab widerspiegeln, lassen sich feststellen:

  • Die große Mehrheit des Volkes und der Menschheit wird von einem Zentrum her definiert und von den Interessen des Zentrums bestimmt.
  • Das Umfeld (Peripherie) hat die Aufgabe, das Zentrum zu nähren. Dies führt zu wachsender Verelendung auf dem Land und zu immer mehr Reichtum im Zentrum.
  • Die Weltsicht des Zentrums ist geprägt von scheinbar christlich-abendländischen Vorstellungen und Werten. Die Kultur des Umfelds wird als Unkultur wahrgenommen. Die Menschen des Umfeldes werden bestenfalls als zu missionierende Objekte behandelt.  Wenn die in Armut und Abhängigkeit gehaltenen Menschen aus ihrer nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit aufbrechen wollen, müssen sie mit harten Reaktionen derer rechnen, die ihre Herrschaft und Privilegien in Gefahr sehen.
  • Die Glaubenserfahrungen der Armen, die sie auf dem Weg aus der Gefangenschaft machen, wird von der herrschenden Religion als Abfall vom Glauben diffamiert - im Kern aber richtigerweise als Rebellion gegen die herrschenden Zustände gedeutet.  Die Menschen am Rande sind bevorzugt in der Lage, ausgehend von ihrem Glauben an einen befreienden Gott, eine Alternative zu den herrschenden Götzen zu entwickeln und den Menschen in den Zentren einen Weg der Befreiung zu weisen.

Bambamarca ist eine Pfarrei und sie unterhält seit nunmehr vierzig Jahren mit einer deutschen Pfarrei partnerschaftliche Beziehungen. Es liegt nahe, die Entwicklung beider Pfarreien zu vergleichen. Das gilt auch für andere Pfarreien der Diözese Cajamarca und vieles spricht für einen Vergleich zwischen der pastoralen Situation, des jeweiligen Glaubens und der „Kosmovision“ in den deutschen und peruanischen Partnergemeinden, erstrecht wenn man die unterschiedlichen Gemeinden als Teilkirchen der einen katholischen Kirche versteht. Dies wäre eine eigene Arbeit. …

Der entsprechende Schritt in Deutschland wäre, ebenso den eigenen Kontext zu analysieren, danach zu fragen, von wem und was die alltägliche Wirklichkeit der Menschen bestimmt wird, an was und wen sie „ihr Herz hängen“, welche Träume und Sehnsüchte sie haben und daraus die entsprechenden Konsequenzen für eine erneuerte Pastoral zu ziehen - ausgehend von den Verlierern in dieser Gesellschaft. Nach einer gründlichen Analyse der Situation in Deutschland könnten dann in der Praxis Orientierungsmarken für einen Weg der Erneuerung gefunden werden. Analyse, Deuten und Handeln wäre dann die Aufgabe von Theologen und Gemeinden im Bezug auf ihren eigenen lokalen Kontext, der aber ein globaler Kontext ist.

Dieser lokale Kontext kann dann im Blick auf die Bedingungen und Auswirkungen der Globalisierung und die Glaubenserfahrungen der Indios erkannt und gedeutet werden: Erst vom Standort der Campesinos her kann der eigene lokale deutsche Standort sachgerecht biblisch und theologisch gedeutet werden. Wird die weltweite Situation von der Bibel her gedeutet, dann erweisen sich die herrschenden Strukturen als ungerecht und als „zum Himmel schreiende Sünde“. Diese Interpretation der Campesinos - bestätigt durch die Dokumente von Medellín und Puebla - hat eine globale und gesamtkirchliche Bedeutung.

Die Daten zum Kontext von Bambamarca zeigen, dass die Ursachen für das Elend weltweit die gleichen sind: Diskriminierung, Nichtanerkennen des Anderen, absoluter Vorrang wirtschaftlicher Interessen, etc. Auch die Deutung im Lichte des Glaubens gilt weltweit: es handelt sich um einen gewollten, radikalen Bruch innerhalb der Menschheit und damit mit Gott, um eine strukturelle Sünde, um Verachtung des Armen, mit dem sich Jesus identifiziert und der deshalb gekreuzigt wird. Diese Situation nicht zu sehen und an dem unter die Räuber gefallenen Menschen im Straßengraben vorbeizugehen, bedeutet, den Mensch gewordenen und gekreuzigten Christus zu verleugnen. Eine Verschleierung dieser Realität dient der eigenen Machterhaltung und der Aufrechterhaltung eines Systems, dessen Grundlage das weltweit organisierte Räubertum ist.

Diesem organisierten Räubertum ist auch I. Ellacuría zum Opfer gefallen, der in dem Jahr seiner Ermordung (1989) schrieb: „Die Dritte Welt ist zurückgelassen worden wie Christus. Aus der Sicht des Glaubens ist es das, was ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten das ‚gekreuzigte Volk’ genannt habe. Das Problem liegt darin, dass in unserer heutigen Gesellschaft die Zivilisation des Kapitals herrscht. Sie ist es, die die heutige Welt formt und den weitaus größten Teil der Welt (4/5 der Menschheit) zu einem ‚Christus’ gemacht hat“.

4. Das „Gold von Cajamarca“ -  Konkretisierung

„Der Kapitalismus ist kalt, kalt wie alles, das aus Metall ist. Es interessieren ihn weder die Menschen noch die Völker. Es interessieren ihn allein die Gewinne. Menschen und Völker interessieren ihn nur in dem Maße, in dem sie ihm Gewinne versprechen. Um Gewinne verschlingen zu können, verschlingt er Menschen und Völker. Er ist kalt, er hat kein Herz. Unser Land, wie viele andere Länder in Lateinamerika, ist schon seit langem in die Klauen dieses Monsters gefallen. Wir hängen auf vielfältige Weise von ihm ab. Wir sind sein Spielzeug“. (13)

Spanische Theologen des 16. Jahrhunderts bezeichneten das Gold als ein Geschenk Gottes, der in seiner göttlichen Vorsehung die heidnischen Völker mit unvorstellbaren Goldvorkommen ausgestattet hat, damit auf diese Weise die Christen den Weg zu diesen Völkern finden, um die Heiden zu taufen und sie so vor der Hölle zu bewahren. Die Heiden verdanken demnach ihr Seelenheil dem Gold und die Christen verdanken ihren sehr irdischen Reichtum ebenfalls dem Gold (ihrem Gott). In „Gott oder das Gold“ geht Gustavo Gutiérrez dieser Thematik auf den Grund. Das dritte Kapitel des Buches hat den Titel: „Das Gold als Vermittler des Evangeliums“. Gutierrez geht hier auf die Schrift von García de Toledo“, ein, in der die genannte These begründet wird; so zitiert er dieses Gutachten, das erheblichen Einfluss auf die damalige Theologie und Politik hatte. „Und so gab er ihnen die Gebirge von Gold und Silber... , damit es in diesem Duft Menschen gebe, die um Gottes willen hierher kommen wollten das Evangelium zu predigen, sie zu taufen und diese Seelen mit Jesus Christus zu vermählen“. Und etwas weiter, sich auf die Schätze und Reichtümer beziehend: „Dorthin, wo es sie gibt, das Evangelium im Fluge und um die Wette kommt, während dort, wo es sie nicht gibt, sondern nur Arme, dies ein Mittel der Zurückweisung ist, denn dorthin kommt das Evangelium niemals...“.

Nach Gutiérrez vertreten auch die damals maßgeblichen Theologen (u.a. Sepúlveda, selbst José de Acosta in gemäßigter Form) die Meinung, dass das Gold von Peru eine providentielle Rolle bei der Ausbreitung des christlichen Glaubens hat. Gutiérrez schließt: „So wird das Gold zum wirklichen Vermittler der Anwesenheit Gottes in Westindien. Die Position des García de Toledo ist so etwas wie eine verkehrte Christologie. Letztlich steht das Gold dort, wo sonst Christus steht: als Mittler der Liebe des Vaters“.

Diese Alternative, Gott oder das Gold, hat bis heute seine Gültigkeit. Nach dem „Evangelium der Herren dieser Welt“ verdankt es Cajamarca nur dem Gold, dass dort heute die moderne Zivilisation Einzug halten kann. Ausländisches Kapital wird zum Segen für die Menschen von Cajamarca. Wenn diese sich aber diesem „Bundesschluss“ verweigern, kommt das Gericht über sie - so die Verkündigung der Propheten der Freiheit des Kapitals. Aber das Gold von Cajamarca ist die Ursache der Armut in Cajamarca. Auf der Suche nach Gold sind die Europäer bis in die letzten Winkel der Erde vorgestoßen und haben dabei ganze Völker in den Abgrund gestoßen. Es war die Suche nach den sagenhaften Goldvorkommen, weshalb spanische Söldner schließlich auch nach Cajamarca kamen und das mächtige Reich der Inkas im Handstreich zerstörten. Es war das Gold, das die Europäer nach Amerika trieb. Gold steht als Sammelbegriff für alle Reichtümer, als Inbegriff aller Schätze dieser Welt.

Die Mine Yanacocha

Die Geschichte des „Goldes von Cajamarca“ begann, wie gesagt, bereits 1532 und sie wurde bis in das 20. Jahrhundert hinein fortgeschrieben. Gerade als es schien, dass die Zeit der Gold- und Silberminen in Cajamarca nun zu Ende gehen würde, geriet Cajamarca seit den siebziger Jahren aufgrund neuer geologischer Untersuchungen und neuer Techniken des Goldabbaus erneut in den Brennpunkt des Interesses. Aber erst als die „Newmont Mining Company“ mit neu entwickelten Technologien auf den Plan trat und starkes Interesse zeigte, geschah alles sehr schnell. Im November 1992 erschien ein Artikel in der New York Times, in dem der Geschäftsführer von Newmont überschwänglich von den Chancen der neu eröffneten Mine sprach und hinzufügte: „Niemals zuvor erlebten wir eine so starke Hilfe und geradezu Euphorie seitens einer nationalen Regierung. So schnell hätten wir nie in den USA, und vermutlich in keinem anderen Teil der Welt, eine Genehmigung zum Abbau erhalten.“ In Rekordzeit wurde die Mine in Betrieb gesetzt. Am 23. Juli 1992 wurden in Anwesenheit des peruanischen Präsidenten Fujimori offiziell die Vorbereitungsarbeiten für den Betrieb der Mine eröffnet. Im August 1993 konnte mit dem Abbau des Goldes begonnen werden.

In einem Kommuniqué der betroffenen Campesinos heißt es bereits 1993: „Und als Gipfel der Unverschämtheit geben sie uns auf rassistische Art und Weise zu verstehen, dass unsere Proteste und Forderungen falsch seien und dass wir Werkzeuge und Lampen aus den Gerätelagern der Mine stehlen würden. Sie behandeln uns, als wären wir Kinder, die nur dann prtestieren, wenn man uns dazu aufhetzt. Sie sagen uns, dass sie uns den marktüblichen Preis für unser Land bezahlt hätten. Wir haben in verschiedenen Institutionen nachgefragt und dort haben sie uns gesagt, dass der Marktpreis der Preis ist, den man in freiem Aushandeln z.B. mit dem Nachbarn zu zahlen bereit ist bzw. den wir uns untereinander bezahlen würden. Wer aber von uns würde seinem Nachbarn sein Grundstück für den Preis von 100 Soles pro ha verkaufen - nicht einmal in einer großen Zwangslage würden wir eine solche Torheit begehen. Und wer von uns würde - um etwas vom Nachbarn zu kaufen - mit Polizei und Staatsanwälten anrücken, um den Nachbarn zu erschrecken? ... Möglicherweise werden sie Einigen von uns aufgrund dieses Protestes Arbeit anbieten, so wie sie es mit anderen Campesinos gemacht haben, die sie dann nach zwei Wochen wieder hinausgeworfen haben“ (14):

Die Aktivitäten der Mine im gesellschaftlichen und globalen Kontext

Die Aktivitäten der Mine können nicht isoliert betrachtet werden. Sie sind auf dem Hintergrund der kolonialen Geschichte, den herrschenden Gesetzen des Weltmarktes, der Rolle der jeweiligen nationalen Regierungen, der damit verbundenen Diskriminierung des „Hinterlandes“, der Sierra und der darin lebenden Menschen und der Ideologie eines stets wachsenden Wohlstands für alle (wenn diese sich nur anstrengen) zu sehen und zu werten. Alle diese Punkte brauchen hier nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden, dies ist schon vielerorts geschehen. Dennoch soll an dieser Stelle noch einmal an einige grundlegende Verhaltens- muster erinnert werden, die für das Verständnis von Globalisierung notwendig sind:

  1. Die Minenbetreiber haben seit Beginn nicht die Interessen der Campesinos und generell der einheimischen Bevölkerung berücksichtigt; diese wurden noch nicht einmal gefragt. Sie wurden dabei - sei es durch einzelne Personen, sei es strukturell aufgrund bestehender Gesetze - von staatlichen Stellen und lokalen „Autoritäten“ nicht nur unterstützt, sondern sogar ermuntert. Es werden z.B. Gesetze geändert (oder einfach nicht angewandt), damit ausländische Investoren ihr Geld in einem armen Land anlegen können (z.B. Kolumbienbesuch von Angela Merkel, Mai 08).
  2. Es besteht eine strukturelle Vernachlässigung der Landwirtschaft und eine damit verbundene Bevorzugung vor allem ausländischer Investitionen im großindustriellen Bereich. Diese schon lange währende Vernachlässigung der Landwirtschaft zugunsten großer Industrieprojekte wird verstärkt durch die Schuldenkrise (die wiederum u.a. gerade dadurch entstand) und die damit verbundenen Auflagen des IWF, nach denen Exportwirtschaft verstärkt werden muss und Subsistenzwirtschaft als Hauptübel gilt.
  3. Der politische (wirtschaftlich und rassistisch bedingte) Zentralismus in Peru verhindert eine Demokratisierung und Entwicklung des Landes. Und selbst wenn Lima (die Regierung) wollte, dass staatliche Gelder auch den armen Regionen zugute kämen, wird dies durch Interventionen (Auflagen) von außen verhindert. D.h., dass eine nationale Regierung (auch wenn sie wirklich das Volk repräsentieren würde) nicht wirklich souverän ist und dies auch nicht sein darf.
  4. Die Gewinne der Mine (auch die des peruanischen Anteileigners) gelangen ins Ausland. Die sozialen Folgeerscheinungen trägt aber die jeweilige Region. Dies verschärft die bestehende Ungleichheit - sowohl international als auch in der betreffenden Region (einige Wenige in Cajamarca, z.B. Haus- und Hotelbesitzer, profitieren von der Existenz der Mine, etc.).
  5. Im Zusammenspiel zwischen Minenbetreibern und staatlichen Stellen wird die betroffene Bevölkerung über bestehende Gefahren nicht nur nicht informiert, sondern unabhängige Organisationen (z.B. Umweltorganisationen) werden bei der notwendigen Aufklärung behindert und Bürgerbewegungen werden kriminalisiert (z.B. wegen „Aufruhr“ oder dem „Stören der öffentlichen Ordnung“ angeklagt). Als wirkungsvollste Waffe erweist sich neben der Manipulation der Gesetze und Missachtung der Menschenrechte der massive Einsatz von Geld: Verantwortliche werden gekauft (vereinzelt gelingt dies auch bei Verantwortlichen der Bürgerbewegungen, der Campesinos, der Ronda und öfters der Kirche).
  6. Von offiziellen Stellen (Regierung bzw. Wirtschaft) werden bei jeder Investition die Vorteile für die Region und die betroffenen Menschen gepriesen: neue Arbeitsplätze, wirtschaftlicher Aufschwung, bessere Infrastruktur, mehr Schulen und Krankenhäuser etc. Schlagworte im Kontext der Globalisierung wie Modernisierung, Fortschritt, Flexibilität, Wettbewerbsfähigkeit etc. genießen den „Status der Heiligkeit“. Eine neue Religion wird verkündet und die Medien stehen im Dienst der Bekehrung der Menschen zu deren Heil. (Siehe dazu den folgenden Abschnitt: die neuen - alten – Verheißungen und Heilsversprechen).  Für die direkt betroffenen Menschen bedeutet der Goldabbau der Verlust ihres Landes, die Verschmutzung und eventuell Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, eine allgemeine Verteuerung der Lebenshaltungskosten etc. Bildlich (manchmal auch wörtlich) gesprochen: die Menschen bleiben auf dem Müll sitzen, während die Mineneigentümer immer mehr Reichtümer anhäufen auf Kosten der Ärmsten.

Als Randnotiz: wenn die Kirche, in die viele Menschen aus welchen Gründen auch immer eine große Hoffnung setzen, als Anwalt der Menschen ausfällt oder gar zum Nutznießer der Ausbeutung wird, dann kommt neben der materiellen Verelendung auch die Gefahr einer seelisch-geistigen Verwirrung, die sich in einem Zulauf zu Sekten zeigt, deren Verkündigung die Menschen aufs Jenseits vertröstet und das gegenwärtige Elend „leichter“ ertragen zu lassen scheint.

5. Die sieben Sakramente des Kapitalismus - Mythen des Kapitalismus

a) Sakramente und Kapitalismus - eine Frage der Definition

Sakramente sind nach überlieferter katholischer Lehre sichtbare Zeichen einer transzendenten (nicht mess- und erfassbaren) Wirklichkeit. Konkreter: es sind von Jesus Christus eingesetzte (gestiftete) Zeichen, in denen ansatzweise zum Vorschein kommt und erfahrbar wird, was mit der Botschaft Jesu, dem Anbruch des Reiches Gottes und seiner Vollendung gemeint ist. Sakramente verweisen nicht nur auf das Reich Gottes (und auf Gott), sondern sie bringen im Vollzug das Reich Gottes in den Alltag. In ihnen berühren sich „Himmel und Erde“: der Alltag öffnet sich auf Zukunft, auf Vollendung hin und das Göttliche gewinnt Hand und Fuß, wird „vererdet“ und wird integraler Bestandteil des Alltags. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass im Vollzug der Sakramente der Mensch Anteil nimmt am göttlichen Heil, will sagen: die Sakramente sind Heilsverheißungen, die schon im „Hier und jetzt“ Gestalt annehmen; und weil Gott der Garant des Heils ist, sind es nicht nur Verheißungen, sondern verbindliche Zusagen des Heils. Als solche sind sie aber immer ein Geschenk, der Mensch hat keinen „Rechtsanspruch“ darauf, aber jedem Menschen - weil alle in gleicher Weise Ebenbild Gottes sind - wird das Geschenk angeboten, mit eingeschlossen die Fähigkeit, das Angebot zu hören und anzunehmen oder auch abzulehnen und sein eigenes Heil suchen wollen.

Die Kirche definiert die Heilszeichen, bestimmt sie inhaltlich und organisiert die Bedingungen der Anteilhabe (z.B. Zulassung zu den Sakramenten). Der Kirche sind die „Verwaltung“ und das Handling der Sakramente anvertraut. Sie gibt den Menschen die ihnen anvertrauten Schätze weiter. Diese wenden sich auf der Suche nach dem Heil an die Kirche, die ihnen dann das Heil verspricht bzw. garantiert, falls die von der Kirche selbst definierten Bedingungen erfüllt sind. Die Kirche ist aber nicht nur Heilsvermittler, „Hüterin des göttlichen Schatzes“, sondern sie ist selbst Zeichen des Heils. Sie ist das Sakrament der Gegenwart Gottes unter den Menschen, wie sie insbesondere in der Eucharistie erfahrbar wird. Sie ist als Gemeinschaft des Volkes Gottes das für alle Menschen sichtbare Zeichen des Bundes Gottes mit der Menschheit, in ihr wird das Reich Gottes antizipiert (natürlich nur im Ansatz, nicht in Vollendung). Volle Teilhabe am Leben der Kirche „garantiert“ das Heil und die Erlösung. Die beiden grundlegenden Sakramente sind daher die Taufe als Aufnahme in die Heilsgemeinschaft und die Eucharistie, in der die Kirche sich selbst als Zeichen der Einheit mit Gott feiert und in der das Reich Gottes vorweggenommen und erfahrbar wird.

Der Kapitalismus wird hier als eine Ideologie (Werteordnung) verstanden, nämlich als eine bestimmte Art und Weise, die Wirklichkeit (Welt, Mensch) und deren Grund und Zweck zu sehen, zu deuten und zu leben. Im Unterscheid zum Christentum wird Kapitalismus als ein System verstanden, in der das Heil nicht von außerhalb kommt, sondern in dem das Heil innerweltlich machbar und organisierbar ist. Wie das Christentum seinen Namen von Christus hat, der im Mittelpunkt steht und absoluter Maßstab ist, so bedeutet Kapitalismus, dass im Mittelpunkt von allem menschlichen Streben und Trachten das Geld steht, weil es - so der
Glaube - das am besten geeignete Mittel ist, um zu sich selbst zu finden, um Mensch zu werden und um immer mehr Mensch zu sein.

Denn es ist der Mensch, der sich selbst (seine Bedürfnisse, Methoden, Ziele), zum absoluten Maßstab macht und in der das Kapital (weil empirisch am besten bewährt) die Rolle der Heilsvermittlung zukommt. Mehr noch: das Kapital selbst ist das Heil. Der Kapitalismus verheißt allen Menschen guten Willens, wenn sie nur wollen, Anteil am Heil. Dieses besteht darin, jederzeit und überall möglichst viele Bedürfnisse befriedigen zu können.

Zur Katechese des Kapitalismus gehört es, möglichst vielen Menschen den Glauben zu vermitteln, einzigartig und fähig zu sein, das auch erreichen zu können, was man sich vorgenommen hat und erfolgreich sein zu können. Der Kauf von Gütern, die „man“ haben muss, das Anteilnehmen am Leben der Erfolgreichen, die Darstellung seines eigenen Erfolgs und seiner Potenz, erweisen sich als sichtbare Zeichen des Erfolges und der Rechtgläubigkeit. Im Vollziehen dieser Heilszeichen zeigt man sich und den anderen, dass man auf dem rechten Weg ist und dass man Wer ist. Die Anerkennung dieser Prinzipien garantiert bereits das Heil, zumindest aber die Möglichkeit zum Heil. Neben diesen sichtbaren Zeichen der Anteilhabe am Heil, ist es letztlich das Geld (auch in der Form von Macht, Herrschaft, Potenz, Erfolg) das als universell geltender Wert zum absoluten Maßstab wird, von dem her alle anderen Werte lediglich abgeleitet sind.

b) Ursprungsmythen und Heilsverheißungen des Kapitalismus

Diese Religion (weil ein Glaube mit allen Insignien von traditioneller Religion wie Kult, Hierarchie, Verheißungen, Opfer, Gehorsam, feste Spielregeln, systemimmanente Moral) basiert auf einigen festen Glaubenssätzen und auf der ritualisierten Präsentierung von Heilsverheißungen, die vom Volk nur dann geglaubt werden können, wenn diese Heilsverheißungen immer wieder auch am eigenen Leib (wenn oft auch nur in Form einer Projektion) gespürt und erfahren werden können. Diese Religion, wie jede andere Religion, hat um so mehr Erfolg, je besser es ihr gelingt, den Menschen eine Vision eines besseren Lebens (sei es „auf Erden“, sei es „im Himmel“) zu vermitteln und auch zugleich die Wege und Methoden zu weisen, die zum ersehnten Ziel führen.

Grundlage einer jeden Vision und Religion sind Grundannahmen, in der Folge Mythen genannt, die außerhalb der Verfügbarkeit des Menschen stehen (so wird es zumindest den Menschen gelehrt oder überliefert) und die daher auch nicht zur Disposition gestellt werden können. Glück, besseres Leben, Selbstverwirklichung usw. lassen sich dann nur im Rahmen und unter Beachtung der systemimmanenten Regeln erreichen bzw. allen, die diese Mythen verinnerlichen und ihr Leben danach ausrichten, wird das Heil quasi garantiert. Geht etwas schief, d.h. das Ziel wird nicht erreicht (z.B. ein gewisser Lebensstandart), dann liegt es am Versagen des Einzelnen, der sich entweder als Ungläubiger oder als Versager erwiesen hat, der nicht in der Lage ist (oder sein will), die Anforderungen des „Rechten Weges“ zu erfüllen. Den „Ungläubigen“ drohen der Ausschluss aus dem System und die „Vertreibung aus dem Paradies“.

So liegen auch der Religion des Kapitalismus (der Vision, durch Anhäufung materieller Werte sich das Heil zu sichern) Mythen zugrunde, von denen hier zwei herausgegriffen werden, die sich in der Praxis (nicht in der reinen Lehre) als sich gegenseitig ergänzende und unterstützende Mythen herausgestellt haben: die Armen sind an ihrem Schicksal selbst schuld - Reichtum ist ein sichtbares Zeichen der Auserwählung Gottes (Armut bedeutet das Gegenteil). Die letztere Annahme wird meistens als calvinistische Lehre dargestellt. Nach dieser Lehre ist der durch Fleiß und Anstrengung erworbene Reichtum ein Zeichen für das Wohlwollen Gottes, ein Vorgriff auf die endgültige Belohnung im Himmel. Umgekehrt gilt: wer es im Leben zu „nichts“ gebracht hat (Maßstab ist materieller Wohlstand oder auch Gesundheit), muss wohl ein Sünder sein, der den Zorn Gottes herausgefordert hat und der nun seine gerechte Strafe erleidet - sichtbar für alle und ebenfalls als Vorgriff auf die endgültige Verdammnis. Mit dieser Lehre wird der wirtschaftliche Aufschwung des (protestantischen) Nordens Amerikas im Vergleich zum (kath.) Süden Amerikas begründet. Doch diese „calvinistische Lehre“ ist de facto auch Grundbestand „katholischer Realpolitik“ - zumindest in den vergangenen Jahrhunderten.

Ein Beispiel mag dies illustrieren:
Auf dem Weg von Bambamarca in eine abgelegene Comunidad traf ich auf einen Campesino, mit dem ich ins Gespräch kam. Er hatte einen Radiorekorder geschultert, den er gerade in der Stadt gekauft hatte. Damit dies auch alle bemerkten, war die Lautstärke entsprechend hoch eingestellt. Voller Stolz erzählte er mir, welche Opfer er für diesen Kauf gebracht hatte und wie er nun in seiner Comunidad deswegen geachtet werden wird. Er lud mich spontan in seine Hütte ein, um mitzuerleben, wie sich seine Familie und Nachbarn freuen werden ob der neuen Erwerbung. Er hatte sieben Kinder, alle waren barfuss, ebenso seine Ehefrau. Um den Radiorekorder kaufen zu können, hatte er die einzige Kuh verkauft, ohne seine Ehefrau zu fragen. Die Familie freute sich tatsächlich, den Vater wieder zu sehen. Der Mann erklärte mir auf meine Fragen, warum dieser Radiorekorder so wichtig für ihn war: Er wollte endlich auch als Mensch geachtet und anerkannt sein. Und er glaubte, wenn er etwas kaufen kann, was ansonsten nur die Weißen in der Stadt haben, wäre er bald auch wie einer von ihnen und er hätte allen bewiesen, dass er ein rechtschaffener Mensch sei und dass er Gott dafür dankbar sei, dass dieser ihn nun erhört habe.

Es handelt sich hier nicht um einen Einzelfall. Viele Untersuchungen und auch persönliche Erlebnisse mit den Campesinos bestätigen dies. (In Campesinogemeinschaften, die intensiver den Weg der neuen Pastoral von Bambamarca seit 1962 mitgegangen sind, sind solche Beispiele viel weniger anzutreffen, dazu mehr an anderer Stelle). Um das Verhalten dieses Campesinos zu verstehen und deuten zu können, muss man deren Geschichte und Situation verstehen (verstehen ist mehr als wissen). Aus der Sicht vieler Campesinos beruht die Vorrangstellung der Weißen auf deren Allianz mit Gott (und umgekehrt). Der Gott der Weißen erwies und erweist sich stärker. Wie sollte es sonst möglich gewesen sein, dass die eigenen Götter gestürzt wurden, dass die Weißen so mächtig sind, dass sie scheinbar alles können und wissen und dass sie mit unendlichen Reichtümern und Fähigkeiten gesegnet sind? Sie selbst dagegen sind die Verlierer, die Götter haben sich von ihnen abgewandt und der Gott der Weißen ist nicht auf ihrer Seite, sondern gegen sie. Um den Zorn des allmächtigen weißen Gottes zu besänftigen, muss man ihm viele Opfer bringen.

Nach Jahrhunderten währender Unterdrückung haben viele Campesinos dies so verinnerlicht, dass sie sogar daran zweifeln, ob sie in gleicher Weise Mensch sind wie die Weißen. Denn Gott schenkt den Weißen alles, ihnen selbst aber wird alles genommen. Sie haben aus irgendeinem Grunde, den sie sich nicht erklären können, Schuld auf sich geladen und sind nun zu Armut und Knechtschaft verdammt - Gott wird schon wissen warum. Sie erfahren sich als Sünder und als unwürdig, als zu nichts würdig und zu nichts fähig. Nur wenn sie ihr Schicksal demütig ertragen, haben sie die Chance, vielleicht doch noch das Wohlgefallen Gottes (und der Weißen, ihrer Herren) zu verdienen.

Wenn nun aber ein Campesino bereits in diesem Leben es so weit gebracht hat, dass er etwas haben kann, was sonst den Weißen in der Stadt vorenthalten ist, so kann dies ein Zeichen dafür sein, dass er nun das Wohlgefallen Gottes gewonnen hat. Etwas profaner gesagt: Wenn ein Campesino etwas Bestimmtes kaufen kann, wenn er sogar in der Stadt wohnen kann, dann hat er Anteil am Leben der Weißen, d.h. er hat dann Anteil am eigentlichen Menschsein, an der „Fülle des Lebens“, die ihm als Indio, als Ausgestoßener des Systems, sonst vorenthalten bleibt. „Je mehr Dinge ich kaufen kann, desto mehr Mensch bin ich.“

Und genau dies ist das grundlegende Dogma des Kapitalismus, der notwendigerweise auch auf permanente Erweiterung seiner Herrschaft, auf Weltherrschaft ausgerichtet ist. Nur wenn ich Geld habe, kann ich meiner Bestimmung als Verdammter und Ausgestoßener (ausgestoßen von Gott und der Welt) entkommen und zu einem anerkannten Jünger und zu einem Weltbürger mit dem ihm zustehenden Rechten, werden.

Hier nur der Hinweis auf eine weitere grundlegende Voraussetzung, auf der Kapitalismus beruht: Nur permanentes Wachstum (wenn auch mit periodischen Schwankungen) garantiert dessen Funktionieren. Grenzenloses Wachstum auf einer begrenzten Erde ist ein aber ein Widerspruch in sich selbst. Dieses Wirtschaftssystem ist daher von Grund auf a-sozial und verbrecherisch, weil es auf Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und des menschlichen Zusammenhalts aufbaut. Biblischerseits ist hinzuzufügen: Es ist nicht nur gottlos (a-theistisch), sondern organisierter Götzendienst und somit dem Gott des Lebens und seinen Töcchterrn und Söhnen eine tödliche Gefahr.

Der gewaltsame Einbruch der Europäer hat das Weltgefüge der Indios so durcheinander gebracht, dass sie die „Religion“ der Europäer akzeptiert haben, ohne sie je zu verstehen. Die europäischen Missionare mögen die beschriebene Lehre den Indios so nicht vermittelt haben, in der Praxis haben sie aber die Herrschaft der Europäer so erfahren wie geschildert. Zudem ist festzuhalten, dass es nicht zuerst die Worte sind, die Menschen überzeugen, sondern die Taten. In diesem Sinne waren die Eroberer mit ihren Gräueltaten (wie in Cajamarca der erste spanische Großgrundbesitzer Melchor Verdugo) die eigentlichen „Missionare“, die Verkünder der Botschaft von der Einzigartigkeit der Europäer und ihrer Religion. Und diese Auffassung von Religion (Gott auf der Seite der Weißen etc.) konnte um so mehr Fuß fassen, je öfter die offiziellen Vertreter dieser Religion an dem Tisch der Mächtigen gesehen wurden bzw. diese als eine Einheit oder gar als identisch mit den Sklavenhaltern wahrgenommen wurden.

Wie an diesem Beispiel des Campesinos gezeigt werden kann, verschmelzen sich die beiden Grundprämissen der neuzeitlichen Religion: der Arme ist selbst schuld und die Armut ist eine gerechte Strafe Gottes. Die Verschmelzung der beiden Ursprungsmythen fand ihre Konkretisierung in der Allianz der Kirche mit den Mächtigen auf Kosten der Indios (und Afrikaner, Asiaten etc.). Dabei ist es unwichtig festzustellen, was zuerst da war: der Mythos (als erfundene Rechtfertigung der Herrschaft) oder die Praxis (als Konsequenz des Mythos). Diese beiden Mythen kann man als das Grundsakrament des Kapitalismus bezeichnen, analog zu den beiden Grundsakramenten der katholischen Lehre, der Taufe und der Eucharistie (Kirche als Zeichen des Heils). Deren Annahme und Akzeptanz ist die Vorausbedingung für die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, denen das Heil zugesagt ist. Das Annehmen der Botschaft (das Hören) führt zu einer bestimmten Praxis und zu einer Orientierung an Lebensinhalten und Lebenszielen, die von der jeweiligen „Wertegemeinschaft“ vorgegeben werden.

Im Falle des Kapitalismus sind dies die schon erwähnten Fixierungen auf äußerlich messbaren Erfolg und auf materielle Werte mit ihren jeweiligen austauschbaren Symbolen (für Männer z.B. die Macht, sich Sex oder gar „Liebe“ kaufen zu können). Diese Werte gewinnen aber nur dann ihre eigentliche Bedeutung, wenn sie öffentlich dargestellt oder gar öffentlich zelebriert werden können. Einfacher ausgedrückt: der Kauf eines bestimmten Markenartikels kann das sichtbare Zeichen der Anteilhabe an den Segnungen des Systems (vergleichbar: Anteilhabe an der Gnade Gottes) sein: also eine sakramentale Handlung. Im Folgenden werden zusätzlich zu den beiden „Grundsakramenten“ fünf weitere Heilsverheißungen des Kapitalismus (insgesamt sieben) in ihrer Konkretisierung der Goldminen von Cajamarca vorgestellt und auf dem Hintergrund der Erfahrungen in Cajamarca auf die Probe gestellt.

3. „Die Bergbauunternehmen (wie alle Unternehmen) dienen der Entwicklung der Region, in der sie tätig werden“.

In Cajamarca wurde den Comunidades versprochen, dass sie durch die Investitionen der Mine die Chance erhielten, Anschluss an die moderne Zeit zu finden. Neue Straßen, Schulen, Arbeitsplätze usw. wurden für alle Campesinos in Aussicht gestellt. Um beim Beispiel des erwähnten Campesinos zu bleiben: durch das Auftreten der Minengesellschaft können nun bald viele Campesinos einen Radiorekorder kaufen. Dadurch werden sie im eigentlichen Sinne zu modernen Staatsbürgern. Es scheint auch ein Grundprinzip von staatlicher Entwicklungshilfe zu sein, möglichst vielen Menschen den Zugang zum Weltmarkt zu verschaffen, d.h. dass sie ihre Produkte „marktgerecht“ verkaufen um dadurch die Mittel zu erhalten, an den „Segnungen der Zivilisation“ teilhaben zu können. Nun ist es aber Ziel jedes Unternehmens (erstrecht wenn es wie Newmont Mining an der Börse - Wallstreet - notiert ist) mit möglichst wenig Einsatz (Investition) möglichst viel Gewinn zu machen.

Die Rangliste der Top - Unternehmen (auch an der Börse in Lima) wird nach den Kriterien des Shareholder Value bzw. des Verhältnisses von Investition: Ertrag aufgestellt und nicht nach dem Kriterium Investition: Sozialleistungen. Die „Buenaventura S.A.“ (peruanischer Anteil an der Mine) steht in der Rangliste der Topunternehmen in Peru an vierter Stelle. Im Zusammenhang mit der genannten These wird oft noch als weiteres Argument (auch in Cajamarca) genannt, dass durch neue Investitionen (Industrieansiedlungen u.a.) der Wettbewerb in der Region gefördert wird, was wiederum zu einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung in der Region führen wird. Mag dies in bereits dicht industrialisierten Gebieten zutreffen oder auch nicht - in Cajamarca kann davon keine Rede sein. Wie auch noch im Falle der versprochenen Arbeitsplätze zu sehen sein wird, führt die Existenz der Mine in der Region Cajamarca nicht zu einem Aufschwung z.B. in der Zuliefererindustrie bzw. im Handwerk, auch nicht im Bereich des Hotel- und Gastgewerbes, des Tourismus etc., sondern eher zu einer Verknappung der Ressourcen und damit zu einer erheblichen Verteuerung. Eine Gesamtkonzeption für die Entwicklung der Region könnte dies verhindern bzw. in konstruktiver Zusammenarbeit mit der Mine könnten bestimmte Impulse und Anreize geschaffen werden, doch weder Mine noch staatliche Stellen haben daran ein Interesse.

4. „Die modernen Bergbauunternehmen liegen auf die Erhaltung der Umwelt größten Wert“, weniger diplomatisch: „Die Zerstörung der Natur ist der Preis für den Fortschritt“.

Die bei Cajamarca angewandte Abbaumethode ist zwar eine der modernsten der Welt und die Investitionen in entsprechende Schutzmaßnahmen sind höher als in alten Bergwerken. Die Unternehmen investieren in Umweltschutzmaßnahmen. Dies geschieht unter dem Druck der Öffentlichkeit und von Regierungen, die hohe Schadensersatzforderungen im Falle einer Katastrophe stellen. Für Unternehmen ist es rentabel und Image fördernd geworden, ein Minimum in Umweltschutz zu investieren und ein Maximum an Propaganda daraus zu machen. Über den Widerspruch zwischen Propaganda und Realität ist noch zu berichten. Im Übrigen gilt auch hier, dass Investition und Profit im rechten Verhältnis stehen müssen. Wenn aber die Natur zwar zerstört wird, sich aber der Wohlstand nicht einstellt…..?

5. „Die Investitionen von Unternehmen bzw. deren Ansiedlung in der Region schaffen neue Arbeitsplätze“.

Die Erfahrungen in allen Teilen der Welt sprechen dafür, dass Unternehmen nicht zuerst das Wohl bzw. die Arbeitsplatzsicherheit der Beschäftigten im Auge haben. Vielmehr zeichnet sich ein erfolgreiches Unternehmen gerade dadurch aus, dass es mit möglichst wenig Personal ein Höchstmaß an Effizienz erreicht und von den Beschäftigten werden als besondere Tugenden Flexibilität und bedingungslose Leistungsbereitschaft erwartet. Auch der Goldabbau bei Cajamarca wird mit der derzeit modernsten Technologie betrieben. Dies ist umso bemerkenswerter in einem sozialen Umfeld, in dem eine Masse von billigen Ar- beitskräften zur Verfügung steht. In anderen Industrien (z.B. Textilindustrie) wird dies als
Standort- und Wettbewerbsvorteil intensiv genutzt (17). Beim Goldabbau werden nur wenige Menschen benötigt. Gewaltige Maschinen fressen sich durch die Berge und die Planierraupen und Lastwagen zum Abtransport werden von speziell geschulten Fahrern gesteuert, die nicht aus der Region kommen. Einige Campesinos arbeiten in der Instandhaltung der Straßen und bekommen dafür etwa 100 Euro im Monat bezahlt. Die Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze ist natürlich sehr groß und wer dennoch eine Arbeit bekommt, darf sich zu den Auserwählten zählen.

In der Mine selbst arbeiten neben den meist ausländischen Ingenieuren mit einem Jahresgehalt von etwa 50.000 Dollar noch einige erfahrene Minenarbeiter aus den traditionellen Bergwerkzentren aus dem zentralen Hochland von Peru (Cerro de Pasco). Da zudem die Minengesellschaft viele Arbeiten an Subunternehmen vergibt, u.a. an Züblin (Chile/Deutschland), ist es nahezu unmöglich, die Mine selbst für bestimmte Missstände verantwortlich zu machen. Eine Organisation der Beschäftigten ist von vorneherein ausgeschlossen und die wenigen Frauen, die für Küche und Reinigungsarbeiten gebraucht werden, werden eigenhändig (d.h. die Männer - Ingenieure, nicht Ärzte - legen Hand an) z.B. auf heimliche Schwangerschaft untersucht. Frauen sprechen zwar in vertrauensvollen Gesprächen von sexuellem Missbrauch vor allem seitens der aus Zentralperu verpflichteten Facharbeiter, sie trauen sich aber nie, diesen Missbrauch öffentlich zu machen.

6. „Wenn die Unternehmen gute Gewinne machen, kommt dies allen Menschen, besonders aber den Armen zugute“.

Diese Verheißung ist eine der ältesten Verheißungen und sie stand bereits am Anfang der industriellen Revolution. Mögen bei Adam Smith vor dem anbrechenden industriellen Zeitalter noch humanitär-liberale Motive eine Rolle gespielt haben, so ist die ständige Wiederholung dieses Wirtschaftsdogmas angesichts steigender Armut und zunehmender „Freisetzung von Arbeitskraft“ purer Zynismus. So wurden z.B. den Campesinos von Combayo zu Beginn des Jahres 1993 dreißig Dollar pro ha Land angeboten. Dieses Angebot war begleitet von der Drohung, wenn sie ihr Land nicht verkaufen, würde es vom Staat ohne Entschädigung enteignet werden, denn die Gesetze seien auf der Seite der Mine. Zudem wurde den Campesinos dieser Comunidad versprochen, dass alle in der Mine Arbeit finden würden, wo sie viel mehr verdienen würden als je zuvor. Die Campesinos verkauften ihr Land. Einige Campesinos fanden Arbeit in der Mine - ohne Arbeitsvertrag - mit einem monatlichen Lohn von 200 DM, Essen und Unterkunft mussten teuer bezahlt werden (der Lohn wurde in Essensgutscheinen ausgezahlt), eine Versicherung wurde trotz Versprechen nicht abgeschlossen.

Sie protestierten, dass sie kein Geld ausgezahlt bekamen, sondern ihnen stattdessen Schulden angeschrieben wurden, weil ihre Essensrechnung höher sein sollte als der ihnen zustehende Lohn. Daraufhin wurden sie nach 18 Monaten Arbeit ohne Urlaub entlassen. Durch die harte körperliche Arbeit in über 4.000 m Höhe und einer nicht ausreichender Verpflegung (vor allem Mangel an Flüssigkeit) sind einige krank geworden, ein Arzt ist für sie nicht erreichbar. Heute leben über die Hälfte dieser Familien von Combayo am Stadtrand von Cajamarca im Elend und auch die übrigen Familien leben in größerer Armut als zuvor.

Selbstverständlich gibt es auch einige Familien in Cajamarca (und einige Campesinos), die durch die Anwesenheit der Mine profitiert haben. Solche Beispiele werden dann immer als Beleg dafür herangezogen, dass der Mythos tatsächlich funktioniert (und kein Mythos ist, sondern Realität - ein derartiger „Beweis“ ist vergleichbar mit dem „Beweis“ der Existenz Gottes durch Wunder). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Campesino XY besonders clever war (leistungsbereit, risikobereit, flexibel, aufgeschlossen für die Moderne etc.), während die anderen eben nicht ihre Chance zu nutzen wussten.

7. „Die Unternehmen legen Wert darauf, zu den Kommunen und Bürgern gute Kontakte zu pflegen und das soziale und kulturelle Leben der Bürgerschaft zu fördern“.

Yanacocha S.A. als das profitabelste Bergwerksunternehmen Perus und unter den Top 10 der Goldabbauunternehmen der Welt, legt auch in Cajamarca Wert auf ein soziales Image. Dies wird gepflegt, in engem Kontakt mit den Honorationen der Stadt und der Kirche, durch Stiftungen an Schulen (Computerausrüstung), an die Kirche (Bischof) und an das Krankenhaus (neue Geräte). Auch zu den Medien bestehen gute Kontakte und es werden kulturelle Events gesponsert. Deshalb hat die Mine einen guten Ruf bei den einflussreichen Familien der Stadt. Einladungen und Empfänge mit den ausländischen Ingenieuren sind glanzvolle gesellschaftliche Ereignisse. Was wirklich in den Minen geschieht, vor allem was mit den Campesinos und den Arbeitern geschieht, spielt bei diesen gesellschaftlichen Events keine Rolle. Die Mine hat zudem das Informationsmonopol in allem, was die Mine betrifft. Selbst wenn einige der Wohltaten der Mine tatsachlich den Ärmsten zugute kommen sollten, dann liegt dies in der alten und bewährten Tradition karitativer Tätigkeiten, die den Menschen nun ein Pflaster reichen für die Wunden, die sie ihnen selbst vorher zugefügt haben.

Fazit

Der Mythos hat seine „rationale“ Begründung in dem Willen derer, die eine bestimmte Wirklichkeit so wahrnehmen wollen, wie es ihnen am ehesten zum Vorteil gereicht. Auf diese Weise kann diese bestimmte Wirklichkeit (oder auch die Wirklichkeit an sich) niemals Gegenstand der Kritik sein und es kann auch kein Wahrnehmen einer anderen Wirklichkeit geben, weil es diese ja gar nicht geben darf oder kann. So wird auch der real existierende Kapitalismus (neumodischer: Neoliberalismus) als die einzig denkbare Art und Weise der Weltgestaltung und des Zusammenlebens der Menschen betrachtet. Dies geschieht umso mehr, als eine scheinbare Alternative kläglich gescheitert ist. Jede Alternative zu diesem System wird, weil als absurd geltend, erst gar nicht mehr diskutiert. Die Sieger sprechen stetig von ihren Erfolgen und können so gar nicht mehr wahrnehmen, dass die Zahl der Verlierer (nicht nur der Menschen, auch der Schöpfung) immer mehr zunimmt.

Wer z.B. davon spricht, dass die Armen selbst schuld an ihrem Elend sind, der kann dann nicht mehr die eigentlichen Ursachen des Elend wahrnehmen, geschweige denn die Armen als Subjekte wahrnehmen, z. B. die Mutter, die um fünf Uhr morgens aufsteht, Wasser am Fluss holt, Wäsche wascht, Brennholz sucht, auf den Markt geht, um dort drei Tomaten zum Kauf anzubieten usw. und die sich um 22 Uhr todmüde auf ihre Matratze aus Stroh legt und dabei daran denkt, was sie ihren Kindern morgen zum Essen geben kann.

Eine moderne Version eines derartigen ideologischen Diskurses ist die Politik, nach der die armen Menschen der armen Länder ihre Gürtel enger schnallen müssen, damit sie fit gemacht werden können für den Wettbewerb in der globalen Gesellschaft, um so einen Weg aus ihrer (selbstverschuldeten?) Armut zu finden. Dahinter steht die Auffassung, dass erst einmal Reichtum angehäuft werden muss, damit dann die Armen eine Chance erhalten, zu Arbeit und Brot zu kommen. Wenn es nämlich z.B. mehr Autos auf den Straßen gibt, dann gibt es auch mehr Möglichkeiten für Straßenkinder, im Stau vor der Ampel die Scheiben der Autos zu wischen und damit Geld verdienen zu können. Und wenn das einfache Volk erst einmal etwas Geld hat, dann gibt es auch mehr Möglichkeiten, dieses Geld auszugeben, was wiederum z.B. der Unterhaltungsindustrie, der Freizeitindustrie zugute kommt, die dann ebenfalls mehr Arbeit bietet (mehr Diskotheken, Bordelle usw.).

So entsteht ein Kreislauf, der immer mehr Menschen in Brot und Arbeit bringt und der damit zu einem steigenden Wohlstand für alle führt. Verkünder dieser Frohen Botschaft ist u. a. der von den USA dominierte IWF, der den armen Ländern zu deren eigenen Wohl Strukturanpassungsmaßnahmen vorschreibt, nach denen zuerst alle sozialen Programme, weil nicht produktiv, gestrichen werden müssen, damit es später allen besser geht (falls sie es überlebt haben). An diesem Gesetz geht kein Weg vorbei, denn die Wirtschaft funktioniert nach den Gesetzen des Marktes und der ist blind (wertneutral). Wer gegen den Markt handelt, geht unter. Dies wird als ein unumstößliches Naturgesetz hingestellt. Damit wird jeder Versuch, dieses Modell zu hinterfragen oder gar von den Opfern her zu deuten, als Wahnsinn betrachtet, d.h. es ist der Kritik entzogen: IWF dixit!

Anhang - Maßnahmen des IWF:

Der erste massive Eingriff des IWF in Peru geschah 1974, als das Experiment einer „Revolution von oben" von den USA und dem IWF, in dem die USA eine Sperrminorität besitzen, gestoppt wurde. General Velasco musste abgelöst werden. 1978 musste sich Peru endgültig den Bedingungen des IWF unterwerfen. Bei den Verhandlungen über die Umschuldung von damals acht Milliarden Dollar Auslandschulden musste Peru, wie andere mit Krediten voll gepumpte Länder, folgende Bedingungen akzeptieren (18):

Senkung der Staatsausgaben (Sozialausgaben u.a. im Bildungs- und Gesundheitsbereich); Streichung aller Subventionen (vor allem für Grundnahrungsmittel); freier Kapitalverkehr (Gewinne können ungehindert aus dem Land geschafft, ausländisches Kapital kann in Gewinn versprechende Vorhaben bliebig investiert und wieder abgezogen werden); Herstellung eines sicheren Investitionsklimas (Zerschlagen der Gewerkschaften, Löhne werden gesenkt, Kaufkraft sinkt); verstärkte Konzentration auf den Export statt Eigenkonsum (Mobilisierung aller landwirtschaftlicher und natürlicher Ressourcen zwecks Beschaffung von Devisen, um die fälligen Zinsen bezahlen zu können). Die Kürzung der Rüstungsausgaben wurde übrigens nicht zur Bedingung gestellt, im Gegenteil, der peruanischen Regierung wurden günstige neue Kredite zur Modernisierung der Streitkräfte angeboten, u.a. von Deutschland. Im gleichen Jahr (1978) kommt es zu Unruhen, die gewaltsam niedergeschlagen werden.

Ein Ergebnis der Maßnahmen: 1979 konnte eine peruanische Durchschnittsfamilie mit ihrem Monatseinkommen nur noch halb so viel Nahrungsmittel kaufen wie 1972. Der Präsident der peruanischen Zentralbank charakterisierte 1979 die Maßnahmen des IWF wie folgt: „Die sozialen Kosten dieser Politik sind dramatisch. Sie bedeutet den Tod für rund 500.000 Kinder und sie bringt eine unbestreitbare Wirklichkeit mit sich: die Peruaner werden einer Hungerkur unterworfen“ (19).

Während die Landwirtschaft in den reichsten acht Industrieländern mit jährlich 366 Milliarden Dollar vom Staat subventioniert wird, investiert der peruanische Staat nicht in die eigene Landwirtschaft. Ausgenommen sind Steuererleichterungen für Großbetriebe an der Küste, die hauptsächlich für den Export produzieren (20). Der IWF fordert einerseits Steuererleichterungen für ausländische Investitionen und den Anbau von Exportgütern und fordert andererseits den Abbau von staatlichen Subventionen für die unrentablen Minifundien (21). Gleichzeitig hat die Hälfte der Bevölkerung keinen ausreichenden Zugang zu Grundnahrungsmitteln. Diese Besitzverteilung und die entsprechenden Machtverhältnisse sind ein Ergebnis der Kolonialzeit. Der Staat ist der Garant dieser Ordnung. Verfassung, Gesetze und Rechtsprechung stehen im Dienst zuerst des Großgrundbesitzes und später im Dienst und zum Schutz von ausländischen Kapitalinvestitionen. Aus einer Verknüpfung verschiedener Faktoren, die hier nicht alle behandelt werden können (vor allem Produktionsformen des modernen Sektors der Wirtschaft und der Industrie in Verbindung mit alten Feudalstrukturen), ergeben sich für die
Masse der Bevölkerung folgende Konsequenzen (u.a.):

  • Massenabwanderung vom Land und aus der Landwirtschaft (von der Sierra an die Küste); und als unmittelbare Folge davon Slumbildung und Verelendung in den Städten.
  • Mangel an Grundnahrungsmitteln, die folglich eingeführt werden müssen - auf Kosten von möglichen Investitionen z.B. im Sozial- Gesundheits- und Bildungsbereich.
  • Gleichzeitig stattfindende Kapitalflucht (Transfer der Gewinne) in die reichen Länder, statt Investitionen in einheimisches Handwerk und Kleinindustrie; Verprassen der Überschüsse durch einen importierten Lebensstil („American way of life“).
  • Extreme Abhängigkeit von Weltmarktpreisen (Landwirtschaft, Rohstoffe, Importgüter) und Festlegung auf die Rolle des Rohstofflieferanten. Damit verbunden sind drastisch sich verschlechternde Tauschverhältnisse zu Ungunsten der armen Länder.
  • Zerstörung der nationalen, arbeitsintensiven Kleinindustrie und des Handwerks (Mittelstand) durch Fördern ausländischer Investitionen und in den letzten Jahren durch eine künstliche Verteuerung (Koppelung an den Dollar) der einheimischen Währung, die den Export erschwert und den Import von Luxusgütern erleichtert.
  • Als Fazit: Allianz der einheimischen Oberschichten mit dem ausländischen Kapital im beiderseitigen Interesse und auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung.

Die Regierungszeit von Alberto Fujimori (1990 – 2000) war geprägt von einer bis dahin beispiellosen Korruption. Während zwar in Peru alle Präsidenten, einzelne Minister, Generäle etc. stets wesentlich reicher ihr Amt verließen, als sie es begonnen hatten, kam es im „System Fujimori“ erstmals zu einer der Mafia ähnlichen, systematischen Ausplünderung der Staatskassen. „Der vom Kongress im Juli 2002 gebilligte Bericht zielte darauf ab, Straftaten und Verbrechen in der Staatsverwaltung zu finden und Personen dafür verantwortlich zu machen. Nach zehn Monaten Arbeit stellte die Kommission fest, dass zwischen 1991 und 2000 insgesamt 228 staatliche Unternehmen verkauft wurden. 90% der Unternehmen im Bergbau-, 85,5 % im Gewerbe-, 68 % im Kohlenwasserstoff-, 68% im Elektrizitäts- und 35% im Agrarbereich wurden in Peru privatisiert. Für den Nobelpreisträger Joseph Stigliz können Privatisierungen als Bestechungen verstanden werden. Und in Peru traf dies zu. Die Privatisierungen betrugen 9,22 Milliarden US$, dennoch flossen nur 6,45 Milliarden US$ dem Staat zu. Nach Meinung der Kommission kamen die Privatisierungen nur den transnationalen Firmen und dem Korruptionsnetzwerk zugute. Dieser Diebstahl wird straflos bleiben, falls er durch Gesetze, die damals entworfen wurden, weiter beschützt wird“ (22).

Oscar Ugarteche weist anhand konkreter Beispiele nach, dass die verbliebenen 6,45 Milliarden nahezu ausnahmslos in den Taschen der führenden Vertreter des Regime flossen, sei es über die Gründung von Scheinfirmen, Scheinaufträgen, Schaffung neuer Posten oder direkt als „Provision“ für Gutachten etc. „Der Bau von Schulen und von Gesundheitsposten im ganzen Land war zudem ein offener Geldschrank, aus dem sich die Anhänger Fujimoris bedienten und sich so bereicherten“ (23).

Könnte man die beschriebenen Zustände als typische Erscheinungen in einer Bananenrepublik bewerten, könnte man leicht zur Tagesordnung übergehen. Und dies geschieht auch oft. Übersehen wird dabei, dass es genau diese Zustände sind, die entweder von ausländischen Mächten und Konzernen so geschaffen wurden oder in denen sie sich besonders Gewinn bringend entfalten können. Die genannten Kommissionen weisen nach, dass sowohl von der Weltbank als auch einzelnen Konzernen und Banken - sehr wohl in Kenntnis der Mechanismen des Regimes - die Wiederwahl Fujimoris sowohl 1995 als auch 2000 massiv gefördert wurde. Schon der Staatsstreich am 5. April 1992 diente dazu, die entsprechenden Wirtschaftsreformen wie z.B. Privatisierungen, ungehindert durchführen zu können. Experten der Weltbank und des IWF waren die maßgebenden Berater des Präsidenten. Für Oscar Ugarteche und andere Experten wie Javier Iguíñez (IBC) steht fest, dass eine Zunahme wirtschaftlicher Freiheiten nicht automatisch zu mehr Demokratie führt. Am Beispiel der Ära Fujimori hat sich vielmehr das Gegenteil als richtig erwiesen: je mehr Freiheit für die „Globalplayer“, desto weniger Freiheit (d.h. mehr Elend) für die große Mehrheit des Volkes (24).

6. Partnerschaft - eine konkrete Option für die Armen

1962 begann mit Bischof José Dammert von Seite der Kirche her eine neue Ära der Beziehungen mit Europa und Rom. 1962 kam der erste deutsche Priester nach Cajamarca und seit 1963 besteht eine Beziehung zwischen der Gemeinde St. Martin, Dortmund und der Gemeinde San Carlos, Bambamarca. Das Bewusstsein von der Einen Kirche gewinnt durch immer mehr Partnerschaften und Gruppen, die sich intensiv mit den Problemen der Partnergruppe auf der anderen Seite der Erdkugel auseinander setzen, immer mehr an Bedeutung. Auch das Thema der wirtschaftlichen Globalisierung im neoliberalen Gewand rückte immer mehr in den Vordergrund.

Durch die Beschäftigung mit bestimmten Themen (z.B. Staudamm in Cajamarca, Nestlé usw.), die für die Partnergruppen in Peru Existenz bedrohend sein können, werden auch die wirtschaftlichen Verflechtungen und Verwerfungen immer besser durchschaut und können auf der Basis besserer wirtschaftlicher Kenntnisse und einer Deutung der Verhältnisse im Lichte des Glaubens neu verstanden werden. Zu einer solchen Deutung werden sie wiederum von den Partnergruppen in Peru inspiriert. Aus diesem Prozess der Beschäftigung mit den Problemen der Partner und damit verbunden die Frage nach den Ursachen von Abhängigkeit und Elend, entwickelte sich der Gedanke der Partnerschaft. Auch dieser Begriff machte eine Entwicklung durch und die Bedeutung dessen, was Partnerschaft bedeuten kann, musste erst wachsen bzw. diese Entwicklung steht erst am Anfang.

Zunehmend wird Partnerschaft von deutschen Partnergemeinden auch spirituell verstanden bzw. es wird deutlicher, was mit einer Option für die Armen gemeint sein kann. Die Partnerschaft einer reichen Gemeinde mit einer armen Gemeinde hat auch Rückwirkungen auf die Gemeinde in Deutschland. Inzwischen sind immer mehr deutsche Gemeinden eine Partnerschaft mit einer Gemeinde in der Dritten Welt eingegangen. Am Beispiel der Kirche von Cajamarca mit ihren Partnerschaften wird deutlich, welche Probleme und Chancen in einer solchen Beziehung für beide Seiten innewohnen.

Seit Papst Johannes XXIII. vor der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 zum ersten Mal von einem Vorrang der Armen sprach und dies als die große Herausforderung für die Kirche der Zukunft bezeichnete, ist die Option für die Armen (zwar noch nicht auf dem Konzil in dem Maße wie von Johannes XXIII. erhofft, aber in der Folge davon in Medellín 1968) zum Thema vieler theologischen Werke und Synodenbeschlüsse geworden. Es genügt deswegen hier der Hinweis, dass die Option für die Armen keiner weiteren theologischer Begründung bedarf, weil es die Option Gottes selbst ist (25).

Es soll nun andeutungsweise versucht werden, was für deutsche Gemeinden eine Option für die Armen aus der Sicht der Armen bedeuten könnte. Die jeweilige Option ist zuerst von ihrem jeweiligen Kontext her zu verstehen. Die Mitglieder der deutschen Partnerschaftsgruppen gehören, wie auch die überwiegende Mehrheit in der Gemeinde, der finanziell abgesicherten Mittelschicht an.

Die Gemeindemitglieder wie die Gemeinde als Ganzes sind mehr oder weniger gut funktionierende Bestandteile dieser Gesellschaft. Auch die beiden Konfessionen sind als Kirchen auf regionaler und nationaler Ebene eng mit Staat und Gesellschaft verflochten. Dies zeigt sich nicht nur in der Kirchensteuer (die bekanntlich umso höher ausfällt, je höhere Gewinne die Wirtschaft erzielt), sondern auch in der Zustimmung zu den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Natürlich gibt es Bruchstellen, doch diese Bruchstellen gehen auch quer durch die Gemeinden. Gemeinde und Kirche sind nicht nur Stützen dieser Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft. Als Gemeinde und Teil dieser Gesell- schaft sind sie Teil des dazugehörenden Wirtschaftssystems (oder umgekehrt) und sie haben ein existentielles Interesse an dem Erhalt und der Funktionstüchtigkeit dieses Systems, das auch ein globales System ist. Aus diesem Interesse heraus entsteht de facto eine entsprechende Option.

Die peruanischen Partnergemeinden in ihrer Strukturierung als Gemeinschaft von Basisgruppen (so möchten sie die deutschen Gruppen ja gerne verstehen) gehören hingegen nur insofern zu diesem System, als dass sie sich als vom System Ausgegrenzte erfahren. Mit anderen Worten: sie sind die Opfer eines Systems, das seit 500 Jahren so funktioniert, wie es in einer Ausstellung der Gemeinde St. Georg, Ulm (als Diaserie „Kirche der Befreiung“ übernommen in den Verleih der diözesanen Medienstelle in R.- Stuttgart) aus dem Jahre 1984 heißt: „Die bestehende Weltordnung basiert auf dem Recht des Stärkeren und der absoluten Vorherrschaft des Kapitals. Der wirtschaftliche Kreislauf wird allein von den Interessen der reichen Länder her bestimmt und führt zu mehr Reichtum unsererseits und zu immer mehr Elend andererseits“.

In den peruanischen Partnergemeinden gehören 80 - 90 % der Menschen zu den Armen. Und als Arme und als Volk sind sie Opfer der von Menschen so geschaffenen Verhältnisse. Diese Verhältnisse stellen sich so dar, dass die unterschiedlichen Rollen in dem Einen System so verteilt sind, dass eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit lebt. Der Kontext, in dem die überwiegende Mehrheit der Menschen in den peruanischen Partnergemeinden lebt, ist geprägt von zunehmender Gewalt und Verelendung. Diese Menschen begreifen aber immer mehr, dass zwischen der Situation in der sie leben und dem, was sie an Überfluss und Luxus in den Medien und der Werbung sehen, ein innerer Zusammenhang besteht. Evangelisierung in den Landgemeinden und den Elendsvierteln Perus bedeutet ja gerade, auf diesen Zusammenhang (wie die Propheten) hinzuweisen, diese Situation im Lichte des Glaubens zu deuten und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Eine Option für die Armen aus deutscher Sicht bedeutet daher:

  • Hören auf die Menschen in den Partnergemeinden, sie innerhalb ihres Kontextes wahrzunehmen und sich ihrem Weg anzuvertrauen, weil ihnen ja der Weg von Jesus gezeigt wird und er mit ihnen ist. Sie sind für deutsche Gemeinden eine Brücke zum Verständnis der ursprünglichen Botschaft. Notwendige Voraussetzung dafür ist Bekehrung (kehrt machen, den eigenen Weg zumindest in Frage stellen, neue Wege suchen) bzw. Umkehr ohne Angst, etwas zu verlieren.
  • Eine Analyse des eigenen Kontextes, diesen im Lichte der Bibel zu deuten, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Handelns an den Pranger zu stellen und angesichts einer Verherrlichung materieller Werte (Materialismus, Götzendienst), die zum Tode führt, den biblischen Gott des Lebens zu verkünden. Mit Hilfe peruanischer Partnergemeinden kann dies eingeübt werden. Das Mindeste: Anwalt derer zu sein, die keine Stimme haben.
  • Eine Gemeindepartnerschaft ist ein hervorragender Ort, um die beiden scheinbar nicht miteinander zu vereinbarenden Gegensätze (Pole innerhalb des gleichen Systems) von Reichtum und Armut zu überwinden. Kirche ist der Ort, wo der Bruch der Gemeinschaft der Menschen untereinander und mit Gott überwunden wird. Die Kirche wird dann zur Kirche Jesu Christi, wenn nicht die einen auf Kosten der anderen leben, sondern wenn Gemeinden im Geiste Jesu eine Tischgemeinschaft (Kirche) bilden. Für deutsche Gemeinden ist es wesentlich schwerer, diese Einladung anzunehmen. Peruanische Gemeinden haben einen (biblisch, theologischen) „Standortvorteil“. Gott ist ihnen nahe, weil sie arm (unterdrückt) sind - nicht, weil sie „per se“ bessere Menschen sind.

Ist es für deutsche Gemeinden schon schwer genug, die Ursachen der Verelendung in ihren Partnergemeinden zu entdecken, so ist es noch viel schwerer, den eigenen Kontext (die Ursachen des Reichtums) zu analysieren. So wie in den Partnergemeinden die Menschen über Jahrhunderte hinweg von einer bestimmtem Kultur, Religion, gesellschaftlichen Konventionen und politischen Systemen geprägt wurden, so natürlich auch die Menschen in Deutschland. Mag man auch an manchem Althergebrachtem nicht mehr festhalten wollen, so ist eine grundsätzliche Kritik sehr selten oder erscheint als nahezu unmöglich. Jede Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen von der Wurzel her stellt letztlich auch jeden Einzelnen in Frage, der dann das Gefühl hat, man wolle ihm den Boden unter den Füßen wegziehen.

Da auch die Grenzlinien zwischen Gesellschaft und Kirche kaum auszumachen sind, eine klarere Abgrenzung auch gar nicht von der Mehrheit der Gläubigen gewünscht würde, hat die reiche Kirche In Deutschland die Kraft verloren, Alternativen aufzuzeigen oder gar Widerstand und prophetische Kritik zu üben. Eine Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Kontext wird noch erschwert durch die Auffassung, dass eine solche Arbeit bzw. Beschäftigung und Auseinandersetzung z.B. mit wirtschaftspolitischen Fragen nichts mit dem persönlichen Glauben zu tun habe bzw. nicht zum Auftrag der Kirche gehöre.

In der Partnerschaft zwischen einer reichen und armen Gemeinde erfahren aber die in der Partnerschaft Engagierten, dass Alternativen möglich sind. Wenn sie sich auf die Geschichte der Armen einlassen, entdecken sie, dass selbst jahrhundertlange Unterdrückung und gewaltsame Integration in ein materialistisches und gottloses System Menschen nicht davon abhalten kann, den Aufbruch und den Auszug zu wagen. Es ist für die peruanische Gemeinden leichter aufzubrechen als für deutsche Gemeinden. Partnerschaft heißt in diesem Zusammenhang auch, die eigene Ohnmacht zu erkennen und sich von den scheinbar Schwächeren an der Hand nehmen zu lassen. Es ist keine Schande, sich von den Armen die Geschichte Gottes mit den Menschen erzählen zu lassen. Sie sind es doch, denen Gott besonders nahe steht (und umgekehrt) und mit ihnen gehen dürfen heißt, die Einladung Gottes anzunehmen und den Weg Gottes zu gehen.

Es sind die „Hirten auf dem Felde“ (die Indios, Ausgegrenzten) denen sich der Himmel öffnete und denen zuerst die Botschaft von Jesus dem Messias verkündet wurde. Deutsche Gemeinden, die sich den Standpunkt ihrer Partner zu eigen machen, werden von dem neu gewonnenen Standpunkt aus ebenfalls „den Himmel schauen“ können. Dies wird nicht möglich sein, wenn sie weiterhin eingeschlossen bleiben in einem goldenen Käfig. Wer in diesem Käfig eingeschlossen bleibt, wird nur sehr schwer das Wort Gottes, das von außerhalb kommt, hören können.

Begegnungen mit den Opfern der Geschichte können zum Schlüssel werden, um diesen Käfig zu verlassen und Gott auf der Seite der Armen zu entdecken. Für deutsche Gemeinden und die deutsche Kirche bedeutet dieser Weg, auf vieles zu verzichten. Doch bei genauerem Hinsehen (und Ausprobieren) wird man erfahren, dass es nur Ballast war, den man weggeworfen hat und nun frei ist, ohne Rücksicht auf Privilegien das Wort Gottes zu verkünden. Eine Partnerschaft mit einer armen Gemeinde erleichtert den Aufbruch. Sie macht Umkehr möglich bzw. sie ist der erste Schritt zur Umkehr. Eine Partnerschaft ist eine praktische und praktikable Option für die Armen und mit den Armen. Sie ist Kirchen bildend, weil sie Einheit (mit den Ausgegrenzten und daher mit Jesus) stiftet.

Sie ist so das Sakrament einer wahrhaft katholischen Kirche.

Nach den in der Welt herrschenden Maßstäben stehen deutsche Gemeinden eher im Lichte, die Partnergemeinden und mit ihnen die Mehrheit der Menschheit, stehen im Schatten. Doch in diese Nacht hinein wurde Jesus geboren. Der Himmel öffnete sich, ein Licht erhellte die Nacht und die Armen fanden den Weg. Der Stern über der Hütte erleuchtete die Nacht. Die Frommen und Mächtigen in Jerusalem konnten diesen Stern nicht sehen, denn sie ergötzten sich an ihrem eigenen Licht. Deutsche Partnergruppen gleichen den Weisen aus dem Morgenland, die aus ihrer Heimat aufbrechen und - geleitet von dem Stern über der Hütte - sich auf den Weg zu Jesus machen. Ihr Weg führt zuerst über Jerusalem, doch dort weiß man von nichts. Dennoch finden sie Jesus in der Hütte, weil sie sich von dem Stern führen lassen. Reich beschenkt kehren sie zurück. Weil sie Jesus in der Hütte gesehen und sie die Stimme Gottes gehört haben, finden sie den Weg in die Heimat und zu sich selbst - ohne in Jerusalem zuvor um den Weg gefragt zu haben.

Im Blick auf die deutsche und weltweite Kirche möchte ich 10 Punkte nennen:

1. Die Kirche besitzt aus sich selbst heraus die Kraft, ihre Strukturen, Methoden und ihre gesamte Art und Weise der Pastoral und der Verkündigung zu ändern, wenn sie die entsprechenden Prioritäten setzt - das Evangelium und die Bedürfnisse der Menschen, vorzugsweise der Armen. Innerhalb von 30 Jahren (seit dem Beginn des Konzils 1962) ist es z.B. in Cajamarca gelungen, über 400 Jahre äußerster Entfremdung trotz heftigster Widerstände zu überwinden und einen Neuanfang zu wagen.

2. Das Beispiel Bambamarca zeigt, dass die Kirche die Kraft besitzt, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und zu einem wichtigen gesellschaftlichen Faktor zu werden - nicht im Sinne eines Bundes mit den Mächtigen, sondern als Anwalt und Stimme der Ohnmächtigen. Für die deutsche Kirche würde dies bedeuten, dass sie dann als ernstzunehmender Faktor in der Gesellschaft wahrgenommen werden wird, wenn sie sich auf die Verkündigung der „Guten Nachricht“, auf ihren spezifisch ureigenen Auftrag, besinnen würde - im Sinne einer Verkündigung in der Nachfolge Jesu, einem Verzicht auf alle staatlichen Privilegien und im entschiedenen Widerstand gegen die Götzen dieser Welt.

3. Angesichts zunehmender Schwierigkeiten der christlichen Verkündigung (Glaubenslehre, Vermittlung, Glaubwürdigkeit, Bibel- und Gottesverständnis, Glaubenserfahrungen etc.), einer Erosion fundamentaler Glaubensinhalte selbst bei kirchlich Aktiven und Bedeutungsschwund christlicher Kirchen, kann ein Blick und ein Hören auf die Zeugnisse gelebten Glaubens der privilegierten Adressaten der Verkündigung Jesu den reichen Kirchen helfen, den Auszug aus dem „Goldenen Käfig“ zu wagen. Die „Aussätzigen“ schreiben die Erfahrungen und die Geschichte der ersten Christen fort. Sie bilden daher für uns eine Brücke zum Zugang der Botschaft Jesu und dem Glauben der ersten Christen, zu dem wir „räumlich und zeitlich“ aus verschiedenen Gründen kaum noch einen Zugang haben (selbst wenn wir ihn suchen wollten).

4. „Wir sind Papst“: Die Campesinos von Bambamarca verstehen sich als kath. Kirche, als Teil der Weltkirche. Sie sind als Gemeinde und Gemeinschaft von Gemeinschaften das Volk Gottes. Dieses Volk wird von Christus selbst berufen und konstituiert. Jeder Getaufte sowie die Gemeinschaft der Gläubigen als Ganzes sind dazu berufen. Sie haben Anteil im vollen Sinne an allen „Ämtern Christi“: dem messianischen, priesterlichen und prophetischen Amt - Männer und Frauen in gleicher Weise. Sie haben das Wort Gottes gehört und verkünden die Frohe Botschaft vom Beginn eines neuen Lebens und dem Anbruch des Reiches Gottes. Im Volk Gottes, das von Gott berufen ist, gibt es zwar unterschiedliche Aufgaben und Charismen, aber keine wesensmäßigen Unterschiede zwischen den Gliedern des einen Leibes. Mit anderen Worten: Die Kirche von Bambamarca zeigt uns, was die Umsetzung des Konzils in die alltägliche Glaubens- und Gemeindepraxis bewirkt und dass diese Botschaft bei uns und in Rom noch nicht ganz angekommen ist. Alle Getauften sind im vollen Sinne verantwortlich für die Inhalte, Verkündigung und die gelebte Praxis des Glaubens in der Nachfolge Christi. Sie respektieren und wünschen sich einen Bischof von Rom, der sich mit ihnen an einen Tisch setzt und dann im Namen aller spricht.

5. Die Erfahrung der Kirche von Cajamarca zeigt, dass Menschen, die sich von Gott berufen fühlen (und von der Gemeinschaft akzeptiert und vom Bischof bestätigt werden), ihr ganzes Leben in den Dienst der Verkündigung zu stellen, ein Segen für jede Gemeinschaft und daher unverzichtbar sind. Als erster (!) Schritt wäre in diesem Sinne die Weihe von „viri probati“, verheirateter, im Glauben bewährter Männer, dringend erforderlich. Dies wurde bereits vor 40 Jahren diskutiert und ist theologisch ausdiskutiert. Selbst konservative Bischöfe und der jetzige Papst könnten dem „ohne Gesichtsverlust“ zustimmen – es sei denn, sie wären von einem unbiblischen bzw. vorbiblischen Priesterbild gefangen. Geschieht aber nichts, tragen sie - und alle, die aus Bequemlichkeit oder Angst dazu schweigen - die volle Verantwortung für die weitere geistige Verelendung in den Gemeinden und der Kirche insgesamt. Auch dies ist in der Kirche von Cajamarca zu beobachten.

6. Solange die Option für die Armen nicht strukturell (als „Dogma“) in der Kirche verankert ist, kann jeder Bischof (Papst, Pfarrer) nach Belieben die Arbeit seines Vogängers zerstören oder auch nicht. Solange die befreienden Erfahrungen der Armen nicht genauso viel Gewicht haben, wie römische Erlasse oder oberhirtliche Verlautbarungen (es sei denn, diese Erlasse gingen von solchen Erfahrungen aus, wie u.a. bei Dammert oder in Medellín), solange wird es nicht zu einer Kirche kommen, wie sie im II. Vat. Konzil und dann vor allem in Medellín sich abzuzeichnen begann: eine Kirche der Armen als „Zeichen des Heils“ und als Alternative zu den Götzen dieser Welt. Wir sind aufgerufen, uns zusammen mit den „Hirten von Bethlehem“ auf den Weg zu machen, das Konzil als Wegemarke zu beachten und es weiter zu schreiben.

7. Es kann eine direkte Linie von den Erfahrungen der ersten Christen zu den Erfahrugen der Campesinos und den „Indios dieser Welt“ gezogen werden. Der Umweg über die europäische Theologie und europäische Art von Kirchesein - zumal im Kontext der Conquista und einer immer noch andauernden Weltherrschaft - erweist sich als Sackgasse. In der Praxis und den Erfahrungen der Diözese Cajamarca zeigen sich erstmals die Umrisse eines nichteuropäischen Christentums, ausgehend von den Rändern dieser Welt und von den Menschen, die unter die Räuber gefallen sind. Nach über 1500 Jahren besteht nun die Chance, mit Hilfe der „Hirten von Bethlehem“ den Weg zu Jesus in der Krippe zu finden und ihn als den Messias zu erkennen.

8. Für deutsche Gemeinden und die deutsche Kirche bedeutet dieser Weg, auf vieles zu verzichten. Doch bei genauerem Hinsehen und Ausprobieren wird man erfahren, dass es nur Ballast war, den man weggeworfen hat und nun frei ist, ohne Rücksicht auf Privilegien das Wort Gottes zu verkünden. Gelebte Solidarität, z.B. die Partnerschaft mit einer armen Gemeinde, erleichtert den Aufbruch. Sie macht Umkehr möglich bzw. sie ist der erste Schritt zur Umkehr. Eine Partnerschaft ist eine praktische und praktikable Option für die Armen und mit den Armen. Sie ist Kirchen bildend, weil sie Einheit (mit den Ausgegrenzten) stiftet. Gemeinsam auf dem Weg sein, Brotteilen und miteinander an dem Mahl teilnehmen dürfen, zu dem Jesus eingeladen hat, ist konstitutiv für das Volk Gottes, sie ist das sichtbare Zeichen einer sonst nur abstrakt gedachten (nicht wirklich erlebten) Weltkirche: einer Gemeinschaft, in der Arme und Reiche an einem Tisch sitzen und gemeinsam das Brot des Lebens essen.

9. Als Gegenbegriff bzw. als notwendige Ergänzung zu der Rede vom „globalen Dorf“ müssen der Begriff und das Verständnis von einer „globalen Gemeinde“ Raum gewinnen. Die Kirche, will sie katholische Kirche sein, muss der herrschenden Praxis und dem eindimensionalen neoliberalen Verständnis von Globalisierung die Vision und die Praxis einer globalen Gemeinde entgegensetzen, die von den Armen ausgeht und in der nicht nur die Armen untereinander, sondern auch Reiche und Arme die Chance haben, das Brot zu teilen, also Gemeinschaft der Jünger Jesu zu werden. Den Partnergemeinden kommt dabei eine Pilotfunktion zu. Die Arbeit der Partnergruppen kann als exemplarisch für eine Kirche bezeichnet werden, die immer mehr zur „Welt - Kirche“ wird. In ihrer Arbeit, der gegenseitigen Unterstützung und im gemeinsamen Brot brechen wird zeichenhaft deutlich, was Kirche sein kann.

10. Wer soll den Reichen von Gott erzählen und sie von ihrer Angst befreien, wenn nicht die Armen, inmitten derer er Mensch wurde? Daher sind für Christen in den reichen Ländern der Kontakt, der Dialog und eine Wegegemeinschaft mit den Armen lebensnotwendig. Es ist die Aufgabe und die Chance von europäischer Theologie und Kirche, mit ihren Mitteln und ihren immer noch beträchtlichen Möglichkeiten, die Campesinos auf die Bühne zu stellen und ins Rampenlicht zu rücken. Die am Rande stehen müssen in die Mitte gestellt werden - um der Armen und der Botschaft Jesu willen. Dies ist auch um der Institution und der europäischen Kirche selbst willen zu geschehen, quasi zu deren eigenen „Heil und Rettung“. Denn wie könnte sie die Menschwerdung Gottes inmitten der „Indios dieser Welt“ leugnen, ohne sich selbst aufzugeben?

Schlusswort

„Sie erzählen uns, dass es in den Zeiten der Globalisierung mehr Freiheit und vieles mehr gibt. Ja, gewiss, denn jeder kann sein Geld verschwenden wie und wo er will ... vorausgesetzt er hat genug davon, und wenn nicht, so ist das sein Pech, er hat selbst Schuld. Und währenddessen gibt es täglich immer weniger Kinder, die sich in Freiheit ein Leben aussuchen können, das zumindest die fundamentalsten Bedürfnisse befriedigt. Die Globalisierung wird als die neue, absolute Religion verkauft und statt der Zehn Gebote herrschen die Gebote des nackten Egoismus, das Recht des Stärkeren und des permanenten Kampfes des Einen gegen den Anderen. Sie erzählen uns von einer ständig besseren Kommunikation und Verständigung untereinander, und dass Jeder, der kein Handy hat, nicht auf der Höhe der Zeit ist, während man gleichzeitig von seinem Nachbarn nebenan immer weniger weiß.

Es herrscht eine weltweite „Kommunion“, die in der Präsentation künstlicher und Gewalt verherrlichender Vergnügungen besteht, in der Präsentation nackter Ärsche auf so vielen Titelseiten und darin, überall und zu jeder Zeit Hamburger verschlingen zu können, hergestellt auf der Basis von vergiftetem Fleisch. Und all das geschieht, um die Menschen immer mehr zu verblöden und zu vergiften. Und als Krönung allen Übels gibt es noch kirchliche Prälaten, die sich berufsmäßig über die moralische Dekadenz beklagen, während sie gleichzeitig nicht schnell genugzu den Banketten und Festmählern eilen können, zu denen sie von den ‚Herren der Unmoral" und den Autoren dieser Globalisierung eingeladen werden.

Wir haben als Christen die Pflicht, der Welt eine Alternative zu präsentieren: die Alternative einer anderen „Kommunion“ - in dem wir das tägliche Brot mit den Opfern teilen, denn sie sind die Ersten, die von Gott zu seinem Festmahl eingeladen sind, in dem ihr Hunger nach Brot und nach Gerechtigkeit gestillt wird. Man teilt das tägliche Brot dann, wenn man für eine Welt kämpft, in der jede Schwester das Notwendige hat, damit sie in Würde und in Gemeinschaft mit dem Nächsten leben kann. Wir jedoch, wir sind die Kirche Jesu Christi, weil wir das Brot und das Wort Gottes untereinander teilen; wir versammeln uns und feiern die
Gegenwart des Herrn, seiner Leiden, seines Todes und seiner Auferstehung in unserer Mitte“.

Aus: Jesus Flores de La Loma, in: Die Globale Verantwortung - Partnerschaften zwischen Pfarreien in Deutschland und in Peru”, S. 35: “Lasst uns den Weg weitergehen...!” Echter,  Würzburg 2001
__________________________________________________________

Anmerkungen

(1) Siehe dazu u.a. „Die Wehklagen derer, die leiden, lassen mich nicht ruhen“, in: Die Armen zuerst! – 12 Lebensbilder lateinamerikanischer Bischöfe; Hg. Johannes Meier; Matthias Grünewald Verlag, Mainz 1999. Sowie vertiefte Informationen zu dem Prozess der Befreiung in der Diözese Cajamarca, Peru - in www.cajamarca.de

(2) Dammert: „Santo Domingo - Herausforderung an die Kirche Lateinamerikas“, auf dem Forum am 18.6.1992 des 91. Deutschen Katholikentags vom 17.-21.6. 1992 in Karlsruhe.

(3) Der folgende Text unterstreicht dies: „Unsere Zeit ist von einem gewaltigen historischen Ereignis geprägt: dem Hereinbrechen der Armen, d.h. der neuen Gegenwart derjenigen, die tatsächlich in unserer Gesellschaft und in der Kirche ‚abwesend’ waren. ‚Abwesend’ heißt unbedeutend“. Gutiérrez, Gustavo: Die Armen und die Grundoption. In: Mysterium liberationis, Band 1. Luzern 1995, S. 293. Eine Ausnahme dürfte Bischof Proaño sein. Er wuchs in großer Armut auf, seine Eltern flochten Strohhüte und lebten auf dem Land.

(4) Gutiérrez überträgt dies auch auf die Theologie und stellt noch einmal heraus, wer in Theologie und Kirche das Recht des ersten Wortes hat: „Diejenigen, die die theologischen Texte unterschreiben, dürfen nicht vergessen, dass die wahren Zeugen der lateinamerikanischen Kirche nicht sie sind (nicht notwendigerweise, um genauer zu sein). Es sind jene, die ihr pastorales und soziales Engagement in ihrem Alltag praktizieren und mitunter dabei ihr Leben riskieren“. Gutiérrez, Gustavo: ¿Dónde dormirán los pobres? Lima: CEP, 2002, S. 49. An gleicher Stelle schreibt er über die Option für die Armen: „Die bevorzugte Option für die Armen und Ausgeschlossenen, der Kern der biblischen Botschaft, ist heute ein wesentliches Element christlicher und kirchlicher Identität. Sie bezieht sich direkt auf den himmlischen Vater, der uns das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit schenkt. Die genannte Option konstituiert christliche Identität“. (Ebd. S. 55). In meiner Interpretation bedeutet dies: die Option für die Armen hat ihren eigentlichen Ursprung in einer tiefen Gottesbeziehung, in Gott selbst.

(5) Hier insbesondere Dok. 14: Die Armut der Kirche (Lateinamerikanische Realität - Begründung aus der Lehre der Kirche - Pastorale Leitlinien). Zu beobachten ist der methodische Dreischritt, der alle Kapitel durchzieht. In Puebla wurde dann von der „vorrangigen Option“ gesprochen (opción preferencial), weil es zu Missverständnissen gekommen war. Bedeutet eine Option für die Reichen den Ausschluss der Reichen? Natürlich nicht! Deshalb die Präzisierung in Puebla: die Kirche kümmert sich vorrangig (aber nicht ausschließlich) um die Armen, weil auch Jesus sich zuerst den Armen zuwandte bzw. einer der ihren war (siehe besonders in 1141, 1142 - 4. Teil, Kap.1) Im Grunde genommen bedeutet die Bezeichnung „vorrangige Option“ eine Abschwächung, denn damit kann man einen nur graduellen Unterschied meinen, nach dem Motto: Arme sind wir ja alle - mehr oder weniger! Genau dies ist aber nicht gemeint, sondern es handelt sich um einen qualitativen Unterschied. Daher werde ich stets von einer „Option für die Armen“ sprechen und nicht einer „vorrangigen Option“.

(6) Frontini, Pedro: Eine Utopie vor den Toren der Stadt. In: Werkstatt „Reich Gottes“ - Befreiungstheologische Impulse in der Praxis. Frankfurt: IKO, 2002.

(7) Gutierrez, Gustavo: Theologie der Befreiung, S. 271.
(8) Ebd. S. 274.
(9) Ebd. S. 277.

(10) Beide Zitate sind entnommen aus der Missionszeitschrift „Wendekreis“ der Missionsgesellschaft Bethlehem, Immensee; Nr. 2/1986, 91. Jahrgang, S. 20. Das erste Zitat ist aus der Ansprache von Oscar Romero an der Universität Löwen, aus Anlass der Verleihung des Ehrendoktors im Februar 1980. Das zweite Zitat stammt aus einem Interview mit der mexikanischen Zeitschrift „Excelsior“, kurz vor seiner Ermordung.

(11) Jesús Flores de la Loma, Lasst uns den Weg weitergehen! in „Die globale Verantwortung…..“ S. 35.

(12) „Wir teilen mit den Nationen der Dritten Welt das Schicksal, Opfer von Systemen zu sein, die unsere wirtschaftlichen Reichtümer ausbeuten, unsere politischen Entscheidungen kontrollieren und uns die kulturelle Vorherrschaft ihrer Werte und ihrer Konsumzivilisation aufdrängen. Diese von den lateinamerikanischen Bischöfen in Medellín angeprangerte Situation bleibt bestehen und festigt sich aufgrund der internen Struktur unserer Länder, einer Struktur der wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ungleichheit, der politischen Perversion, die nicht dem Wohle aller, sondern nur einigen wenigen dient“. Gerechtigkeit in der Welt - Dokument der Bischöfe Perus für die Bischofssynode, August 1971; in Adveniat - Dokumente/Projekte 10, S.11.

(13) Leónidas Proaño, Bischof von Riobamba, Ekuador (29.1.1919 - 31.8.1988), in „El profeta del pueblo“, eine unveröffentlichte Textsammlung, 1976.

(14) Über Rassismus (die Diskriminierung der „Indios“), siehe auch den Anhang: „Stadt-Land-Problematik“. In den Städten, bei Mestizen und Weißen, ist es durchgängige Meinung, dass „Indios“ nie von sich aus protestieren würden. Wenn sie es doch tun, dann müssen dahinter ausländische Agenten, Kommunisten oder Staatsfeinde im Allgemeinen stehen, die die Campesinos zur Durchsetzung ihren eigenen Interessen ausnutzen.

(15) 1978 sagte ein stellvertretender deutscher Botschafter in Lima: „Die Hauptproblem Peru besteht darin, dass es noch zu 50% Indios in Peru gibt“. Und auf dem gleichen Empfang der Botschaft stellte ein geladener deutscher Wirtschaftsführer fest: „Solange die Indios ihre Kartoffeln selbst essen, kann aus Peru nie etwas werden“.

(16) In Lateinamerika steht bei den Begriffen „Kapitalismus“ und Sozialismus“ nicht die von Karl Marx gebrauchte und „wissenschaftlich“ untermauerte Definition im Vordergrund (was nichts anderes ist als eine Art des Eurozentrismus). Sozialismus bedeutet hier zuerst eine Werteordnung, in der das Wohl der Gemeinschaft im Vordergrund steht und in der jeder Einzelne seine Verwurzelung hat (siehe andine Kosmovision!). Von daher leiten sich entsprechende Rechte und Pflichten ab. Der Mitmensch ist zuerst Teil derselben Gemeinschaft und somit ein „Nächster“. Kapitalismus bedeutet hier eine Werteordnung, in der der Einzelne zuerst auf sich gestellt ist und in der die Gemeinschaft und der Mitmensch zuerst als ein Gegenüber bzw. als Konkurrent angesehen werden. Höchstes Ziel ist der eigene Erfolg, der sich z.B. am erworbenen Kapital messen lässt.

(17) Investitionen in unterentwickelten Ländern sind meist von der Steuer absetzbar, weil sie angeblich Arbeitsplätze schaffen, in Wirklichkeit aber meist die einheimische Kleinindustrie und das Handwerk in den Ruin treiben; und arme Länder - genauer deren Regierungen/Oberschicht - buhlen gar um die Ansiedlung großer Unternehmen mit dem Argument der billigen Arbeitsplätze - u.a. Kinderarbeit - und der niedrigen Sozial- und Umweltstandarte.

(18) Vgl. Bello, Walter: Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank. In: Mander, Goldsmith (Hrsg.): Schwarzbuch Globalisierung. München: Riemann-Verlag, 2002, S. 191. Hier werden die sieben hauptsächlichen Bedingungen des IWF für Kredite aufgezählt (auch Strukturanpassungsprogramme genannt): Abbau von Schutzzöllen für die einheimische Wirtschaft; keine Kontrolle von Auslandsinvestitionen; Umwandlung einer an der Produktion von Grundnahrungsmitteln orientierten Landwirtschaft in eine durch Monokulturen gekennzeichnete und am Export orientierte Landwirtschaft; Aufhebung von Preiskontrollen und Einführung von Lohnkontrollen; drastischer Abbau staatlicher Leistungen u.a. im Gesundheitswesen; aggressive Privatisierung von Staatsbetrieben; Durchführung eines Deregulierungsprogramms, also Aufhebung staatlicher Vorschriften zum Arbeits- und Umweltschutz und zum Schutz der natürlichen Ressourcen.

(19) Bischöfliches Hilfswerk Misereor (Hrsg.): Arbeitshefte: Indios in den Anden. Leidenswege - Hoffnungswege. Aachen: Misereorvertriebsgesellschaft, 1986, S. 34.

(20) Internationaler Währungsfond: Seine Aufgabe besteht darin, armen Ländern zu helfen, die Integration in die bestehenden finanz- und wirtschaftspolitischen Strukturen zu erleichtern. Diese Integration ist an Bedingungen gebunden, die von den reichen Ländern als Modell vorgegeben werden.

(21) Während in den reichen Nationen nicht nur die Landwirtschaft, sondern zentrale Industriezweige - in den USA bis 2000 besonders Bio- und Kommunikationstechnologie - von den jeweiligen Regierungen massiv subventioniert werden, wird im Namen der freien Märkte von den abhängigen Ländern verlangt, dass sie alle Subventionen radikal abbauen, besonders jene, die zu einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit mittels eigener Produkte führen könnten. Genau so extrem verhält es sich mit protektionistischen Maßnahmen: während z.B. die USA als Garant des freien Marktes alle jene Länder mit Strafen belegen, die zum Schutz ihrer schwachen Industrie und Wirtschaft Schutzmaßnahmen ergreifen wollen, nutzen die USA ihre Stellung aus, um ihre eigene Wirtschaft aggressiv vor billiger ausländischer Konkurrenz zu schützen; umgekehrt zwingen sie die EU, der Einfuhr genmanipulierter Nahrungsmittel zum Wohl des eigenen Agrarbusiness zuzustimmen (z.B. 2003: Klage der USA vor WTO gegen das Importverbot von genmanipulierten Mais aus den USA in die EU).

(22) Jesús Espina: Zum Bericht des Kongressausschusses über die Korruption. In: Forum Solidaridad Perú, Nr. 26,

(23) Ugarteche, Oscar: „Los delitos económios, made in Perú“. In: Ideele Nr. 148, S 88; Zu dem Bau von Schulen und Gesundheitsposten ist anzumerken, dass damit die Popularität des Präsidenten gesichert werden sollte. Doch die meisten dieser Gebäude stehen heute leer bzw. sie waren gar nicht vollendet und eingerichtet worden.

(24) Selbst der eigentlich starke Mann des Regime und Drahtzieher der peruanischen Waffen- und Rauschgiftmafia, Montesinos, hatte beste Kontakte zu US-amerikanischen Regierungsstellen. Besonders eng mit Fujimori verbunden war der damalige Erzbischof und heutige Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani.

(25) Die akademische und nur scheinbar wissenschaftliche Frage, ob die Theologie der Befreiung „tot“ sei, weil ja der Ost - West - Konflikt nicht mehr bestehe, ist ein Hinweis auf das Niveau der Diskussion innerhalb der deutschen Theologie und im „Bildungsbürgertum“. Ausgangspunkt der Theologie der Befreiung war und ist die Situation der 2/3 der Menschheit, deren Situation „zum Himmel schreit“.

Schon vor über 3.000 Jahren haben solche Menschen erfahren, dass der Gott des Lebens sich ihrer erbarmt und sie aus der Sklaverei führt. Diese Situation - bei allem veränderten Kontext - besteht fort und ist heute drängender denn je. Wer an diesen Gott nicht mehr glauben kann, soll sagen, an was er sein Herz wirklich hängt. Diese theologische Grundoption hat sich nicht verändert. Die Theologie der Befreiung ist nicht irgendeine „Modetheologie“, sie ist vielmehr eine Abkehr von der Theologie der abendländischen Christenheit, die im Kontext der „Sieger“ (Eroberer) formuliert und verkündet wurde. Sie ist eine Umkehr zu den biblischen Wurzeln und entstanden aus dem Glauben der Ausgegrenzten (der Opfer) an einen befreienden Gott. Sie ist nicht ohne Irrtümer, und sie braucht Unterstützung - aber keine Belehrungen „ex catedra“. Es ist nicht die Schuld der Ausgegrenzten, wenn sie von üppig ausgestatteten Theologiemaschinerien nicht verstanden werden bzw. sie nicht in deren vor gestanzte Formate passt. Wie kann man theologisch vorgeben, die Stimme der Armen zu hören (den Ruf Gottes), wenn die Armen, mit denen sich Jesus Christus identifiziert, selbst nicht als Subjekte in dieser Theologie vorkommen? Und wie christlich (von Jesus dem Christus her entwickelt) ist eine solche Theologie?

Dr. theol. Willi Knecht, im Mai 2008