„Gott oder das Gold – an wem (oder was) hängt dein Herz?“
......Nach längeren Verhandlungen (und Zweifeln) ließen sie sich dann auf das Angebot („Vermittlung“) des Bischofs ein. Dieser hatte angeboten, dafür zu sorgen, dass Vertreter der Minengesellschaft bereit seien, mit einer Delegation der Campesinos zu sprechen. Das Treffen sollte im Bischofspalast in Cajamarca stattfinden, mit ihm als Vermittler. Als am nächsten Morgen wie verabredet eine Delegation von 10 gewählten Vertretern der Campesinos im Bischofshaus ankam, warteten dort der Staatsanwalt und Polizisten, die die Campesinos sofort verhafteten und abführten. Sie wurden verprügelt, einige waren danach schwerverletzt (sie blieben ohne Behandlung) und Monate später wurden sie zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. Noch am selbst Tag zogen einige zehntausend Campesinos in die Stadt Cajamarca und hielten die Plaza de Armas über 6 Tage lang besetzt (3.- 9.3.2001). Einige Frauen ketteten sich an die vergitterten Tore und Fenster des Bischofspalastes und über dem Eingang wurde ein riesiges Poster angebracht mit dem Satz:
‚Herr Bischof, verehre den wahren Gott - nicht das Gold von Yanacocha’!
Willi Knecht hält heute erste Kanzelrede (Zeitungsartikel vom 28. November 2013)
Die erste von insgesamt vier ökumenischen Kanzelreden im Advent 2013 wird heute um 19.30 von Willi Knecht gehalten. „Siehe, ich mache den Himmel und die Erde neu.“ Mit diesem Spruch aus der Bibel (Jesaja 65,17) sind die Kanzelreden 2013 überschrieben. Die Fragen, um sie diesmal kreisen: Wie können wir solidarisch mit den Armen und Ausgegrenzten sein? Wie lässt sich die Hilfslosigkeit angesichts von Ungerechtigkeit in unserem Land und weltweit überwinden und die Hoffnung auf Gottes neuen Himmel und neue Erde wachhalten? Die Kanzelredner suchen nach Antworten und wollen Mut machen, konkrete Schritte in eine neuere Welt zu wagen.
Den Anfang macht heute der katholische Theologe und Buchautor Willi Knecht aus Ulm. Er lebte und arbeitete lange Zeit unter Campesinos, der armen und ausgegrenzten Landbevölkerung Perus. „Die grundlegende Entdeckung der Campesinos ist, dass Gott mitten unter ihnen geboren wurde. Jesus ist für sie die Brücke zwischen Himmel und Erde, der Weg in eine gerechtere Welt im Geiste Jesu. Aufgrund ihres Glaubens setzen sie sich für eine Gesellschaft ein, in der jeder Mensch in Würde leben kann“, sagt er.
Knecht ist ein Vertreter der Theologie der Befreiung*, die in Lateinamerika entstand. Sie denkt nach über das Evangelium und die Gesellschaft. Wenn in der Bibel von den „Armen“ die Rede ist, so geht es zuerst um die Menschen, denen man all das, was für ein Leben in Würde vorenthält oder ihnen gar geraubt hat. So wie Jesu sich für die Benachteiligten seiner Zeit, die Ausgegrenzten („Aussätzigen“) und die unter die Räuber Gefallenen einsetzte, müsse die Kirche als Gemeinschaft der Jüngerinnen Jesu auch für die Unterdrückten von heute Partei ergreifen und an ihrer Befreiung mitwirken.
Eine der herausragenden Figuren für die Befreiungstheologie* war Oscar Romero, von 1977 – 1980 Erzbischof in El Salvador. In seinen Predigten ergriff er für die Unterdrückten Partei, prangerte in deutlichen Worten Mord und Folter an und nannte Namen von Verantwortlichen. Am 24. März 1980 erhielt er die Quittung für seine Unerschrockenheit: Während eines Gottesdienstes, am Altar stehend, wurde er von Todesschwadronen ermordet. Bis heute wird er von der Bevölkerung El Salvadors wie ein Heiliger verehrt.
Knechts Kanzelrede, die er im Rahmen eines Gottesdienstes hält, trägt die Überschrift: „Gott oder das Gold – an wem (oder was) hängt dein Herz?“ danach sind alle Interessanten zur Diskussion eingeladen. Der Diakonieausschuss des Kirchenkreises bietet Tee und Glühwein an. Die zweite von vier Kanzelreden wird am 4. Dezember in der Christuskirche Oberhof gehalten. Und zwar von Christian Herwartz, einem Jesuiten aus Berlin.
* Oscar Romero verstand sich nicht explizit als Befreiungstheologe. Auch ich verstehe mich nicht zuerst als Befreiungstheologe, sondern als Jünger Jesu im Dienste (Praxis) der mit Jesus beginnenden Herrschaft Gottes.
Das Evangelium zum Gottesdienst (aus: Vamos Caminando, S. 189)
„In der griechischen Sprache des Neuen Testaments heißt Gute Nachricht „Evangelium“. Als Jesus erstmals öffentlich auftrat, machte er deutlich, worin seine Gute Nachricht bestand:
Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war. Nach seiner Gewohnheit ging er am Sabbat in den Tempel und stand auf, um vorzulesen. Es wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Er öffnete es und fand die Stelle, wo geschrieben stand: Der Geist des Herrn ruht auf mir. Er hat mich gesalbt und gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen ihre Befreiung anzukünden, den Blinden die Augen zu öffnen, Unterdrückten die Freiheit zu geben und dass nun die Zeit des Herrn gekommen ist. Dann schloss er das Buch, gab es dem Helfer zurück und setzte sich. Als alle auf seine Worte warteten, sagte er: In diesem Moment erfüllen sich die Worte der Schrift. Ihr seid Zeugen.
Unsere Bischöfe sagen uns, dass Gott Jesus gesandt hat, um uns von allen Versklavungen zu befreien. Die Sünde stürzt uns in Unwissenheit, in Hunger, Elend und Unterdrückung. In einem Wort: Gott ist Mensch geworden, einer von uns, um uns von der Ungerechtigkeit und dem Hass zu befreien, die ihre Wurzeln in unserem Egoismus haben (siehe Dokumente von Medellín, Gerechtigkeit, Kap 1). Jesus ist also nicht bloß gesandt, um uns von der Sünde zu befreien, sondern von allem Bösen, das aus der Sünde hervorgeht.“
1. Propheten
Die Zuhörer Jesu in seinem Heimatdorf Nazareth dachten wohl an eine übliche Schriftlesung im Rahmen üblichen einer kultischen Feier. Wie wir (?) kannten sie die Schriftstellen nur allzu gut. Aber sie hatten sie wohl nie wirklich verstanden, erstrecht nicht, dass diese Texte etwas mit ihrem Leben zu tun haben und für hier und heute Geltung beanspruchen. Als Jesus sagt, dass das, was die Propheten verkündet haben, jetzt, hier und heute, geschieht und sich erfüllt, packte seine Zuhörer die Wut und sie wollten Jesus folgerichtig den Abgrund hinunterstürzen. Zu unerhört ist das, was Jesus verkündet: Jetzt beginnt eine neue Zeit, in der allein Gott, d. h. Liebe und Gerechtigkeit herrschen werden.
Kennzeichen der biblischen Propheten ist, dass sie a) die bestehenden ungerechten Verhältnisse als Folge des Götzendienstes denunzieren und daher als völlig unvereinbar mit dem Willen Gottes. Und b), dass mit Jesus eine Zeit beginnt, in der all das, was die Propheten (siehe die Worte von Jesaja, dem heutigen Evangelium nach Lukas 4, 16-21) im Namen Gottes gesagt haben, Wirklichkeit werden soll. Das ist DIE Frohe Botschaft, nicht mehr und nicht weniger. Das ist auch der Glaube Jesu selbst und Glaube an Jesus bedeutet, mit Jesus zusammen diesen Glauben zu teilen und obendrein zu glauben, dass Jesus dieser von Gott verheißene Messias ist, mit dem Gott die Menschen wieder zusammenführen (versöhnen) will.
1. Beispiel: Während meines Theologiestudiums in Frankfurt-St. Georgen (SJ) planten wir 1973 als eine Gruppe von Theologiestudenten (mehrheitlich Studenten bzw. Doktoranden aus Lateinamerika) zusammen mit Würzburger Theologiestudenten, auf der Fronleichnamsprozession in Würzburg die üblichen geistlichen und weltlichen Würdenträgern in der ersten Reihe (die u.a. auch den „Himmel“ tragen durften) mit den Worten der Propheten zu konfrontieren. Auf etwa 20 große Pappschilder schrieben wir Originalzitate der Propheten, hauptsächlich von Amos und führten sie verdeckt mit. An einer strategisch geeigneten Stelle „tanzten“ wir aus der Reihe und hoben – wortlos und friedlich – die Prophetenworte in die Höhe. Ein Tumult entstand, die Polizei schritt ein und wir wurden abgeführt und verhört. Selbst Bischof und Priester erkannten nicht die Zitate der Propheten, sie gingen vielmehr von einer gottlosen (kommunistischen) Provokation aus, von Hetzparolen etc. Wir wurden zwar schnell wieder freigelassen, aber der Skandal war perfekt. Die Leitung von St. Georgen zeigte übrigens im Nachhinein Verständnis, wir hatten nichts zu befürchten und selbst der damalige Bischof von Limburg, Wilhelm Kempf, blieb gelassen, gar verständnisvoll (obwohl Druck auf ihn ausgeübt wurde, uns zu bestrafen).
Kleine Aufgabe: Durch welche Zitate von Amos konnten die braven Christen aus Würzburg derart aus der Fassung gebracht werden – und warum? (siehe bei Amos).
Heute gibt es keine biblischen Propheten mehr (aber prophetische Menschen im Geiste der Propheten), denn mit Jesus, dem Mensch gewordenen Wort Gottes, ist im Prinzip alles gesagt, was gesagt werden musste. Das 2. Vat. Konzil und in dessen Weiterführung die lateinamerikanischen Bischöfe haben 1968 in Medellín für unsere Zeit gesagt, wo und wie Gottes Wort heute zu vernehmen ist. Er spricht zu uns in der Begegnung mit den „Nackten“ und Hungrigen. Er ist nicht in den „U-topoi“ zu finden (oder gar extra- oder supraterrestrisch), sondern an konkreten Orten und in der Begegnung mit konkreten Menschen, im „Exil“, in der Exteriorité, in der Wüste, außerhalb des Systems, im Menschen im Straßengraben, im „Aussätzigen“. Die Bischöfe sagen in Medellín, dass die Welt so wie sie ist, voller Missstände ist, „die zum Himmel schreien“. Dieser Schrei der Hunger nach Brot und Gerechtigkeit ist der Ruf Gottes an uns heute und an uns „Satte“.
In Medellín wurden wesentliche Aussagen des Konzils auf die konkrete Situation in Lateinamerika hin ausgelegt. Ursachen des Elends wurden benannt. Eine Analyse der weltwirtschaftlichen Strukturen führte zu dem Ergebnis, dass das Elend in weiten Teilen der Welt eine direkte Folge der pol.-wirtschaftlichen Strukturen sind, die von den reichen Ländern (Kolonialmächten) so eingerichtet worden sind, dass sie „zwangsläufig“ (systemimmanent logisch) zu immer größerem Reichtum der Wenigen führen. Eine entsprechende Analyse, Ursachenforschung und Deutung im Lichte der Bibel gab es aber bis heute nicht in der europäischen Kirche. Vom Standort der Ausgegrenzten aus, von dem biblischen Standpunkt her gedeutet, ist die europäische Theologie schon seit dem 4. Jahrhundert eine Theologie im Kontext der „Sieger“, eine Kirche der Rechtfertigung für Kolonialismus, Sklaverei, kulturellen Rassismus bis hin zu bestehenden Rechtfertigung einer kapitalistischen Weltordnung. Und die „Hoftheologen des Pharao“ (oder von Jerobeam, König in Israel zur Zeit des Amos) maßen sich an, über den Glauben der Menschen zu urteilen, die im Namen Jesu gegen den herrschenden Götzendienst aufstehen und ihr Leben riskieren, damit ihre Brüder und Schwestern leben können…. Die Theologie der Befreiung ist die erste nicht-europäische Theologie, d. h. die erste authentisch biblische Theologie im weltweiten Kontext.
2. Beispiel: Das Glaubensbuch der Campesinos, Vamos Caminando, habe ich schon erwähnt. Die Praxis der Erneuerung in der Diözese Cajamarca war wegweisend, ihr Bischof (1962 – 1992) einer der Initiatoren einer Kirche der Armen (u.a.) Katakombenpakt (usw., usw. …). Als Anfang 1993 eine neuer Bischof nach Cajamarca kam, sagte er in seiner Antrittsrede: „Ich wurde von Rom geschickt, um in der Diözese die Fundamente der Kirche wieder aufzurichten, die von meinem Vorgänger zerstört worden sind“. Ich möchte an dieser Stelle nicht die unzähligen Beispiele seiner menschenverachtender „Kirchenpolitik“ aufzählen, stattdessen nur 1 Beispiel, das uns auch auf die Überschrift dieses Abends hinweist: „Gott oder das Gold“. In Cajamarca gibt es die profitabelsten Goldminen der Welt. Die Folgen für Mensch und Umwelt sind verheerend (kann hier nicht aufgeführt werden). Als nun auch noch der letzte Wasserkanal ausgetrocknet war und alle Proteste gegen willkürliche Landvertreibungen, polizeiliche Gewalt usw. ohne Folgen blieben, entschlossen sich Campesinos, die Zugänge der Mine zu blockieren. Sie wollten unbedingt einem Vertreter der Minengesellschaft (Newmont Mining Co, USA) ihre Lage vortragen. Der Bischof von Cajamarca verurteilt alle Proteste der betroffenen als Aufstand gegen die von Gott eingesetzten Autoritäten, als Abfall vom Glauben usw. Wahrer Glaube u.a. bestehe darin, jeden Monat zu beichten und dem Bischof unbedingten Gehorsam zu leisten. Gleichzeitig ist er aufs Engste mit den Betreibern der Mine und in gleicher Weise mit den politisch Mächtigen verbunden.
Also bat die Minengesellschaft den Bischof, mäßigend auf die Campesinos einzuwirken und sie dann nach Hause zu schicken. Selbstverständlich ließen sich diese nicht darauf ein. Nach längeren Verhandlungen (und Zweifeln) ließen sie sich dann auf das Angebot („Vermittlung“) des Bischofs ein. Dieser hatte angeboten, dafür zu sorgen, dass Vertreter der Minengesellschaft bereit seien, mit einer Delegation der Campesinos zu sprechen. Das Treffen sollte im Bischofspalast in Cajamarca stattfinden, mit ihm als Vermittler. Als am nächsten Morgen wie verabredet eine Delegation von 10 gewählten Vertretern der Campesinos im Bischofshaus ankam, warteten dort der Staatsanwalt und Polizisten, die die Campesinos sofort verhafteten und abführten. Sie wurden verprügelt, einige waren danach schwerverletzt (sie blieben ohne Behandlung) und Monate später wurden sie zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. Noch am selbst Tag zogen einige zehntausend Campesinos in die Stadt Cajamarca und hielten die Plaza de Armas über 6 Tage lang besetzt (3.-9.3.2001). Einige Frauen ketteten sich an die vergitterten Tore und Fenster des Bischofspalastes und über dem Eingang wurde ein riesiges Poster angebracht mit dem Satz:
‚Herr Bischof, verehre den wahren Gott - nicht das Gold von Yanacocha’! (Bilder und sogar Filmaufnahmen wurden mir zugespielt, in den Monaten Dezember bis Februar war ich in Cajamarca).
Aus einem Brief von Campesina-Frauen (Vertreterinnen kath. Frauengruppen) an mich: „Folgende Parolen wurden gerufen: ‚Das Leben verkauft man nicht – man verteidigt es’. ‚Herr Bischof, verehre den wahren Gott - nicht das Gold von Yanacocha - und noch viele weitere Sätze, die auf Transparenten getragen oder an Wände und Türen des Bischofshauses geschrieben wurden. Von den Autoritäten zeigte sich keiner: weder der Präfekt, noch der Bürgermeister, noch der Bischof. Alle versteckten sich unter ihrer Bettdecke. Man glaubt, dass sie von der Mine Yanacocha Schmiergelder bekommen. Jetzt aber wehren wir uns konsequent gegen die Politik des Bischofs.“
Auch für uns und unsere Kirche in Deutschland ist dies die entscheidende Frage: „An welchen Gott glaubst du?“
2. Wir als Gemeinde der Jüngerinnen und Jünger Jesu – als Kirche Jesu Christi
…. sind heute auch zusammengekommen, um miteinander zu feiern. Speziell in der Eucharistie (Abendmahl) sagen wir Dank dafür, dass Jesus uns durch seine Worte und Taten ein neues Leben ermöglicht und uns den Weg zeigt. Wir nehmen in dieser Feier die endgültige Gemeinschaft aller Menschen untereinander und mit Gott vorweg. Das ist unser Ziel, unsere Berufung. Das biblische Bild dazu: Hochzeitsmahl, Tischgemeinschaft mit denen, denen ansonsten der Zugang zum Tisch und damit zum Brot des Lebens verwehrt wird. Dies ist das zentrale Sakrament (Zeichen) unseres Glaubens. Kennzeichen dieser Tischgemeinschaft ist das Miteinanderteilen von Brot und Wein, d.h. all dessen, was wir zum Leben brauchen. Die Jünger von Emmaus erkennen den auferweckten Christus erst, als er mit ihnen das Brot teilt. In einer Gemeinde, in der das geschieht, ist der lebendige Christus gegenwärtig, es ist Auferstehung spürbar, neues Leben.
Die Gemeinde Jesu Christi sind aber nicht nur wir, die wir hier versammelt sind. Die Gemeinde Jesu Christi ist die Gemeinschaft aller Menschen, die an Jesus den Christus glauben. Alle Menschen sind zum Tisch des Herrn, zur Hochzeitsfeier geladen. Wir können hier nur Eucharistie feiern, wenn wir das im Namen der gesamten Kirche, der Gemeinschaft aller Gläubigen in aller Welt tun. Wir leben aber in einer Welt, in der 1/5 der Menschheit 4/5 aller irdischen Güter für sich allein verbraucht - ja diese sogar mit Gewalt an sich reißt. Wir leben gleichzeitig in einer Welt, in der alle Güter für alle Menschen bei weitem ausreichen würden. Aber mit jedem Kind, das um sein Leben gebracht wird, wird Jesus erneut gekreuzigt.
Was heißt nun für uns Kirche sein? Wie können wir uns gemeinsam mit denen an einen Tisch setzen, für die noch nicht einmal die Brosamen übrig bleiben, die von unserem überreich gedeckten Tisch fallen? Können wir miteinander feiern, während oder falls wir gleichzeitig bemüht sind, unseren schon üppig gedeckten Tisch noch üppiger zu decken - und dafür in Kauf nehmen, dass immer mehr Menschen verhungern? Christlicher Glaube zeigt sich darin, dass wir im Namen Gottes und in der Nachfolge Jesu das Brot, die Früchte der Erde, unser Leben miteinander teilen. Das bedeutet Umkehr, auf ein Ziel hin zu arbeiten, das Jesus das Reich Gottes nennt.
Aber - wollen wir denn aufbrechen? Verspüren wir überhaupt diesen Hunger nach Gerechtigkeit? Gerade auch dann, wenn wir wissen, dass mehr Gerechtigkeit für die Armen, weniger Wohlstand für uns bedeutet? Ich möchte nun von den Menschen berichten, die ihren Hunger nach Gerechtigkeit hinausschreien und sich auf den Weg machen. Es sind stellvertretend die Indios in den Anden Perus und Boliviens. Der erste Schritt ist der, dass wir hören und sehen, wie sie ihren Glauben leben, was Jesus für sie bedeutet.
3. Beispiel: An einem Beispiel möchte ich dies verdeutlichen: Als die Campesinos der Diözese Cajamarca, insbesondere in der Pfarrei Bambamarca im Norden Perus, vor über 50 Jahren zum ersten Mal mit einer authentischen Interpretation der Bibel konfrontiert wurden, haben sie einige große Entdeckungen gemacht:
- Sie lernten eine Gott kennen, vor dem sie keine Angst mehr zu haben brauchten, Angst vor dem mächtigen, weißen, reichen Gott, der sie für ihre Sünden mit Hunger und Elend bestraft. Sondern sie entdeckten einen Gott, der auf ihrer Seite steht, auf Seiten der Elenden, der Opfer.
- Sie entdeckten, dass dieser Gott Mensch geworden ist und gelebt hat wie sie selbst - von der Geburt in einer Hütte angefangen bis zum Tod am Kreuz, ausgestoßen und verurteilt von den Mächtigen seiner Zeit - genau wie sie. Sie übertragen die Bibel direkt auf ihr Leben und erfahren so, dass Gott mitten unter ihnen ist, mit ihnen lebt und leidet.
- Sie entdecken sich als Kinder Gottes. Wenn man um die Verachtung und Rechtlosigkeit weiß, die sie erleiden müssen - ich selbst habe mit eigenen Augen gesehen, wie Indios wie Hunde aus dem Dorf geprügelt wurden - dann kann man erahnen, was es für sie bedeutet, Kinder Gottes zu sein. Es ist also nicht Gottes Wille, dass die Weißen reich und scheinbar allmächtig, sie selbst aber zu Armut und Ohnmacht verurteilt sind. Wenn sie nun aber doch arm sind, warum sind sie dann arm? Und warum sind wir reich? Das hat von Menschen verursachte Gründe, von Menschen, die immer mehr haben wollen und die ihre eigenen Bedürfnisse zum absoluten Maßstab machen. Die Indios erleben Hunger und Elend als Ergebnis einer gottlosen Wirtschaft und Politik, als Ergebnis von Ausbeutung und Unterdrückung. Armut gibt es, weil es Menschen gibt (gerade auch Christen), denen Besitz und Macht wichtiger sind als Gott und das menschliche Leben.
- Sie entdecken, dass sie nicht nur eine unantastbare Würde als Kinder Gottes haben, sondern auch Rechte, vor allem das unveräußerliche Recht auf ein menschenwürdiges Leben und dass ihnen dieses Recht gewaltsam vorenthalten wird.
Weil sie bereit sind, auf den Ruf Gottes zu hören und weil sie sich im Vertrauen darauf auf den Weg machen, machen sie schon jetzt die Erfahrung von Auferstehung. Sie schließen sich zusammen, lesen immer wieder die Bibel, gehen in viele Kurse und erfahren dabei ganz neue - alte -Werte: Werte wie Solidarität, Gemeinschaft, Miteinanderteilen - Werte auch ihrer alten Kultur, die aber gewaltsam verschüttet waren. Auch kirchlich gesehen nehmen sie ihr Schicksal in die eigenen Hände. Sie sind Kirche! In neu entstehenden Basisgemeinden feiern sie diesen Neubeginn. Sie sagen Dank, feiern die Gegenwart Gottes unter ihnen, teilen miteinander ihre Sorgen und ihr Brot. Diese Gemeinden sind Inseln des Lebens inmitten des Todes.
Und wir? Wer ist Jesus für uns? Ist Jesus wirklich Fundament, Mitte und Ziel unseres Lebens, Brot des Lebens, ohne das wir verhungern. In unserer Kirche sehe ich oft mehr Ängste als Hoffnung. Sicher auch Hoffnung: Hoffnung auf einen weiterhin guten Pastoralservice, dass wir unseren Pfarrer behalten; Hoffnung, dass die Kirchensteuer erhalten bleibt; Hoffnung, dass die Orgel noch lange hält…! Natürlich auch Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit. Doch welchen Frieden und welche Gerechtigkeit meinen wir? Einen Frieden durch Stärke statt durch Ohnmacht und eine Gerechtigkeit, die uns nichts kostet und uns möglichst nicht weh tut?
Was bedeutet Jesus für uns? So lautete die Frage. Haben wir nicht schon alles, was wir zum Leben brauchen? Wozu brauchen wir also noch Gott, wozu noch Jesus? Ist der Glaube oft nicht etwas, das halt dazu gehört, so eine Art Folklore, wo es uns warm ums Herz wird? Vertrauen wir im Grunde aber nicht eher uns selbst, sichern uns ab, schaffen uns unsere eigenen Götter (Sicherheit, materieller Wohlstand, Fortschritt, Wirtschaftswachstum) und erwarten dann davon unser Heil? Und letzte Sicherheit verschaffen wir uns im Notfall durch immer mehr Atomraketen? Und wir vergessen dabei: Allein Gott schenkt uns Sicherheit und Erfüllung! Er schenkt sie uns sogar - wir müssen nur die Hände aufmachen, statt krampfhaft, die Hände zu einer Faust geballt, unnütze Dinge festhalten zu wollen. Würden wir denn wirklich ärmer, wenn wir bestimmte Dinge loslassen und Gott mehr vertrauen würden? Stattdessen meinen wir, auch als deutsche Kirche insgesamt, wir könnten zwei Herren gleichzeitig dienen. Jesus sagt aber, wir können nicht zwei Herren gleichzeitig dienen:
- Wir können nicht unser Heil von Gott erwarten und gleichzeitig unser Leben darauf verschwenden, uns selbst absichern zu wollen und unser Heil selbst zu schaffen.
- Wir können nicht die vollen Fleischtöpfe im reichen Ägypten haben wollen und gleichzeitig in das Gelobte Land aufbrechen wollen.
- Wir können nicht um das Goldene Kalb tanzen und gleichzeitig an den Gott glauben, der dieses Goldene Kalb voller Zorn zerschmetterte.
- Wir können nicht gleichzeitig an einer Wirtschaftsordnung festhalten wollen und davon profitieren, die zumindest mitschuldig ist am Tod von 50 Millionen Hungerstoten im Jahr und gleichzeitig an den Jesus glauben, der sich mit den Opfern dieser Weltordnung solidarisiert und der in ihnen weiterhin millionenfach gekreuzigt wird.
- Eine Kirche, in der die einen auf Kosten der anderen leben, kann nicht die Kirche Jesu Christ sein.
Was hindert uns daran, aufzubrechen und dem Ruf Gottes zu folgen? Wir sollten uns fragen, welche Götter uns versklaven bzw. welche Götzen wir in Wahrheit anbeten. Oder meinen wir gar schon am Ziel zu sein - im Gelobten Land? Liegt unser Problem - und das ist gerade vielleicht unser Elend - nicht darin, dass wir vielleicht gar nicht wissen, wohin oder gar warum wir uns auf den Weg machen sollen? Kommen wir denn nicht quasi schon als „Bekehrte“ zur Welt, wozu also umkehren? Sind wir nicht mehr oder weniger gute Kirchgänger und Steuerzahler und sind wir nicht Mitglieder einer Kirche, die als Heilsinstitution ihren Mitgliedern das Heil garantiert?
Es sind die Armen und Elenden dieser Welt, die uns den Weg zeigen, weil in ihnen die Liebe und die Fürsorge Gottes für die Menschen offenbar wird. Sich mit ihnen auf den Weg machen dürfen heißt, unsere Hoffnungslosigkeit, unser Leben im Goldenen Käfig, zurückzulassen und sich ohne Angst und voller Vertrauen der Führung Gottes anzuvertrauen. Das Evangelium wird auch für uns alle zu einer frohen und befreienden Botschaft wenn wir Jesus Christus immer wieder neu als Herrn unseres Lebens entdecken. Wenn wir entdecken, dass wir in erster Linie mehr Liebe und Gemeinschaft brauchen, Tag für Tag, wenn wir entdecken, dass wir Gefahr laufen zu verhungern aus Mangel an Liebe, Gemeinschaft, Anerkennung, dann werden wir offen für Gott werden und für alle, mit denen er lebt, leidet und aufersteht.
Bekennen wir, dass nicht Steine, Gold und Geld unseren Hunger zu stillen vermögen, sondern allein Jesus Christus. Er ist hier unter uns, wenn wir das Brot und den Wein, die Gaben dieser Erde miteinander teilen, wenn wir die arm gemachten Menschen dabei nicht draußen lassen, sondern ihnen den Ehrenplatz einräumen, den ihnen Jesus gegeben hat. Wir haben nichts zu verlieren. Wir laufen höchstens Gefahr, nicht mehr die Lieblinge einer satten Nation zu sein, sondern die Lieblinge Gottes.
3. Vamos Caminando (siehe auch: El Despertar - Wacht auf!)
Vamos Caminando - machen wir uns auf den Weg! Glaube, Gefangenschaft und Befreiung in den peruanischen Anden. Equipo Pastoral de Bambamarca. Herausgegeben von der Bambamarca - Gruppe (Tübingen); Edition Liberación, Verlag Exodus, Freiburg (Schweiz)/Münster 1983. Original: Vamos Caminando - Los campesinos buscamos con Cristo el camiono de nuestra liberación; CEP, Lima 1977
„Glück euch, ihr Armen!“ „Candelario wollte nie zu Versammlungen und Schulungen gehen. Eladio versuchte ihn umzustimmen, aber Candelario meint: Nein, die alten Pfarrer waren doch immer für den Grundbesitzer. Der holte sie auf die Hazienda und gab ihnen gut zu essen. Dann konnten die Pfarrer zuckersüß zu uns sprechen: Habt Geduld Brüder! Wenn ihr arbeitet und dennoch leiden und hungern müsst, verdient ihr euch den Himmel. Drüben im anderen leben werdet ihr glücklich sein. Nun gebt euch zufrieden! So sprachen sie mit uns. Der Patron sah es gern und betete wie ein Heiliger. Was also soll das ganze? Ich will nichts mehr von dieser Religion wissen. Das ist kein lieber Gott, der in meinem Herzen die Furcht vor der Hölle schürt. Auf diese Weise haben schon die Spanier unsere Vorfahren immer nur mehr leiden lassen.
Recht hast du, Candelario. So war es und so ist auch heute noch vielfach. Das ist die Religion der Ausbeuter. Aber das ist nicht der Glaube Jesu. ganz im Gegenteil: Jesus sagt, dass wir Armen kämpfen müssen, so wie die guten Propheten. Kämpfen gegen alle Ungerechtigkeiten und gegen jede Unterdrückung. Kämpfen um die Übel auszuräumen und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Dann sind wir Armen glücklich – wenn wir kämpfen. Mögen sie uns auch verfolgen oder nichts zu essen geben.“ (Vamos Caminando, S. 190)
Lied: "Glücklich sind wir, die Armen der Erde, denn uns gehört das Reich Gottes. Glücklich die Gedemütigten und Unterdrückten, weil sie das ganze Land besitzen werden. Glücklich sind diejenigen, die Gerechtigkeit suchen: Sie wird ihnen in Fülle zuteil. Glücklich sind diejenigen, die nach Leben dürsten, Ihnen gehört das Reich Gottes." (Vamos Caminando, S.190)
PS: Ich lebte als "agente pastoral" (Laientheologe) von 1976-1980 in der Pfarrei Bambamarca.