Kirchenreform? (2016)

Der Zerfall vieler Gemeinden schreitet in dramatischer Weise voran (dazu mehr an anderer Stelle). Die Kirchenleitungen intensivieren diesen Prozess durch die systematische Bildung von Großgemeinden, die den dramatischen Priestermangel kaschieren solle. Damit treiben sie den Zusammenbruch der klassischen Pastoral und damit auch die Kontrolle der Gläubigen durch den Klerus voran. Die wenigen Aktiven arbeiten ehrenamtlich am Limit. Zudem werden sie mit bürokratischen Vorgeben und scheindemokratischen Gremien überladen. Ihnen obliegt die Sorge für den Erhalt der noch vorhandenen, weit überdimensionierten Infrastruktur (Renovierung der Gemeindehäuser, Kindergärten, Orgeln, Kirchtürmen, usw., usw.). Man braucht eben das Kirchenvolk für die Erledigung vieler Dinge. Man spricht zunehmend von der Bedeutung des Ehrenamtes und dessen Wertschätzung und drängt gleichzeitig die immer weniger werdenden Ehrenamtlichen noch mehr an die Ränder als zuvor.Ist diese real existierende, deutsche, Kirche zur Umkehr überhaupt (noch) fähig und daher fähig, sich radikal zu erneuern?  

Zwei konkrete Beispiele aus den letzten Monaten:

a) Aschermittwoch: In einem Gespräch mit drei sehr engagierten Frauen (50 – 65 Jahre), Mitglieder im Kirchengemeinderat einer Ulmer Gemeinde, in verschiedenen Ausschüssen und sozial engagiert, kamen wir auf die „Reformen“ des neuen Pfarrers zu sprechen. Sie beklagten sich, dass nun (u.a.) nicht mehr in allen drei bis vor kurzem selbstständigen Kirchengemeinden ein Gottesdienst an Aschermittwoch gefeiert würde. „Das Kreuzzeichen mit der Asche auf die Stirn sei doch ein so schöner Brauch!“ Traditionell besprengt der Priester die Asche nach dem Segensgebet mit Weihwasser, legt sie denen, die vor ihn treten auf und spricht jeweils: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Ich bestätigte sie: „Stimmt, wenn euch das so wichtig ist, dann bereitet doch eine schöne Feier vor, lädt die Gemeinde ein, lest das Evangelium, sprecht darüber, segnet die Asche…“. Sie schauten mich dann nur noch entgeistert an: „Das geht doch nicht!“  Damit auch gemeint: das können wir nicht, das dürfen wir nicht, das kann nur  der Pfarrer! Und der Pfarrer gefällt sich in seiner Rolle. Was sollte er denn noch tun, wenn plötzlich die Laien selbst…..? Er allein ist für die Liturgie zuständig und selbst der Liturgieausschuss kann bestenfalls über den Blumenschmuck in der Kirche diskutieren. Was er dann auch sehr beharrlich tut.

b) Vor Weihnachten baten einige ältere Frauen in meiner Gemeinde, nach der Krippenfeier an Hl Abend (17.00 Uhr), die Hl.  Kommunion - im entsprechenden Rahmen und nach der Kinder-Krippenfeier - empfangen zu dürfen. Denn dies wäre für sie die einzige Möglichkeit, an Hl Abend zur Kommunion zu gehen. Das war ihnen sehr wichtig. Unbedacht wurde dies dann am Sonntag davor so auch verkündet. Dies hat jemand anonym - eben ein treuer Katholik - an die Diözesanleitung in Rottenburg gemeldet. Diese reagierte sofort und hat dieses Vorhaben strikt verboten. „Eine Krippenfeier bildet nicht den würdigen Rahmen für den Empfang der Hl. Eucharistie. Zudem besteht die Gefahr der Verwechslung.“  Die Kirchengemeinde gehorchte ohne Widerspruch – „man will schließlich ausgerechnet zu Weihnachten keinen zusätzlichen Ärger“. Und die Frauen wurden vertröstet und blieben ohne Kommunion.

Nun ließe sich über die Situation in unseren Kirchengemeinden vieles sagen. Ganze Bibliotheken ließen sich mit Büchern dazu füllen, ebenso mit Vorschlägen aller Art. Seit Anfang 1981 bin ich in Kirchengemeinderäten engagiert, von 2005 – 2015 u.a. auch im Leitungsteam der Gesamtkirchengemeinde Ulm. Drei diözesanweite „Gemeindeerneuerungen“ habe ich erlebt, aktuell das neue Programm „Kirche vor Ort“. Dies wird mit großem finanziellen Aufwand und noch mehr Hauptamtlichen in den Stabsstellen in der gesamten Diözese forciert. Der Bischof: „Wir haben drei Jahre lang zugehört (Dialogprozess) und jetzt setzen wird das um und starten durch!“

Doch wie es in den Kirchengemeinden wirklich aussieht, das weiß man nicht, will man nicht, kann man nicht wissen! Erstrecht werden nicht die wahren Ursachen des Zerfalls der Gemeinden und des Glaubens analysiert.

Der Zerfall vieler Gemeinden schreitet in dramatischer Weise voran (dazu mehr an anderer Stelle). Die Kirchenleitungen intensivieren diesen Prozess durch die systematische Bildung von Großgemeinden, die den dramatischen Priestermangel kaschieren solle. Damit treiben sie den Zusammenbruch der klassischen Pastoral und damit auch die Kontrolle der Gläubigen durch den Klerus voran. Die wenigen Aktiven arbeiten ehrenamtlich am Limit. Zudem werden sie mit bürokratischen Vorgeben und scheindemokratischen Gremien überladen. Ihnen obliegt die Sorge für den Erhalt der noch vorhandenen, weit überdimensionierten Infrastruktur (Renovierung der Gemeindehäuser, Kindergärten, Orgeln, Kirchtürmen, usw., usw.). Man braucht eben das Kirchenvolk für die Erledigung vieler Dinge. Man spricht zunehmend von der Bedeutung des Ehrenamtes und dessen Wertschätzung und drängt gleichzeitig die immer weniger werden Ehrenamtlichen noch mehr an die Ränder als zuvor.

Anmerkung zum Thema „Gemeindeerneuerung 1988" in St. Georg Ulm, (als Brief der Gemeinde an  Bischof und HA Pastoral)

"In der Gemeinde St. Georg (KGR, Pastoralteam, Ausschüsse etc.) wurde in den letzten Jahren das Bedürfnis nach einer lebendigen Gemeinde, Vertiefung des Glaubens und der Besinnung auf das Wesentliche immer stärker. Es ging und geht darum, wie in einer zunehmend ungläubigen Umgebung, Vereinzelung und Hoffnungslosigkeit neue Formen und Strukturen des gemeinsam gelebten Glaubens gefunden werden können. Neue Art des Zusammenlebens, ‚Kontrastgesellschaft‘ und Gemeinschaftsbildung über die Kirchenmauern hinaus sind dafür einige Stichpunkte. Voraussetzung dafür sind eine Abkehr von kirchlicher Service - und Konsumhaltung, persönliches Glaubenszeugnis, prophetische Zeichen, kurz: entschiedenes Christentum. Eine Anregung für die Teilnahme an dem Programm "Gemeindeerneuerung" war und ist die Partnerschaft mit einer wahrhaft lebendigen Gemeinde in Peru, der wir viele Impulse verdanken. 

Dies ist umso wichtiger in einer Welt, in der wegen des herrschenden Götzendienstes das Elend weltweit immer größer wird. Das Ziel ist eine Gemeinde (Gemeinschaft) als Heimat für alle Suchenden, als Ort der Hoffnung, als Licht auf dem Berg, als Sauerteig innerhalb der Gesellschaft. Um dieses angestrebte Ziel nicht aus den Augen zu verlieren (ein Ziel, das die Gruppen in unserer Gemeinde so geäußert haben, wenn auch immer in dem Bewusstsein, dass dieses Ziel immer größer sein wird als dessen mögliche Realisierung), ist folgendes zu beachten:

1. Gemeindeerneuerung muss von der Gemeinde selbst ausgehen. Gemeindespezifische Anliegen müssen im Vordergrund stehen und dürfen nicht verdrängt werden. Die Erfahrungen anderer Gemeinden sind hilfreich, auswärtige Berater können zu Rate gezogen werden.

2. Die Gemeindeerneuerung selbst sollte auf dem bisherigen Stand der gemeindeinternen Diskussion aufbauen und die Gesamtgemeinde an diesem Prozess der Glaubensvertiefung teilhaben lassen. Keinesfalls darf weit hinter den bisherigen Stand zurückgefallen werden (auch nicht hinter den Stand der eigenen Diözesansynode 1985).

3. Alle Teilnehmer müssen ernst genommen werden (ernst nehmen heißt, dass man ihnen etwas zu - mutet). Teilnehmer und Gemeinde müssen Subjekt sein und nicht Objekte pastoraler Feldversuche. Deshalb ist auch ein allzu kindliches Niveau und eine vernebelnde (esoterische) Sprache zu vermeiden.

4. Die Umwelt (Gesellschaft, Wirtschaft etc.), in der die Menschen leben, darf nicht ausgeklammert werden. Es genügt nicht über Symptome zu reden (z. B. Sprachlosigkeit, Einsamkeit, Spaltung der Gesellschaft), sondern deren Ursachen sind aufzudecken. Es geht um eine Deutung der Welt im Lichte des Glaubens.

5. Reine Selbstbespiegelung oder ‚Heilung der kranken Seele’ ist kein Spezifikum der christlichen Botschaft. Subjektwerdung heißt nicht zuerst religiöse Selbstbefriedigung, sondern Übernahme von Verantwortung, Zeugnis ablegen in dieser Welt und Nachfolge Jesu.

6. Eine unverbindliche und beliebige Bibelauslegung, erst recht eine sachlich falsche Bibelauslegung, führt zu einem pflegeleichten, total verbürgerlichten und angepassten Christentum ohne wirkliche Konsequenzen (und auch umgekehrt). Gerade eine solche Bibelauslegung wird aber von Rom befördert.

7. Die Bibel lehrt uns, die Welt und unser Leben mit neuen Augen zu sehen (neue Brille). Jesus lehrt uns zu sehen mit den Augen der Ohnmächtigen, der Armen, der Außenseiter. Ohne die prophetischen Dimensionen der Frohen Botschaft (Anklage und Verkündigung), bleiben wir blind oder kreisen nur um uns selbst.

8. Als Wichtigstes: Die christologische Komponente darf nicht fehlen: eine Religion ohne Jesus den Christus (und ohne die, mit denen er sich identifiziert), ohne seine Praxis, sein Leben, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung, ist eben nicht christlich. Ein bloß (griechisch) philosophisches Konstrukt gibt kein Leben.

9. Die ekklesiologische Komponente darf nicht fehlen. Ein Ausklammern der Weltkirche - und damit ein Ausgrenzen der Armen - ist sektiererisch. Kirche ist Volk Gottes auf dem Weg in die Befreiung, auf dem Weg vom Tod ("übertünchte Gräber") zu neuem Leben, ist Gemeinde auf der Suche nach neuen Lebensformen angesichts der Realitäten dieser Welt wie Hunger durch Ungerechtigkeit, Zerstörung der Schöpfung usw. Eine solidarische Gemeinde klagt die Ursachen des Elends an und ergreift Partei für die Opfer.

10. Eine Religion ohne Forderungen, d.h. ohne Umkehr und Verkündigung der Frohen Botschaft von der nun anbrechenden Herrschaft Gottes aus der Perspektive der Opfer, ist nicht die Botschaft, die Jesus verkündet. Die Gemeinde hat die Aufgabe, lebendiges Zeichen dieser beginnenden Herrschaft Gottes in der Welt zu sein.