Von Reinheit und Unreinheit – Jesus und das Gesetz (Mk 7, 1-23)

Einleitung

Die Exegese von Mk 7, 1-23 scheint auf die Schnelle (und traditionell) betrachtet einfach. Denn es liegt auf der Hand und ist einsichtig: Nicht durch äußerliche Verschmutzung wie z.B. ungewaschene Hände und Gefäße wird der Mensch unrein oder fällt gar in Ungnade, sondern durch das, was der Mensch tut bzw. wie er sich anderen Menschen gegenüber verhält. Jesus stellt sich damit auch in die Reihe der großen Propheten und zitiert Jesaja: „Es ist sinnlos, wie sie mich verehren; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen“. Jesus folgert daraus: „Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen“ (Mk 7, 8).

Dagegen scheinen diese Worte Jesu (wie auch der gesamte Textabschnitt) wenig bis gar nichts mit dem Thema „Nachhaltigkeit“ zu tun. Abgesehen davon, dass sich fast alle große Unternehmen in ihren Werbetexten als „Weltmeister in Sachen Nachhaltigkeit“ präsentieren, während sie sich in der Praxis als schlimme Umweltsünder erweisen, scheint es mir sinnvoll, das Thema „Nachhaltigkeit“ und auch die genannte Bibelstelle von einer anderen - theologischen - Perspektive aus zu beleuchten und zu verstehen. These: Gottes Gebot ist beständig (nachhaltig), menschliche Satzungen sind willkürlich.

Gottesgebot und menschliche Satzungen

Jesus unterscheidet zwischen einem „Gottesgebot“ und menschlichen Satzungen. Aber eine Unterscheidung zwischen göttlichen und menschlichen Geboten ist freilich mehr als problematisch. Denn wer unterscheidet oder bestimmt, was göttlich oder menschlich ist? In der christlichen Tradition sind das die von Gott ausgewählten Führer des Volkes Gottes, vom Hl. Geist auserwählt, berufen und erleuchtet. Diese Führer legen fest, was das Volk zu glauben hat und was nicht. Das individuelle,  ewige Heil bzw. die eigene Erlösung hängen davon ab, ob und wie ich mich an diese Vorgaben halte oder nicht. Dies wird so auch in anderen Religionen geglaubt, wenn auch mit verschiedenen Begrifflichkeiten. Dies ist sogar eines der Wesensmerkmale von Religion überhaupt. Eine solche Religion hat sich einerseits als große Hilfe in schweren Zeiten erwiesen, andererseits aber auch als ein wesentliches Herrschaftsinstrument, das letztlich ein bestimmtes, von Menschen so eingerichtetes Gesellschaftssystem rechtfertigt und stabilisiert hat.

So wie schon die Propheten, so sprengt auch Jesus die bisherigen Vorstellungen von Religion. Denn das auserwählte Volk Gottes (wie auch wir als Kirche) ist immer wieder vom Weg abgekommen. Es erschafft sich seine eigenen Götter und tötet die Propheten, weil diese den Willen Gottes verkünden. Jesus bringt nun kein neues Gesetz oder gründet gar eine neue Religion, im Gegenteil. Was bisher für das Volk Gottes so wichtig erschien und was Schriftgelehrte und Hohe Priester als absolut notwendig für die Erlangung des ewigen Heils verkündeten, z.B. kultische Reinheit, Gebetsvorschriften, Opfergaben, Tempelsteuern, usw., zählt nicht. Das alles muss nicht falsch sein, ist aber für Jesus sekundär. Wichtig ist allein Gottes- und Nächstenliebe. Liebe verlangt nach Solidarität. Solidarität und Liebe aber verlangen, dass ich in die Situation derer eintrete, mit denen ich mich solidarisiere.Das ist der tiefere Sinn aller Gebote. Jesus zeigt dann, was konkret damit gemeint ist. Nicht nur in dem abschließenden Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25, 35ff, „Denn ich war hungrig…“). In fast allen seinen Gleichnissen geht es ihm um eine radikale Umkehr – hin zum (notleidenden) Nächsten und für ein Leben in Fülle für alle, insbesondere für diejenigen, denen man diese Fülle vorenthält oder gar raubt. Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter wird deutlich: Von Menschen gemachte Vorschriften führen an dem Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, vorbei. Denn ihr Ziel ist der „Tempel“. Priester und Levit gehen vorbei, sie „spüren“ nichts. Doch der „ungläubige, unreine“ Samariter hat ein Herz…!

Heute liegt nicht nur ein Einzelner ausgeraubt im Straßengraben, im Dreck, sondern ganze Völker sind unter die Räuber und Mörder gefallen - und wir schauen zu oder gehen vorbei. Aber wir beten vielleicht für die Opfer. Ein derartiges Gebet aber wäre eine Beleidigung Gottes. Dies gilt umso mehr, wenn wir selbst Menschen in den Hungertod treiben, weil wir immer mehr und alles billiger haben wollen. Bischof Fragoso aus Brasilien sagt dazu: „Unsere Gottesdienste und Gebete können Atheismus sein, wenn wir sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber gleichgültig bleiben. Wir können mit der Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie Atheismus verkünden, wenn wir nicht für mehr soziale Gerechtigkeit einstehen. Die uns im Gotteshaus versammelt sehen, sehen sie uns auch Hand anlegen im Kampf um mehr Gerechtigkeit, damit alle unsere Brüder und Schwestern frei werden und in Würde leben können?“

In der Sackgasse – innerkirchlich und global?

Das, wogegen sich Jesus auflehnte, das er gar verwarf und das ihm folgerichtig den Tod brachte, ist wieder auferstanden und wurde über Jahrhunderte hinweg gelehrt. Ist es auch noch heute aktuell und der „Normalfall“? Das „Gesetz“ und seine Einhaltung werden immer noch allzu oft als Heilsgarantie verstanden. So wurde es, auch heute in modernerer Form, lange gepredigt. Das ist auch verständlich. Es ist verlässlich, man weiß, an was man sich zu halten hat, gibt Orientierung und Sicherheit. Seit fast 2.000 (oder 3.000) Jahren weist es sichere Wege zu Gott, Erlösung und ewigem Heil. Und noch mehr: Kommen wir als Christen nicht schon als „Umgekehrte“ auf die Welt? Warum und wohin denn noch umkehren? Sind wir nicht schon längst erlöst, schon vor unserer Zeit? Wir sind zwar „in Sünde geboren“ aber durch den Opfertod Jesu erlöst - ohne unser Zutun (Luther). Egal, was uns geschieht, wir sind schon längst in Gotteshand. Und diesen Glauben sollen wir aufgeben? Unmöglich!

Und immer wieder und noch ist die Versuchung da, menschliches Machwerk als göttliches Gebot zu erklären und Gottes Gebot (siehe oben) preis zu geben. Historisch bedingte Gegebenheiten werden wie z.B. die griechische Philosophie (Josef Ratzinger: Ohne diese kein Zugang zur Botschaft Jesu), bestimmte Strukturen und Organisationsformen zu unveränderbaren weil göttlichen Ordnungen erklärt (Johannes Paul II.: Diskussionsverbot zu Frauenordination und Zölibat, oder Kardinal Wetter: „Wir würden ja gerne die Zulassungsbedingen für das Priestertum ändern, aber selbst wir haben nicht die Macht, diese göttlichen Gebote aufzuheben“). Auch die seit über 40 Jahren andauernden und ergebnislosen Diskussionen um Gemeinde- und Strukturreformen, dienen eher dazu, das Ende des bisher so vertrauten Systems von Heilsgewissheit und Herrschaft künstlich hinaus zu schieben. Es gilt weiterhin der Vorrang des Gesetzes vor dem (leidenden) Menschen – so hat es zumindest den Anschein, und manche gutwillige Menschen innerhalb des Systems möchten anders… Diese Kirche, so wie sie sich jetzt präsentiert – ob katholisch oder evangelisch – scheint gefangen zu sein in ihrem selbst geschaffenen „Goldenen Käfig“. Dies ist alles andere als „nachhaltig“, es macht unfrei. 

Befreiende Alternative

Was meint also Jesus mit „Gottes Gebot“? : Seine Botschaft und feste Überzeugung, dass mit ihm eine neue Zeit beginnen wird. Diese neue Zeit, die mit ihm beginnt und die er seinen Jüngerinnen und Jüngern aufgetragen hat, wird eine völlig andere soziale und gesellschaftspolitische Werteordnung haben müssen. Oder umgekehrt gesagt: Die herrschenden Verhältnisse – Gewalt, Unterdrückung,  Verelendung – sind unvereinbar mit dem Kommen des Reiches Gottes. Zeichen der neuen Zeit sind u.a.: Brotteilen, Barmherzigkeit, Vergebung, Austreiben unserer „Dämonen“, Tischgemeinschaften mit Ausgeschlossenen, die Seligpreisungen, die sieben Bitten des Vater Unser, „Blinde werden sehen und Taube werden hören“. Das bedeutet: Jesus betrachtet und deutet die reale Welt aus der Perspektive der Hungernden, der Ausgegrenzten, der unter die Räuber Gefallenen…

Was bedeutet dies alles heute - zumal in Zeiten eines zunehmenden Fundamentalismus, wachsender Kluft zwischen arm und reich, Zerstörung des Planeten, eines Wachstums- und Machbarkeitswahns? Eigentlich wissen wir, aber verdrängen es oft: So kann es nicht weitergehen! Denn längst sind die planetarischen Grenzen erreicht. Auf einer begrenzten Erde ist unbegrenztes Wachstum nicht möglich - eine Binsenwahrheit. Dennoch wird weiterhin auf Wachstum gesetzt. Selbst eingefleischte Kapitalisten bekennen, dass Kapitalismus ohne stetiges Wachstum (Produktion, Konsum) nicht funktionieren kann. Die Klimakatastrophe ist bereits voll im Gange, dennoch gibt es – gerade auch in Deutschland – kein wirkliches Umdenken, nur Kosmetik. Die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Auch die innigsten Verfechter dieser „alternativlosen“ Weltordnung ahnen vielleicht, dass dies ein schlimmes Ende haben kann. Und bevor die Party zu Ende geht, stürzt man sich umso heftiger auf die „letzten Ressourcen“. Wie Geier fallen Konzerne in die letzten Winkel der Erde ein, um noch zu holen, solange es noch etwas zu holen gibt: „Après nous le déluge!“

Wir haben aber eine Wahl: Eine Umkehr hin zu einer neuen „Sitzordnung“, einer Tischgemeinschaft im Geiste Jesu, in der die bisher Ausgegrenzten einen Ehrenplatz haben werden und in der die Güter von „Mutter Erde“ allen ihren Kindern in ausreichendem Maße zugutekommt. Unsere Aufgabe ist es, immer menschlicher bzw. immer göttlicher zu werden. Und weil Gott Mensch geworden ist, begegnen wir ihm in der Geschichte der Menschen. Konkret: Wir erfahren ihn in der Gemeinschaft mit den Opfern der Geschichte, den in Armut und Elend gehaltenen Menschen, den Unterdrückten, den Verlassenen und Ausgestoßenen – nicht aber in Gemeinschaft mit den Pharisäern und Hohen Priestern, den so genannten Anständigen, den Gesetzeslehrern und Sprücheklopfern und den gesellschaftlichen Oberklassen. Denn all diese haben noch nicht einmal gemerkt, dass Gott in ihrer Nähe Mensch geworden ist, genauso wie sie auch nicht gesehen haben, dass Jesus inmitten der „Hirten von Bethlehem“ zur Welt kam. Sie sehen und sie hören nichts, weil sie sich selbst zum Maßstab machen. Und daher sehen sie auch nicht den Menschen im Straßengraben. Gott ist Mensch geworden und wie die brasilianischen Bischöfe bereits 1972 in einem gemeinsamen Hirtenwort sagten: „Indem Gott Mensch geworden ist, ist in Christus der Mensch, vorrangig der arm gemachte Mensch, zum Maßstab aller Dinge geworden“.

Willi Knecht

03. Juli 2017, als Beitrag für www.nachhaltig-predigen.de  (für das Jahr 2018)