Ungerechtigkeit und Gewalt – die Kirche als Friedensstifterin
 
„Der Frieden ist vor allem ein Werk der Gerechtigkeit. Er erfordert die Errichtung einer gerechten Ordnung, in der sich die Menschen als Kinder Gottes verwirklichen können, in der ihre Würde geachtet wird und ihre legitimen Erwartungen befriedigt werden. Den Frieden erlangt man nur, indem man eine neue Ordnung schafft, die eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt“. So schreiben die lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín 1968 und zitieren damit das 2. Vat. Konzil (Gaudium et Spes, Nr. 78, 76).
 
1. Situation vor dem Konzil
 
„Noch nicht einmal ein ganzes Buch könnte all das zusammenfassen, was wir erlitten haben. Mit Wut im Bauch erinnerten wir uns daran wie zum Beispiel ein Campesino durch die Straßen ging, während ein Städter, vor seinem Haus sitzend, ihn kommen sah. ´He Indio, geh und hole mir einen Eimer Wasser!` ´Aber, Herr...`. Der Städter gab dem Campesino ein paar Fußtritte und zwang ihn das Wasser zu holen. Der Campesino musste gehorchen, wenn nicht, diese Städter konnten ihn wegen irgendwas anklagen, niemand hätte ihn verteidigt und sie konnten ihn sogar ins Gefängnis werfen. Klüger war es, ihm das Wasser zu holen und die Misshandlungen zu ertragen. Diese Leute aus der Stadt haben die Macht in ihren Händen. 
Warum hat der Campesino so viel ertragen, hat er nichts im Hirn um zu bemerken, was los ist? Niemals gab es jemanden, der uns begreiflich machte, dass wir auch so viel wert sind wie die in der Stadt. Niemand hatte uns erklärt, dass Väterchen Gott uns alle gleich geschaffen hat. Vielmehr predigten sie uns, dass Gott mit den Mächtigen ist, die dem Pfarrer gut zu essen geben. So waren wir denn überzeugt, dass wir viel weniger wert sind als ein Krawattenträger“.
„Kaum waren wir Kinder fünf Jahre alt, hatte uns der Patron schon auf seiner Liste. Und wehe uns, wenn sich einmal ein Schwein oder Schaf losgerissen hatte! Mit Schlägen brachten sie uns zum Weinen und mit Schlägen brachten sie uns zum Schweigen. Und wenn wir fliehen wollten, wohin hätten wir fliehen sollen! Unser kleines Stückchen Land hatten sie uns längst genommen… Auch unsere Töchter mussten schon mit fünf Jahren anfangen, die Tiere des Patrons zu hüten: Schafe, Ziegen, Hühner, Truthähne, alles, was der Patron hatte. Und oft bekamen sie nicht einmal etwas zu essen“.
 
„Eines Tages haben sie uns wieder alle zur Arbeit am Straßenbau verpflichtet, die Monate andauerte. Bereits vor Sonnenaufgang mussten wir uns auf den Weg machen. Die Frauen mussten bereits um vier Uhr aufstehen, um uns das Essen mitzugeben. Während der Arbeit hatten wir oft keine Zeit, um zu essen und die Aufseher ließen uns keine Ruhe. Auch die Religion war vorgeschrieben. Sie zwangen uns die Jungfrau anzubeten. Alle Sonntage gingen wir den Patron loben und verherrlichen. Wir sangen ihm Lobgesänge in seinem Salon, vor den Türen der Hauskapelle und wir beteten den Rosenkranz“.
 
1963 besuchte Bischof José Dammert (Bischof in Cajamarca 1962 – 1992) zum ersten Mal die Pfarrei Bambamarca. Dort lebten etwa 100.000 Campesinos, alle getauft und weit über das Land verstreut. In der Stadt lebten die „Weißen“ (Mischlinge), Händler, Verwaltung, Handwerker u.a., insgesamt etwa 5.000 Menschen. Die Reichen der Stadt erwarteten den Bischof, hoch zu Ross und mit großem Pomp. Doch er zog es vor auf das Land zu gehen, zu Fuß. Noch nie zuvor hatte ein Bischof die Campesinos besucht. Die Frauen warfen sich vor ihm zu Boden und wollten seine Füße küssen. Doch er setzte sich in ihre Mitte und sagte: „Ich bin ein Mensch wie ihr auch. Ich bin gekommen, um von euch zu hören, welche Sorgen und Wünsche ihr habt und um euch von unserem gemeinsamen Bruder zu erzählen, von Jesus Christus“. Und so begann eine neue Zeit…
 
2. Eine befreiende Pastoral in der Folge des Konzils
 
„Mit der Ankunft der neuen Pastoral hat die Situation der Ausgrenzung eine neue Sinndeutung erhalten: Jesus, Gott selbst, kam auch auf den Feldern von Bambamarca zur Welt. Er wuchs auf mit den Windeln aus Wolle, so wie sie unsere Kinder tragen; er rannte über die schlammigen Wege; er schwitzte, als er in den Mais- und Kartoffelfeldern arbeite; er ging in die Stadt hinunter, um die Leute zu trösten, die im Tausch ihrer Produkte immer betrogen wurden. Der Campesino Jesus sang und tanzte auch in froher Runde auf den Festen und Geburtstagsfeiern mit seinem Volk. Und er wurde traurig, als er von den Problemen hörte, die die Arbeit mit sich brachte. Aber vor allem teilte er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Campesinos von Bambamarca. Diese Erfahrungen mit Jesus haben die Leute ausgedrückt in ihren Theaterspielen, in Erzählungen, in den typischen Kleidern ihrer Zone, in Gesängen und Liedern und vor allem in den Werken der Solidarität in all seinen verschiedenen Formen. Jesus hat sich so sehr mit seinen Leuten identifiziert, ist eins und Fleisch geworden mit ihnen, so dass die Polizisten, als sie ihn gefangen nehmen wollten, ihn nicht von seinen Freunden unterscheiden konnten. Dieses Gefühl der Identifizierung hat alle, die an der Ausbildung dieser neuen Pastoral teilnahmen, überwältigt. Der Campesino war nun davon überzeugt, dass es vor Gott keinen Unterschied macht, ob jemand Schuhe trägt oder barfuß daher kommt. Ob Anzug mit Krawatte oder Poncho, vor Jesus von Nazareth hat das keine Bedeutung" (Leonardo Herrera, s.u.).
 
3. Friede - Frucht der Gerechtigkeit
 
„Die Verbreitung des Evangeliums hat als Konsequenz, dass sich die Unterdrückten als Kinder Gottes und als Brüder und Schwestern erkennen und als solche ihre Rechte und Würde einfordern. Dies erfreut nicht die lokalen Autoritäten und die Herrschenden im Allgemeinen. Man kann nicht Nächstenliebe und Gerechtigkeit predigen, ohne die herrschende Ungerechtigkeit zu demaskieren“ (Bischof Dammert).
Dieser Einsatz für den Frieden bedeutet für die Campesinos Einsatz für mehr Gerechtigkeit. Friede bedeutet für sie nicht, sich nicht einzumischen, die Hände in den Schoß zu legen und in die lautlose Unterwürfigkeit vergangener Zeiten zurückzukehren. Es ist bekannt, unter welcher Gewalt, Rechtlosigkeit und Willkür die Landbevölkerung (Indigene in aller Welt) über Jahrhunderte hinweg leiden musste.
 
Die Evangelisierung und die daraus entstandenen neuen Basisgemeinschaften haben einen entscheidenden Beitrag geleistet, dass diese elementare Form von Gewalt zurückgedrängt werden konnte. Gewalt wird auch dann überwunden, wenn Kinder sauberes Wasser trinken können, ausgewogene Ernährung haben, wenn sie eine Chance auf Ausbildung haben und wenn sie mit ihren Eltern zusammen nun sicherer leben, weniger Übergriffe befürchten müssen und sich selbst organisieren können - ganz zu schweigen von dem nicht messbaren Bewusstsein, endlich als Mensch respektiert zu werden. Dies alles den Kindern Gottes und der Erde vorzuenthalten oder ihnen zu nehmen, ist die am weitesten verbreitete und tödlichste Form der Gewalt.
In den Zeiten des bewaffneten Terrors in Peru hatten die Terrorbewegungen in Bambamarca und fast allen Teilen der Diözese Cajamarca keine Chance, Mitglieder und Sympathisanten zu gewinnen.
 
Immer wieder haben Mitglieder von Sendero Luminoso versucht, die Basisgemeinden zu infiltrieren und unter massiven Drohungen zum bewaffneten Kampf gegen den Staat zu verleiten. Doch diese wiesen alle Versuche zurück: „Wir halten nichts von der Idee jener, die Probleme lösen wollen, indem sie andere Menschen töten. Sie schaffen nur viel größere Probleme. Denn der Tod bringt noch mehr Elend, mehr Traurigkeit und hinterlässt viele Waisen. Wenn diese Menschen, die den bewaffneten Kampf predigen, in unseren Comunidades auftauchen, dürfen wir sie nicht empfangen. Denn unser Auftrag ist, Frieden zu schaffen, nicht zu töten. Wir wollen keine Gewalt, wir werden immer um mehr Frieden kämpfen“. In der Tat konnte in Bambamarca der Sendero Luminoso nicht Fuß fassen und auch durch Drohungen ließen sich die Campesinos im Vertrauen auf die eigene Stärke nicht einschüchtern. (Auch nordamerikanische Sekten mit ihrer pervertierten „Theologie“ hatten keine Chance – erst dort wieder, wo eine befreiende Pastoral von Rom aus unterdrückt wurde).
 
Den politisch motivierten Terror gab es vor allem dort, wo nicht organisierte und in Abhängigkeit gehaltene Campesinos mit dumpfen Parolen leicht zum Spielball beider Seiten, der Terroristen und der Militärs, werden konnten. Wer sich aber für Frieden und Gerechtigkeit einsetzt, erleidet - in der Nachfolge Jesu - selbst Gewalt. Wie z.B. Valentín Mejía, Campesino aus Bambamarca, aktiver Christ, häufig bedroht, verhaftet und misshandelt. Protestierende Augenzeugen seiner Verschleppung wurden beschossen. Später kreuzigten die Polizisten ihn. Er wurde an Händen und Füßen an ein Kreuz gefesselt, mit dem Kopf nach unten. „...Sie fesselten mich mit Stricken. Dann kreuzigten sie mich an einem Fahnenmast, und sie verhöhnten mich, und schlugen und sagten: ‚So sterben Terroristen!’ Sie legten ihre Gewehre auf mich an und sagten: ‚Wo sind denn deine Priester? Sollen sie dich doch verteidigen! Du Terrorist`!“
 
„Der Friede mit Gott ist das tiefste Fundament des inneren und des sozialen Friedens. Darum wird überall dort, wo dieser soziale Friede nicht existiert, überall dort, wo man ungerechte soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten findet, die Friedensgabe des Herrn, mehr noch, der Herr selbst zurückgewiesen“. (Medellín 1968).
 
Der Friede, von dem hier die Rede ist, ist ein Geschenk, eine Gabe Gottes. Und nur Gott kann über alle Abgründe hinweg Versöhnung gewähren. Aber er beruft und beauftragt uns, diese Welt gerechter und friedvoller zu machen. Dabei sind der Glaube Jesu und unser Glaube an Jesus den Christus der unbedingte Maßstab. Denn er beginnt seine Sendung mit dem Ruf: „Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe!“ Zeichen der neuen Zeit ist die Tischgemeinschaft mit Ausgestoßenen und mit allen Menschen, die unter die Räuber gefallen sind.
 
 
Tod und Auferstehung Jesu Christi – von Leonardo Herrera, Campesino und Katechet, Bambamarca, Peru
(Leonardo Herrera, Valentín Mejía und José Espíritu waren Weggefährten in meiner Zeit in Bambamarca)
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