„Mensch, wo bist du?“ Das Hungertuch der Misereor-Fastenaktion 2019/20

In Gen 3 wird der „Fall des Menschen“ geschildert. Entgegen seiner ursprünglichen Berufung, einem Leben in Gemeinschaft mit Gott und mit allen Menschen, will er sich selbst an Gottes Stelle setzen. „Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“, sagte die Schlange (Gen 3,5). Und Adam, der Mensch, lässt sich „verführen“. Er macht sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse und Interessen, zum obersten Maßstab. Mehr haben und mehr sein als der Andere ist das Ziel dieser Art von Menschwerdung.

Die Tradition des Hungertuches, früher auch Fastentuch genannt, ist sehr alt. Mit dem Fastentuch wurde ab Aschermittwoch das Bild Jesu Christi, in der Regel das Kreuz, verhüllt. Das Bischöfliche Hilfswerk Misereor hat diese Tradition in Deutschland aufgegriffen. Das aktuelle Hungertuch, gestaltet von Uwe Appold, steht unter dem Leitmotiv „Mensch, wo bist du?“.

An dieser Stelle geht es nicht zuerst um eine detaillierte Bildbeschreibung, vielmehr um zentrale Hinweise für ein besseres biblisch-theologisches Verständnis – als Deutung des Zustandes unserer Erde und des Menschen. Es handelt sich im Original um ein dreidimensionales Werk, was im Bild und auf dem Tuch so aber nicht zu sehen ist. Ein goldener Ring aus Holz dominiert das Bild. Dieser 1 cm dicke Ring befindet sich aber nicht in der Mitte, sondern ist leicht nach links ver-rückt, will heißen, die Harmonie zwischen Mensch, Gott und Natur ist gestört. Der Ring ist verankert auf brauner Erde, Muttererde, die der Künstler mit Sondererlaubnis aus dem Garten Gethsemane mitnehmen durfte, dem Ort, an dem das Leiden Jesu begann. In der Mitte des Rings steht ein Haus, fest „geerdet“, aber unfertig oder beschädigt? – unser gemeinsames Haus. 12 Steine in grellen Farben, gelblich – rot, ungleichmäßig über die Erde verteilt und ebenfalls aus dem Garten Gethsemane, wirken wie Stolpersteine oder wie offene Wunden. Im unteren Teil des Bildes befindet sich links das Zeichen des Kreuzes, zusammen mit einigen bewusst undefinierbaren Schriftzeichen - außer dem Zeichen 8 (unendlich), bewusst senkrecht gestellt. Es zeigt hinauf zur Unendlichkeit Gottes und verweist auf den aufrechten Gang des Menschen. Von dem Kreuz und den genannten Zeichen führt ein nicht sichtbarer Weg von links nach rechts zum Zeichen des Auferstandenen: IX (Iesus Xristus), zu Jesus dem Messias. In dieser Spanne, zwischen Kreuz, Tod und Auferstehung, steht der Mensch, eine Figur mit Schatten am unteren Rand des Bildes. Nach C.G. Jung gelten die Schatten als unbewusste Anteile unseres Selbst, die wir oft unerkannt mit uns schleppen und die auch Ursache von großem Leid sein können. Doch im Lichte der Liebe Gottes ist der Schatten keine unheimliche Bürde mehr, sondern er wird zum Weggefährten auf dem Weg hin zu einem neuen Leben (Auferstehung – Aufstehen!).

In einer Bildbetrachtung des Originals bei dem Vorbereitungstreffen für die Fastenaktion bei Misereor in Aachen am 7./8. Dezember 2018, zusammen mit dem Künstler, waren die einen vor allem von dem tiefen Blau beeindruckt, die anderen zuerst von dem goldenen Ring mit dem unfertigen Haus in der Mitte. Uwe Appold hat einige Hinweise zum Verständnis des Bildes gegeben, wobei er ausdrücklich und mehrfach betont hat, dass jeder Betrachter eigene Vorstellungen haben darf und haben soll. Wörtlich: „Ich wünsche mir, dass die Menschen ihre eigenen Geschichten einbringen in das, was ich gemalt habe.“

Mensch, wo bist du? (Gen 3,9)

In Gen 3 wird der „Fall des Menschen“ geschildert. Entgegen seiner ursprünglichen Berufung, einem Leben in Gemeinschaft mit Gott und mit allen Menschen, will er sich selbst an Gottes Stelle setzen. „Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“, sagte die Schlange (Gen 3,5). Und Adam, der Mensch, lässt sich „verführen“. Er macht sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse und Interessen, zum obersten Maßstab. Mehr haben und mehr sein als der Andere ist das Ziel dieser Art von Menschwerdung. Das Ergebnis ist die Vertreibung aus dem Paradies – Bruch mit Gott und mit der Gemeinschaft aller Kinder Gottes. Die von Gott gewollte Harmonie zwischen Gott, Mensch und Natur ist gestört oder gar zerstört. Wenn aber diese Beziehung gestört ist, dann ist erstrecht die Beziehung zum Nächsten gestört und wird verunmöglicht. Der Mitmensch, der Nächste, ist nicht mehr meine Schwester und mein Bruder, sondern jemand, der mein Leben stört, meine Karriere, meine Pläne, meine Absichten.

Zur Frage Gottes „Mensch, wo bist du?“ gehört auch die zweite Frage Gottes: „Kain, wo ist dein Bruder?“ „Mit dem Traum vom Groß-Sein wie Gott beginnt eine Kette von Fehlern, die eine Kette des Todes ist und dazu führt, dass das Blut unserer Brüder und Schwestern vergossen wird“. (Misereortext zum Hungertuch). Und heute? Wenn wir aus der Perspektive unseres Glaubens in die Welt schauen und lernen, den Schrei der armgemachten und ihrer Lebensgrundlagen beraubten Menschen neu zu hören, ebenso den „Schrei der Mutter Erde“ (Papst Franziskus), dann wird die Geschichte vom Sündenfall zu einer aktuellen Geschichte. Ist es nicht psychologisch verständlich und logisch, dass eine Kultur des „Immer mehr“ und die Ideologie eines zwanghaften und unendlichen Wachstums uns unsensibel werden lässt für die Bedürfnisse des „Nächsten im Straßengraben“? Können wir noch spüren oder erfassen, dass ein derart gestaltetes Leben nicht viel mehr ist als eine Seifenblase, in der wir leben und die letztlich nichts anderes ist als eine schillernde Illusion?

Gott, wo bist du?

„Angesichts der Schreie der Armen und des Sterbens der Natur kommt uns die Gegenfrage in den Sinn: Gott, wo bist du? Dieser Schrei hat sich ebenfalls in die Erde von Gethsemane eingeprägt, der Schweiß und die Angst vor dem Leiden, das am Kreuz enden wird. Jesu Com-Passion, die Leidensweg und Leidenschaft zugleich ist und sich mit der Verheißung auf neues Leben verbindet. Gott ist an einem ganz bestimmten Ort Mensch geworden, ganz am Rand bei den Ausgegrenzten (Phil 2,6-11), den Unterdrückten und Gequälten“ (Pirmin Spiegel, Misereor.)

Gott ist parteiisch – von Beginn der Schöpfung an (Abel), über den Auszug des Volkes Gottes aus der Sklaverei, den Propheten und letztlich und end-gültig in Jesus dem Christus. Denn seine Option ist eindeutig: Die Ersten, die Jesus besuchten und ihn als Messias erkannten, waren die Hirten von Bethlehem, verachtet und ausgestoßen aus der ach so frommen Gesellschaft, der Nächste ist der Mensch, der unter die Räuber gefallen ist und der Maßstab für ein Gott gefälliges Leben ist unser konkretes Verhalten gegenüber den Hungernden, den Fremden und Obdachlosen, den Nackten und den Kranken. Diese Option um der Armen willen und an ihrer Seite hilft uns, neue Wege zu entdecken und sie auch zu gehen. Es kommt letztlich auf den Standort an, von dem aus ich die Welt und meine Mitmenschen betrachte, sie sehe und höre.

Dies würde bedeuten, möglicherweise liebgewordene und über Jahrhunderte gelebte Denkmodelle und Verhaltensweisen zumindest zu hinterfragen. Das Hungertuch (wie fast alle Hungertücher der vergangenen Jahre) weist uns ja darauf hin, dass etwas aus den Fugen geraten ist. Es ist nicht, wie es sein könnte und es weist uns auf den Weg hin, den wir gehen können. Anhand zweier Beispiele aus Theologie (Bibelexegese) und Wirtschaftsweise (Gesellschaft, westliche Kultur) kann deutlich machen, wenn an dieser Stelle auch nur andeutungsweise, was Umkehr bedeuten könnte

1.) Zur Interpretation des Schöpfungsberichts: Die bisher verstandene Bedeutung - Beherrschung der Natur - führt zur Zerstörung. Sie ist zudem falsch, da sie die ursprüngliche Aussage falsch verstanden hat. Sie wurde vom griech.- europäischen Denkmodell her verstanden und entsprechend übersetzt und gedeutet. Das von altgriechisch-römischer Philosophie geprägte europäische Denkmodell (Narrativ, Kosmovision) übersetzt z.B. das hebräische Schlüsselwort „kabash“ entsprechend der eigenen Denkweise mit unterjochen, erobern. Und diese Deutung wurde dann durch die von Europa ausgehende Kolonialisierung globalisiert. Im hebräischen Denken - und damit in korrekter Übersetzung - bedeutet „kabash“ zum „Bereich Gottes gehörend“, allgemeiner: Die Schöpfung Gottes gehört nicht uns, den Menschen. Wir können nicht über sie verfügen, sie ist uns bestenfalls nur geliehen. Und das bedeutet im biblischen Denken: Wir müssen sie im Sinne des Eigentümers (Gott) gestalten: Im Dienst des Mitmenschen, besonders der Ausgegrenzten, in Beziehung mit den anderen Geschöpfen. Denn die Güter der Erde sind für alle Menschen bestimmt und der Zugang zu den Gütern der Erde (Wasser, Land, Früchte...) muss allen Menschen offen stehen, denn sie dienen dazu, dass alle Menschen in Würde leben können, als Kinder Gottes, als sein Ebenbild. Das schließt das Leben zukünftiger Generationen mit ein.

2.) Wir scheinen vor einem Epochenwechsel globalen Ausmaßes zu stehen: Die Gier, die man über Jahrtausende hinweg versuchte, ansatzweise in den Griff zu bekommen, wurde zur Grundlage allen Wirtschaftens gemacht. Das „Immer mehr, jeder für sich und einer gegen alle, wer etwas hat, der hat Recht und wer nichts hat, hat bestenfalls Pech gehabt oder ist selbst schuld“ wurde spätestens seit dem 18. Jh. zur Grundregel unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens erklärt – scheinbar ohne Alternative. Ihr Gott ist das Geld und die Gier nach immer mehr Besitz und Macht ist die weltweit herrschende Religion. Die bestehende Weltordnung basiert auf dem Recht des Stärkeren und der absoluten Vorherrschaft des Kapitals (siehe auch Gen 3). Doch dieses Denkmodell wird auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse u.a. aus dem Bereich der Natur, aber selbst auch von immer mehr Wirtschaftswissenschaftlern in Frage gestellt. Selbst bisher gläubige „Neoliberale“ betätigen, dass unser vorrangig auf der Vermehrung von Kapital beruhendes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ein stetiges Wachstum unbedingt voraussetzt. Doch in einer begrenzten Welt und zudem bei zunehmend abnehmenden Ressourcen ist dies unmöglich. Es gibt kein „Weiter so!“ Nicht nur der Papst, auch viele Stellungnahmen kirchlicher Organisationen, vor allem der Hilfswerke und viele Basisorganisationen weltweit bestätigen dies. Und es ist vor allem der Jugend, die nun ebenfalls auf Straße geht, denn es geht um ihre Zukunft, die bedrohter ist je zuvor. Etwas moderater formuliert dies der Weltbiodiversitätsrat in seinem jüngsten Bericht (5. Mai 2019): „Die Belege sind unbestreitbar: Die Zerstörung der Artenvielfalt und der Ökosysteme hat ein Niveau erreicht, das unser Wohlergehen mindestens genauso bedroht wie der durch den Menschen verursachte Klimawandel. Wir erodieren global die eigentliche Basis unserer Volkswirtschaften, nämlich unsere Lebensgrundlagen, Nahrungsmittelsicherheit und Lebensqualität. Die Menschheit lässt in rasendem Tempo die Natur von der Erde verschwinden. Dafür gibt es inzwischen überwältigende Beweise, die ein unheilvolles Bild zeichneten. Die Weltgemeinschaft muss sich dringend abwenden von wirtschaftlichem Wachstum als zentralem Ziel, hin zu nachhaltigeren Systemen.“  

Unsere letzte Chance!? Je größer die sich abzeichnende Katastrophe, desto größer die Hoffnung bzw. der Mut für eine Wende, biblisch gesprochen: für eine radikale Umkehr? Werden diejenigen, die derzeit am meisten von der bestehenden Weltordnung profitieren angesichts der Bedrohungen noch radikaler und gewalttätiger werden (Motto: „Kampf um die letzten Ressourcen“)? Wir als Christen – als Einzelne, Gemeinde oder weltweite Kirche – haben die Verheißung einer besseren Erde und das „Leitbild“ einer Harmonie zwischen Gott, Natur und Mensch. „Unsere Umkehr wird die Menschen an den Rändern in das Zentrum unseren Handelns rücken um so gemeinsam an dem „einen Haus“ zu bauen. Ein neues Haus, ein neuer Himmel und eine neue Erde mögen Wirklichkeit werden! Eine neue Solidarität, ein neues Verständnis von Fortschritt, der Ausgegrenzte im Zentrum sieht und einen Platz für den ganz Anderen, für Gott, offenlässt – damit diese Frage uns immer neu anspornt: Mensch, wo bist du?“ 

Beitrag für "Der geteilte Mantel" (2019), dem weltkirchlichen Magazin der Diözese Rottenburg-Stuttgart.