Anmerkung für diesen Sammelband von Juan Medcalf zum Artikel in The Guardian:
.... Wenn es auch richtig ist, dass das Netz der Bibliotheken auf dem Land in Bambamarca seinen Ursprung hatte, so verdankt es deren weitere Verbreitung und Ausdehnung der Erlaubnis Bischof Dammerts, mir zu gestatten, in die Hauptstadt des Departements Cajamarca zu ziehen.
Die darauffolgende Ernennung zum Pfarrer der Pfarrei Baños del Inca erlaubte es mir, mich jede Woche den Bibliotheken zu widmen. Das Zusammenleben in der Gemeinschaft von Baños del Inca mit den beiden Priestern Alois Eichenlaub und Victor Marit ermöglichte ein kulturelles und religiöses Werk, das seine Auswirkungen nicht nur in der Diözese Cajamarca sondern auch in ganz Peru hatte. Das Interesse und das andauernde Engagement Bischof Dammerts für dieses Projekt, eng verknüpft mit dem Kulturinstitut von Cajamarca und der Priestergemeinschaft von Baños del Inca, ist das „sine qua non“ all dieser Aktivitäten zugunsten der marginalisierten Campesinos gewesen. Danke, Don Pepe!
* Zum Gedenken an Juan Medcalf siehe den anschließenden Text: Juan Medcalf, sein Abschied aus Cajamarca - von Willi Knecht
Bibliotecas rurales - Landbibliotheken in Cajamarca von Sarah Dunant
Übersetzung eines Artikels aus „THE GUARDIAN WEEKEND" (London) vom 23. Mai 1998
Übersetzung: Ursula Ploss, Herzogenaurach
Seit der Eroberung durch die Spanier waren Bücher in Peru nichts anderes als ein Symbol der Unterdrückung. Ein neues Hilfsprogramm, nämlich die "Reisenden Leihbüchereien", hat dafür gesorgt, dass ländliche Gegenden nun mit Lehrmitteln und Unterhaltungsliteratur versorgt werden, was zu einer gewissen Form der Befreiung geführt hat. Sarah Dunant war mit den Leuten unterwegs, die durch die Sierra ziehen und die Bücher ausliefern. Hier ihr Bericht:
Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging, als die kleine Propellermaschine sich ihren Weg vom Pazifik über die Wüste hinauf in die Anden bahnte, war, warum haben die Eroberer überhaupt diese Mühe auf sich genommen? Eine Meute von gierigen Abenteurern, die Tausende von Meilen durch die Wildnis gezogen sind, nur wegen irgendwelcher Gerüchte, dass es hier Gold geben sollte.
Die Spanier hatten Glück. Als Pizarro und seine Leute vor ungefähr 450 Jahren endlich das Tal von Cajamarca im Norden von Peru erreichten, trafen sie auf ein Inkareich, das durch einen blutigen Bürgerkrieg geschwächt war, und sie hatten Glück mit dem Wetter. Ich stelle mir immer vor, wenn in dem Jahr damals El Nino getobt hätte, hätten sie vielleicht aufgegeben und wären in ihre Heimat zurückgekehrt, oder sie wären dort davon geschwemmt worden, so wie es mir fast ergangen ist.
Der Norden von Peru hat nicht ganz so stark unter der Zerstörung durch El Niño gelitten, aber es war schlimm genug. Riesige Flutwellen haben aus Straßen Flüsse gemacht, die oberste Erdschicht mit sich gerissen und dabei Schlaglöcher von der Größe von Kanonenkugeln zurückgelassen. Es gibt Gegenden, in denen die Unwetter komplette Häuser weggerissen haben, ähnlich wie bei einem Bombenangriff. Auf dem Lande ist es noch schlimmer. An manchen Stellen muss man durch knietiefen Schlamm waten. Für Reisen, die früher drei Stunden dauerten, braucht man jetzt sechs Stunden, und wenn man früher für eine Strecke zwei Tage benötigte, braucht man jetzt vier, mit dem Ergebnis, dass man nur reist, wenn unbedingt nötig, und dass man dabei auf keinen Fall schwer tragen darf.
Aber sagen Sie das mal den Leuten von der "Reisenden Leihbücherei", deren Satteltaschen schwer mit Büchern beladen sind. Sie bekommen dann zur Antwort: "Wenn wir nicht gehen, gibt es auch keine Bücher, und ohne Bücher keine Bücherei." Wie man es auch immer betrachtet, das Projekt der ländlichen Bibliotheken von Cajamarca ist eines der ungewöhnlichsten Hilfsprogramme, das es gibt. Man könnte auch sagen, dass es ein eher surrealistisches Programm ist. Man muss sich folgendes vorstellen: 15.000 km2 rauestes Bergland (ähnlich der Schweiz, jedoch ohne den Reichtum), das von 600 freiwilligen Bauern/Bibliothekaren versorgt wird, die hinunter in das Tal von Cajamarca reisen, bis zu 40 Bücher auf einmal mitnehmen, und damit in ihre einsam gelegenen Häuser zurückgehen, manchmal eine Reise, die drei Tage dauert.
Auf ihrem Rücken tragen sie die Verfassung von Peru, Bücher über Recht, Medizin, Agrarwirtschaft, Pflanzenschutz, Geschichte, und Erzählungen über regionale Sitten und Gebräuche, und das alles für Menschen, die es sich nie im Leben leisten könnten, solche Bücher zu kaufen, ja - die sie sonst niemals zu Gesicht bekämen. In diese Wirtschaft am Rande des Existenzminimums, in der es weder Strom noch Telefon gibt, hat dieser herausfordernde low-tech-Handel mit Wörtern in den vergangenen 27 Jahren Informationen über praktisch alles, angefangen beim Gesundheitswesen bis zur Bienenzucht, und damit gleichzeitig ein starkes Gefühl für regionale Identität und Kultur vermittelt
Das Projekt, das von "Christian Aid" unterstützt wird, hat sich ein freundlicher junger katholischer Priester aus England ausgedacht. John Medcalf kam in den frühen siebziger Jahren ganz neu aus dem Missionskolleg in Kent und wurde direkt in das Elend von Limas explodierenden Vorstädten und anschließend in die überwältigende Armut der nördlichen Anden geschickt. Nach seiner eigenen Aussage war er von dem, was er dort vorfand, zutiefst überwältigt und deprimiert, und er war kurz davor aufzugeben, als er eines Abends von einem Jungen in seiner Wohnung in Cajamarca aufgesucht wurde.
"Er hieß Leonardo Herrera", sagt Medcalf, "und er erzählte mir, dass er dreizehn Jahre alt sei, obwohl er nicht älter als acht aussah. Er sagte, dass er gehört hat, dass ich der neue Priester bin, und dass ich etwas mitgebracht habe, was er und seine Freunde sehen wollten. Es sei aus Bäumen gemacht und hätte die Form von Ziegelsteinen, drinnen wären Wörter, und man könnte Dinge daraus lernen. Ich sagte ihm, dass er Bücher meint und fragte ihn, ob er lesen kann. Er sagte, ja ein wenig. Also lieh ich ihm ein Buch - ich erinnere mich, dass es eine Broschüre über die lokale Geschichte war - gab ihm einen Stift und Papier und sagte ihm, dass er das Heft lesen sollte, und dann wiederkommen und mir sagen, was er nicht verstanden hat. Am nächsten Morgen um sechs wurde ich durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Er hätte genug gelesen und wollte jetzt mit mir darüber reden, und dann wollte er, dass ich ihm ein neues Buch gab. Ich glaube, in dem Moment wurde die Idee der Büchereien für die Landbevölkerung geboren."
Es war zwar eine immense Aufgabe, aber die Begeisterung dafür war immens. Zu dieser Zeit hatte die Idee der Befreiungstheologie ihren Höhepunkt in Lateinamerika erreicht. Medcalf war einer derjenigen aus der Generation von katholischen Priestern, die auf das überwältigende Leid mit einer Mischung aus Politik und Religion reagierten, und die einen radikalen Wechsel anstrebten. "Es war eine ungewöhnliche Zeit. Nach dem Ökumenischen Konzil von '69 kam ein lateinamerikanischer Priester hierher zurück und verkaufte seinen Palast um mit den Armen zu leben. Ich erinnere mich, dass Castro ein paar Jahre später nach Chile kam und in einem Stadion vor Priestern und Nonnen sprach. In Peru infiltrierten Jesuitenpfarrer die Armee und versuchten, die Politik der Regierung zu beeinflussen. Ich glaube, wir alle spürten, dass wir etwas tun mussten. Es reichte nicht den Gottesdienst abzuhalten. Wir mussten auch Taten anbieten."
Diese kämpferische Einstellung würde wahrscheinlich bei dem heutigen Papst einen akuten Herzanfall auslösen. Aber all diese Energie, nur um eine bessere Reisebibliothek zu gründen? Obwohl es heute mehr nach Heimatgeschichten als nach Revolution klingen mag, waren die Auswirkungen von Medcalfs System in den siebziger Jahren geradezu umstürzlerisch. Am Anfang stand noch eine Theorie dahinter. Alternative Erzieher wie der Brasilianer Paulo Freire argumentierten, dass das westliche Schulwesen vielleicht einigen intelligenten Kindern aus der Armut heraushelfen würde, dass es jedoch niemals die große Masse der Landbevölkerung erreichen würde, die es sich nicht leisten kann, ihre Kinder zur Schule zu schicken, weil sie sie zu Hause bei der Landarbeit brauchten.
Wenn das Erziehungswesen an einem solchen Ort irgendeine Wirkung haben sollte, musste es den Bedürfnissen der Bevölkerung angepasst werden und nicht umgekehrt. Wenn das Lesen von Büchern zu einer Verbesserung des Lebens führen könnte, d.h. zu einer wirklichen Veränderung, dann könnte es auch dazu führen, dass man nicht nur mehr Lust auf Bücher bekäme, sondern auch eine größere Selbstachtung zur Folge haben.
Außerdem spielte auch die peruanische Geschichte eine Rolle. In Peru waren Bücher für die eingeborene Bevölkerung lange Zeit gleichbedeutend mit Eroberung und Unterdrückung. Dieser Gegenstand, der aus Bäumen gemacht wird und die Form eines Ziegelsteines hat, war mit den Eroberern ins Land gekommen. Der Inkakönig Atahualpa hatte im Jahre 1532 von einem Dominikanerbruder auf dem Hauptplatz von Cajamarca ein Buch bekommen. Da er nie zuvor ein Buch gesehen hatte - obwohl die Inkazivilisation sehr hoch entwickelt war, gab es keine Schrift - schaute er sich das Buch an und ließ es dann zu Boden fallen. Dies gab den Spaniern den gesuchten Vorwand für einen Angriff. Am selben Nachmittag metzelten Pizarros Männer Tausende von unbewaffneten Inkas dahin und nahmen Atahualpa gefangen. Das war der Anfang vom Ende des Inkareiches und eine ungewöhnlich brutale Art und Weise, mit dem geschriebenen Wort Bekanntschaft zu machen.
Alfredo Mires lebt nicht weit entfernt vom Ort des ersten Massakers. Er kommt aus einer Landarbeiterfamilie und war knapp zwanzig als Medcalf ihn persönlich für die Mitarbeit bei der Bücherei auswählte, als er selbst 1982 nach London zurückkehrte. Jetzt ist er Mitte 30, und er hat ein wenig von Medcalfs Haltung und von seinem Humor, obwohl der Grund dafür bei ihm weniger in der Religion zu suchen ist als vielmehr in seinem Engagement für die Gemeindepolitik.
"Seit Jahrhunderten haben sich die eingeborenen Peruaner vor Büchern gefürchtet, weil sie ein Druckmittel der Mächtigen waren; Priester, Großgrundbesitzer, Richter, alle diejenigen, die Macht über die Campesinos hatten, benutzten die Bücher, um diese Macht aufrechtzuerhalten. Wir sollten Analphabeten bleiben um stillzuhalten. Der Schriftsteller und Anthropologe Jose Maria Arguedas stellte fest, dass "ein Indianer, der lesen kann, ein gefährlicher Indianer ist". Deshalb sind die Bibliotheken für die Landbevölkerung hier so wichtig. Für uns bedeutet es, dass damit die Eroberung zu Ende ist. Jetzt können wir klar und deutlich sagen: "Ihr habt uns nicht fertiggemacht. Es gibt uns noch."
Zur Unterstützung dieser Behauptung berichtet Mires von einem Ereignis, das in den achtziger Jahren ganz in der Nähe stattgefunden hat. Die örtlichen Behörden beendeten ein Treffen von Bauern mit der Ankündigung, dass sie eine Straße in diesem Gebiet bauen wollten, und dass die Bauern die erforderliche Arbeit leisten sollten. Dies, so behaupteten die Behörden, wäre für die gesamte Gemeinde von Nutzen, jedoch - so stellte Mires sehr schnell fest - "waren die Großgrundbesitzer die einzigen, für die eine solche Straße nützlich sein würde, weil nur sie Fahrzeuge haben und über Überschüsse verfügen, die sie verkaufen können".
Zuerst stimmten die Bauern dem Bau der Straße zu und wollten wissen, welchen Lohn sie dafür bekommen würden. Die Behörden sagten "gar keinen" - in den Gesetzen würde stehen, dass sie dazu verpflichtet wären. Mires Gesicht fängt an zu strahlen, als er zum Höhepunkt der Geschichte kommt. "In dem Moment tauchte der Bibliothekar mit einer Kopie der Verfassung auf. Er sagte, er könne beweisen, dass die Behörden lügen, weil in der Verfassung von Peru festgelegt sei, dass niemand gezwungen werden könnte, ohne Bezahlung zu arbeiten. Am nächsten Tag wurde der Bibliothekar öffentlich angeprangert, und man drohte ihn einzusperren. Aber diese Drohung wurde nie wahrgemacht, und die Strasse wurde nie gebaut."
So, wie Mires diese Geschichte erzählt, klingt sie wie einer dieser Momente in einem Film von Ken Loach: Eine dramatische Darstellung in Verbindung mit der Gerechtigkeit. Wenn man aber drei oder vier Tage in den Fußstapfen der Bibliothekare über die Berge gezogen ist, wird einem langsam klar, dass die wirklichen Auswirkungen dieses Projektes weniger in der großen Geste bestehen als vielmehr in den vielen, vielen kleinen persönlichen Geschichten, die man von den Lesern und den Leuten von der Bücherei hört.
So z.B. von Marcial Rumay Cortéz. Gemessen an den Entfernungen, an die die Leute von der Bücherei gewöhnt sind,. lebt er "nur so um die Ecke". Die Reise von Cajamarca zu seiner Berggemeinde in Shidin dauert zwei Stunden mit dem Bus, und dann muss man nur noch ein-einhalb Stunden den Berg hinaufzusteigen (obwohl es in einer Höhe von fast 3.000 Metern für eine englische Journalistin, die mehr Sauerstoff braucht als die Luft hergibt, eine Höllentour ist). Auf halber Höhe ist eine Plattform aus Stein, wo man eine Pause machen kann. Hier spuckt man die Coca-Blätter aus, die man im Mund hatte, und nimmt sich eine neue Portion. Hier machen auch die Einheimischen eine Pause, wenn sie die Särge ihrer Verstorbenen zur Beerdigung hinunterbringen. Vor zwei Jahren wollte die Frau von Cortéz diese Reise machen, als sie eine geheimnisvolle Krankheit bekam, die keiner aus der Gemeinde kannte.
Seine Frau kocht die übliche Mais-Kartoffel-Suppe (Tabak war die einzige Pflanze von Bedeutung, die von den Indianern kam), und er erzählt uns die Geschichte von dem Winter, als sie fast gestorben wäre. "Niemand wusste, was es war, aber in der Bücherei gab es ein Buch über Krankheiten und Arzneien, wo ich ihre Symptome fand. Sie hatte alle Anzeichen einer Lungenentzündung. In dem Buch stand alles ganz genau. Es gab auch eine Anleitung für eine Arznei. Ich machte alles genauso, wie es dastand, fand die richtigen Pflanzen, kochte die Blätter ab und machte ihr einen Tee. Ich gab ihr den Tee, blieb bei ihr und pflegte sie die nächsten zwei Tage. Nach und nach ging das Fieber runter und es ging ihr besser. Ohne das Buch wäre sie gestorben." Wie auch immer, es war die einzige Hilfe, die Cortéz sich leisten konnte. Das nächste Krankenhaus ist vier Stunden entfernt, und da es keine staatliche Krankenversicherung gibt, hätte er sich die Behandlung sowieso nicht leisten können.
Es ist nicht überraschend, dass das fragliche Buch, ein Gesundheitsführer mit dem Titel Donde no hay doctor (Wenn kein Arzt da ist), so gefragt ist, dass die meisten Büchereien ständig eine Ausgabe davon auf Lager haben. Wenn es nicht gerade ausgeliehen ist, findet man es, wie alle anderen Bücher, im Haus des Bibliothekars, entweder auf einem behelfsmäßigen Regal neben den Betten (die meisten Häuser haben nur ein oder zwei Zimmer) oder in einem wasserdichten Sack.
Alle Bibliothekare führen peinlich genaue Verzeichnisse, wer wann welches Buch ausgeliehen hat und wann es zurückgegeben werden muss, obwohl man in Anbetracht der großen Entfernungen und unter Berücksichtigung der jeweiligen Saison - außerhalb der Saat- und der Erntezeit lesen die Leute viel mehr - sehr großzügig mit den Rückgabefristen ist. Um festzustellen, welche ausgeliehenen Bücher die Top Ten sind, muss man sich nur diese Verzeichnisse anschauen. Ganz oben stehen Bücher über praktische Fragen. Neben Gesundheitsführern gibt es Bücher über örtliche Pflanzen, Bienenzucht, und ein Buch darüber, wie man natürliche Farbstoffe für die Weberei herstellen kann, steht ständig ganz oben auf der Liste (Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben, sind ständig auf das angewiesen, was man selbst herstellen kann und nicht kaufen muss).
Aber die Leute haben auch einen unersättlichen Appetit auf Romane. Wegen der riesigen Nachfrage fingen die Büchereien für die ländliche Bevölkerung im Jahre 1982 an, ihre eigenen Bücher zu produzieren: es waren 20 Bände über lokale Kenntnisse und persönliche Geschichten, die von denen, die schreiben konnten, niedergeschrieben wurden, oder die diejenigen, die nicht schreiben können, anderen, die schreiben können, diktiert haben.
Bekannt als die "Enzyklopädie für die ländliche Bevölkerung" werden in diesen Büchern viele Ratschläge gegeben - es vermittelt sehr viel Wissen der Leute, die hier leben. Aber gleichzeitig ist es auch eine Sammlung der bisher nur mündlich weitergegebenen Geschichte des Landes: Erinnerungen an Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, an das, was sie getan haben, was sie gesagt haben, fast vergessene Geschichten aus ihrem Leben. Aus der Mischung aus Erinnerung und Fantasie entstanden Bücher, die sehr beliebt wurden. Obwohl sie von der Bevölkerung mit dem gleichen Genuss gelesen werden, wie wir vielleicht die neuesten Bücher von Paul Auster oder Joanna Trollope lesen, ist ihre Einstellung zu diesen Büchern jedoch ein wenig anders. Für sie bedeutet die Tatsache, dass die Leute, von denen erzählt wird, tatsächlich gelebt haben, dass auch diese Bücher lebendig sind. Die Kraft kommt aus der Realitätsnähe und nicht aus der Flucht in eine Phantasiewelt. Wenn wir vielleicht sagen, dass wir uns in Büchern verlieren, besteht der Trick der Leser der Leihbüchereien darin, sich zu finden - ohne Zweifel auch deshalb, weil so lange Zeit niemand irgendein Interesse daran hatte, wer sie waren oder dass niemand geglaubt hatte, dass ihre Geschichte es wert wäre, niedergeschrieben zu werden.
Eine der beliebtesten Geschichten wurde von einem Bibliothekar geschrieben. Mama Santos ist die Geschichte von der Großmutter von Jose-Isabel Ayay Valdéz, die Quechua spricht. Wie viele der Leute von der Bücherei konnte Valdéz kaum lesen oder schreiben als er vor vierzehn Jahren anfing, für die Büchereien zu arbeiten. "Ich bin zwei Jahre zur Grundschule gegangen, dann habe ich alles wieder vergessen, aber wenn ich an Bücher dachte, wurde ich immer ganz aufgeregt." Er lebt im Norden von Cajamarca auf einem Kleinlandbesitz mit einem Garten, der aus Büchern entstanden ist: jede Pflanze produziert irgend etwas, vom Kamillenshampoo ("das, was wir im Geschäft kaufen können, ist teuer und scharf und dir fallen die Haare aus") bis zu natürlichen Antiseptika.
Er sieht die Wirkung, die die Bücher auf ihn und seine Gemeinde hatten, sehr positiv. "Wenn es die Bücher nicht geben würde, wäre ich noch Analphabet und niemand, nicht einmal ich selbst, würde mich in irgendeiner Weise achten. Die Bücher, die wir gemacht haben, haben uns unsere Geschichte gelehrt. Ohne sie wäre so vieles verlorengegangen: Feste, Rezepte, Traditionen, Tänze, Heilmittel. Es ist so, als würde meine Großmutter noch bei uns leben. Jetzt kann ich ein Buch aufschlagen und sie um ihre Meinung und ihren Rat fragen. Die Bücher sind meine Lehrer, meine Schule, meine Universität."
Nicht alle Leute von der Bücherei sind so überschwänglich und redselig wie Valdéz (er ist einer von denen, die man gerne besucht, aber es könnte zu einem Alptraum werden, wenn man mit ihnen leben müsste). Aber alle glauben leidenschaftlich an das, was sie tun. Die 600 Männer und eine Handvoll Frauen (zur Zeit sind es mehr) sind die "barfüßigen Ärzte" der Bewegung. Dies ist ein ganz bewusster Vergleich. Mit seinem klaren Verstand betrachtete Medcalf das Projekt als eine Mischung aus dem seriösen britischen Systems der öffentlichen Büchereien und Maos Brigadieren für die Gesundheit. Ihre Arbeit ist freiwillig und wird nicht bezahlt (die Gehälter würden vom Geld für die Bücher abgehen), aber die Tatsache, dass die Bibliothekare aus der Gemeinde ausgewählt werden, zeigt die Achtung, die dieser Stellung entgegengebracht wird. Dies ist sowohl der Grund für den Erfolg der Büchereien als auch eine ihrer Errungenschaften.
Es gibt keinen Zweifel, dass bei der derzeitigen politischen Debatte über die Wirksamkeit von Hilfsleistungen am Ende des 20. Jahrhunderts und bei unserem Zynismus die Bibliotheken für die Landbevölkerung von Cajamarca nahezu romantisch verklärt werden, wenn man über Auswirkungen auf die Gemeindepolitik spricht (obwohl es im alltäglichen Leben wahrhaftig keine Romantik gibt). Und trotz allem merkt man, dass die Sache bei aller Leidenschaft und aller Hingabe sehr schwierig ist. Es ist überhaupt keine Frage, dass die Büchereien enorm viel geleistet haben, um Bildung und Information zu verbreiten, es ist jedoch ein sehr langer Prozess, insbesondere wenn man an die Alphabetisierung denkt, und insbesondere was Frauen anbelangt.
John Medcalf, der jetzt - nachdem er fast 30 Jahre in der Dritten Welt gearbeitet hat - wieder im Norden von London an einem Missionskolleg lehrt, hat sich nie irgendwelche Illusionen darüber gemacht, wie schwer es sein würde. "Wir haben ein Bücherprogramm aufgebaut und nicht eins, um den Leuten lesen und schreiben beizubringen. Um ein wirklich effektives Alphabetisierungsprogramm aufzubauen, braucht man sehr viel Geld und die volle Unterstützung der Regierung. Das hatten wir in Cajamarca nie". (Wir sollten wissen, dass er im Anschluss an Peru nach Nicaragua ging. Er baute dort unter der Sandinista-Regierung ein Projekt auf, um der Bevölkerung lesen und schreiben beizubringen. Seine Briefe, die er während dieser Zeit geschrieben hat, waren derartig eindrucksvoll, dass Graham Greene das Vorwort dazu geschrieben hat als sie veröffentlicht wurden.)
Für Medcalf war es wichtig, den Appetit aufs Lesen zu wecken, und zwar sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern. Ihm war jedoch immer klar, dass es länger dauern würde, die Frauen zu erreichen. "Wir hofften, dass die Frauen automatisch auch mit in das System einbezogen werden würden, wenn wir mehr Familien dazu bringen würden, sich die Bücher auszuleihen und zu lesen." An vielen Orten war dies auch der Fall. Bei den Kindern ist die Rate derjenigen, die lesen können, bei beiden Geschlechtern gleich, aber als ich diese peinlich genauen Listen der Bibliothekare durchging fiel mir auf, dass die meisten Leser immer noch Männer sind.
Es ist schwierig für die Hilfsprogramme. Wie viele wohltätige Organisationen hat es sich Christian Aid zur Aufgabe gemacht, die Gleichberechtigung bei ihrer Arbeit zu fördern, die Mitarbeiter müssen jedoch auch die dortige Kultur berücksichtigen. Der lateinamerikanische Machismo ist bei den Campesinos in den Anden weniger stark ausgeprägt, aber wenn man berücksichtigt, dass die Frauen auf dem Feld arbeiten, das Haus in Ordnung halten und daneben noch die Kinder großziehen, kann man sich vorstellen, dass es ganz sicher nicht viele Frauen gibt, die daneben noch die Zeit und die Lust haben, Bibliothekar zu werden, selbst wenn ihre Gemeinde sie wählen würden. Es ist jedoch vorgekommen, und dann hat es große Wirkungen gehabt.
Zoila Marín Cáceres ist eine der Koordinatorinnen für das Projekt und überwacht acht oder neun Büchereien in ihrer Region. Sie fing vor fünf Jahren als lokaler Bibliothekar an. "Ich glaube, ein Bibliothekar ist in unserer Gemeinde fast so etwas wie ein Kulturagent. Bevor die Büchereien hier in unsere Gegend kamen, sind die Mädchen fast ohne Ausbildung von der Schule abgegangen. Und die paar Bücher, die es gab, hätten die Lehrer uns sowieso nicht geliehen. Aber als die Büchereien kamen - und hier wurde ich zum Bibliothekar gewählt - änderte sich die Situation. Ich glaube, dass ich so etwas wie ein Beispiel gab. Mehr Frauen fangen jetzt an zu lesen, und jetzt hört man in der Gemeinde auch stärker auf sie."
Die schlimmste Bedrohung in der ganzen Zeit kam jedoch nicht vom Machismo oder der unzulänglichen Erziehung oder vom Geldmangel, sondern von politischer Seite. Die meiste Zeit seit ihrer Existenz waren die Bibliotheken eine leise, lokale Stimme in einem rauen politischen Klima mit einem verheerenden Anstieg des Extremismus sowohl von rechts als auch von links. In den achtziger Jahren war es am allerschlimmsten, als die maoistischen Guerrillas vom Sendero Luminoso - dem Leuchtenden Pfad - ihre Terroraktionen starteten und versuchten, die arme Stadtbevölkerung und das Landvolk für ihre revolutionäre Sache zu gewinnen.
Absolut intolerant gegenüber jeder bestehenden Form von Demokratie und gegenüber Eigeninitiativen der Landbevölkerung, war der Leuchtende Pfad verantwortlich für die Ermordung von einigen der besten Gewerkschaftler, von gewählten Bürgermeistern, linksgerichteten Akademikern und von Aktivisten. Die Reaktion der Regierung war mit Notstandsgesetzgebung und Militär- und Geheimdienstaktionen genauso brutal. In einem Zeitraum von zwölf Jahren wurden ungefähr 30.000 Personen in Gewaltaktionen getötet, viele ländliche Gemeinden gerieten in das politische Kreuzfeuer und wurden gleichzeitig von den Rebellen und vom Militär bestraft und terrorisiert.
Wenn die Büchereien im Zentrum der Gewalt agiert hätten, hätten sie mit Sicherheit nicht überlebt. Cajamarca aber lag glücklicherweise weit nördlich von den wichtigsten strategischen Plätzen des Leuchtenden Pfades. Diese Tatsache und eine starke ländliche Bürgerwehr bewahrte diese Region vor dem schlimmsten Gemetzel und den Einschüchterungsaktionen. Trotzdem litten Mires und die anderen Bibliothekare lange Zeit unter dem Druck der Gewalt von beiden Seiten (die Rondas Campesinos, wie sie sich nannten, hatten sich anfangs gebildet, um gegen Viehdiebe zu kämpfen, und weiteten dann ihre Aktionen aus; viele Bibliothekare traten dieser Gruppe bei).
"Im Süden gab es Guerrillagruppen, die unsere Bücher verbrannten, weil wir über die Vergangenheit geschrieben haben, und sie wollten, dass wir eine andere politische Einstellung bekommen. Dann beschuldigten uns die Behörden, dass wir falsche Erwartungen bei den Bauern wecken und sie ermutigen würden, für ihre Rechte zu kämpfen. Es gab sogar protestantische christliche Sekten, die unsere Bücher verbrannt haben, weil sie der Meinung waren, dass sie gegen das Wort Gottes verstoßen würden. Es gab Zeiten, da wurde jeder, der eine Arbeit wie die unsrige machte, als subversiv betrachtet...“
In den letzten fünf Jahren hat sich die Situation in Peru etwas gebessert. Seit Abimael Guzman, der Führer des Leuchtenden Pfades, 1992 gefangengenommen wurde (und in diesem Jahr auch sein Stellvertreter), wurde der Druck - zumindest von einer Seite - leichter, und die wirtschaftliche Schocktaktik von Fujimori (der jetzt für eine zweite Amtszeit an der Macht ist) hat die Wirtschaft stabilisiert - allerdings größtenteils auf Kosten der Armen. Offizielle Statistiken sagen, dass 49% der peruanischen Bevölkerung an der oder unterhalb der Armutsgrenze leben. Es gibt kaum einen Grund für die Bauern in Cajamarca, sich an die Regierung um Verbesserung ihrer Lebensumstände zu wenden. Darum müssen sie sich ganz alleine kümmern. Wahrscheinlich wird es hier immer Hilfsprogramme geben. Aber das Problem bei der üblichen Art von Hilfe ist, dass sie genauso schnell aufhören kann wie sie anfing, und dass sie manchmal kaum irgendwelche langfristigen Spuren hinterlässt.
Und obwohl kaum jemand, und am allerwenigsten die Bauern, sich auch nur die geringsten Illusionen macht, dass Bücher die Armut stoppen könnten oder alle Krankheiten heilen würden, ist es doch ein Phänomen, dass die Bibliotheken für die Landbevölkerung nicht nur überlebt haben, sondern dass sie sich ständig weiter ausbreiten. Für Mires ist dies der lebende Beweis dafür, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Hilfe zu leisten, und manche Möglichkeiten sind eben besser als andere.
"Manche Hilfe ist fast humanitärer Tourismus. Sie beruhigt das Gewissen der Leute, wird jedoch nie wirklich von der Bevölkerung angenommen. Der große Erfolg dieses Projektes beruht darin, dass es aus der Gemeinde selbst hervorgeht. Wir haben es von Anfang an selbst geleitet. Es zeigt, wer wir sind, und die Bücher haben uns gegeben, was wir brauchen - eine Möglichkeit, wir selbst zu sein, unsere Kultur zu bewahren - und es wird nicht versucht, uns eine andere Lebensform aufzuzwingen“.
Erst als das Flugzeug auf dem Rückweg nach Lima über dem Tal von Cajamarca kreist wird mir bewusst, wie jämmerlich klein die Entfernung war, die ich in dieser einen Woche zurückgelegt habe. Wenn man wie ich aus einem Kulturkreis kommt, in dem das Buch einerseits als Symbol der Zivilisation verehrt wird, andererseits jedoch in unserem digitalen Zeitalter dem Untergang geweiht zu sein scheint, sind die Bibliotheken für die Landbevölkerung nicht nur ein phantastischer Anachronismus sondern auch eine stille Erinnerung daran, dass die Welt viel größer ist als Bill Gates und Rupert Murdoch uns glauben machen wollen.
Sie bringen einen auch dazu zu glauben, dass manchmal auch wenig Geld im wahrsten Sinne des Wortes einen weiten Weg gehen kann. Und in den 27 Jahren hat nie jemand versäumt ein Buch zurückzugeben, mit Ausnahme der Bücher, die vom Leuchtenden Pfad verbrannt wurden, oder die vergraben wurden, um zu verhindern, dass sie ungewünschte Beachtung finden würden. Die Islington-Bücherei könnte vor Neid erblassen.
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Juan Medcalf, sein Abschied aus Cajamarca - von Willi Knecht
Es war der 16. November 1999, der Jahrestag der Gefangennahme von Atahualpa und der ersten Begegnung der Menschen von Cajamarca mit der christlichen Botschaft. Etwa 100 Männer und Frauen aus den Landzonen der Diözese Cajamarca saßen im Kreis auf dem Lehmboden. Die Delegierten der Landbibliotheken (Bibliotecas rurales) waren nach Cajamarca gekommen, um zusammen mit Padre Juan Medcalf die Eucharistie zu feiern. Es herrschte eine tiefe Dunkelheit. In der Mitte des Kreises war ein großes Tuch ausgebreitet. Außerhalb des Tuches lag wie weggeworfen im Dunkel eine alte Bibel im Staub, sie war kaum erkennbar.
Die Feier begann mit einer Gabe an die Mutter Erde, an die Kinder der Erde und deren Ahnen. Zwei Katecheten baten Mutter Erde um Verzeihung für die an ihr begangenen Sünden und für das Versagen der Kinder dieser Erde untereinander. Die Gaben, Früchte der Erde und Cocablätter, wurden auf die vier Ecken des Tuches in der Mitte des Kreises verteilt. Nachdem auf diese Weise der sakrale Bereich (wieder) hergestellt war, wurde von einem Katecheten die Bibel vom Staub aufgehoben, wo sie über Jahrhunderte unbeachtet lag. Dann legte er die Bibel in die Mitte des Tuches und zündete ein Licht an. Die Bibel wurde damit als Quelle des Lebens in die Mitte des sakralen Bereiches aufgenommen (1).
Ein anderer Katechet trat nun barfüßig in die Mitte des sakralen Raumes, schlug die Bibel auf und las die Worte Jesu: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen die Gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Freiheit verkünde und die Blinden sehend mache; damit ich die Zertretenen aufrichte und eine Zeit der Gnade ausrufe“ (Lk 4, 18,19). Nach jedem der vier Sätze wurde ein neues Licht an je einer Ecke des Tuches - des sakralen Raumes - angezündet. Nach der Proklamation der Botschaft Jesu wurde das Licht an alle verteilt und sie begannen zu sprechen:
„Dank an Padre Juan, der Sämann war, der aussäte und dessen Saat auf fruchtbaren Boden viel, wo sie Wurzeln fasste, heranwuchs und dann reife Früchte trug. Padre Juan ging über das Land, war unermüdlich zu Fuß unterwegs; er fand Begleiter und daraus entstand eine starke Bewegung“. „Die Ahnen sind die Wurzeln und der Stamm, ohne die wir wie welke Blätter wären. Dank der Bibliotecas rurales beginnen nun aus dem trockenen Holz neue Keime zu sprossen, die uns helfen, die Weisheit unserer Ahnen nicht zu vergessen“.
„Wir haben gelernt zu respektieren, was unsere Ahnen respektiert haben: den Respekt vor unserer Mutter Erde und vor allen Söhnen und Töchtern dieser Erde!“ „Wir erarbeiten nichts Neues, wir bestätigen nur was war: den Respekt vor der Natur und vor den Mitmenschen. Und allein diese Haltung ist für die Mächtigen ein Stein des Anstoßes“. „Die Bibel hilft, uns selbst zu entdecken, wer wir sind und wohinwir gehen“. „Lesen zu lernen, seine Geschichte und seine Herkunft zu entdecken, bedeutet, endgültig den Kolonialismus zu überwinden, d.h. nicht mehr sein zu wollen wie der weiße Eroberer, sondern stolz zu sein auf die eigene Identität“. „Wer am meisten lesen will, sind die Armen und nicht, wie man oft meint, die Arrivierten. Denn die Armen haben das größte Bedürfnis, ihre Situation zu überwinden bzw. zu verändern“. „Das Buch war nach Meinung von uns selbst nicht für das Land, sondern nur für die Stadt. Wir glaubten sogar, dass wir nicht das Recht hätten, mit unseren unreinen und schmutzigen Händen das Buch mit dem weißen und reinen Papier anfassen zu dürfen. Es herrschte geradezu eine Angst vor dem Lesen, das sei nichts für uns, als ob es etwas absolut Verbotenes wäre“. „Gott hat uns ausgesandt, mit den Bedürftigsten zu arbeiten, das ist unsere Mission“. „Das Beispiel von Jesu in Nazareth verpflichtet uns, seine Botschaft zu verkünden - auch wenn die selbst ernannten Frommen vor Wut außer sich geraten und uns in den Abgrund stürzen wollen“ (2).
Über Jahrhunderte hinweg, seit dem 16. November 1532, als in Cajamarca der spanische Priester Valverde in der Begleitung von Francisco Pizarro dem letzten Inca Atahualpa die Bibel mit den Worten überreichte, dass sich die Indios von nun an den neuen Herren und ihrem Gott zu unterwerfenhätten und die Europäer dies dann auch mit Gewalt durchsetzten, war die Stimme der Indios zum Schweigen gebracht worden. Ihre Kultur und Religion, ihre Traditionen und Lebensformen wurden zerstört. Die Mehrheit der Bevölkerung wurde auch physisch ausgerottet. Nach verschiedenen Volkszählungen aus dem 17. Jh. überlebten nur zwischen 1/6 bis 1/10 der ursprünglichen Bevölkerung in den Anden die ersten 150 Jahre der Eroberung (3).
Den Überlebenden wurde das Recht, ein Volk und eigenständige Menschen zu sein, verwehrt. Auch im Zeitalter der Demokratie wird der Mehrheit der Bevölkerung systematisch und systembedingt ein ausreichender Zugang zu Bildung, Krankenversorgung und gesunder Ernährung verwehrt. Und in den letzten Jahren geht die Tendenz dahin, dass die Campesinos noch nicht einmal als potenzielle Konsumenten gebraucht werden. In der neuen Welt des entfesselten Marktes sind sie entweder schlicht überflüssig oder werden als bloßer Störfaktor wahrgenommen (einige postmoderne Intellektuelle sprechen ihnen aber immer noch folkloristisches Potenzial zu, das es zu schützen und zu pflegen gilt).
Im Selbstverständnis der überlebenden Nachfahren der ursprünglichen Bevölkerung ist es von fundamentaler Bedeutung, eine Stimme zu haben und ihre Stimme erheben zu können. Dies ist für sie ein Zeichen ihrer Existenz als Volk und als Menschen. Ihre Stimme erheben heißt in ihrem eigenen Sprachgebrauch, sich nicht mit dem Unrecht und der Gewalt abfinden, sondern ihre Rechte als Menschen einfordern. Es bedeutet für sie ein Stück Menschwerdung. Den höchsten Ausdruck, den die Campesinos dafür gebrauchen ist: „Somos gente“ (Wir sind Leute, Menschen, wir sind wieder wer). Sie verbinden damit implizit Begriffe wie Menschenwürde, Gleichheit und Grundrechte für alle Menschen. Wenn sie ihre Stimme erheben, bedeutet es für sie auch, ihre Wurzeln als andine Menschen neu zu entdecken und ihre Zukunft als solche selbst gestalten zu wollen. Die Campesinos von Bambamarca haben ihre Stimme erhoben. Spätestens seit 1962, als Bischof Dammert und seine Mitarbeiter sich mit den Campesinos zusammen auf den Weg gemacht haben, haben die Campesinos ihre Sprache wiedergefunden und sich selbst als Menschen und Volk neu entdeckt.
(1) Anlässlich des Besuches von Johannes Paul II. 1986 in Peru schrieben ihm im Vorfeld peruanische Indios: „Wir Indios der Anden und Amerikas haben beschlossen, den Besuch von Johannes Paul II zu nutzen, um ihm seine Bibel zurückzugeben, denn sie hat uns in fünf Jahrhunderten weder Liebe noch Frieden noch Gerechtigkeit gebracht. Nehmen Sie bitte ihre Bibel wieder und geben Sie die Bibel unseren Unterdrückern zurück, denn diese bedürfen ihrer Moralvorschriften mehr als wir“. Dies hätten die Campesinos von Bambamarca auch so sagen können, doch sie geben die Bibel nicht zurück, sondern nehmen die Bibel „in ihre Mitte“ um sie nun mit ihren eigenen Augen zu entdecken und zu deuten.
(2) Juan Medcalf war der Gründer der Bibliotecas rurales (im Sammelband zu dieser Studie werden in einem eigenen Artikel die Landbibliotheken beschrieben). Er arbeitete mehr als zehn Jahre in der Diözese Cajamarca, von 1973-1975 war er in Bambamarca. Dort hatten die Landbibliotheken ihren Ursprung und von dort aus verbreiteten sie sich über die gesamte Diözese. Diese Bewegung ist neben der Ronda diejenige Errungenschaft einer befreienden Pastoral, die in voller Stärke ihre ursprüngliche Linie fortsetzen kann. Juan Medcalf besuchte 1999 Cajamarca. Anlässlich des Besuches (und als Dank und Ehrung) wurde eine Versammlung der Delegierten einberufen. Ich wurde zu diesem Treffen und dem Gottesdienst eigens eingeladen, es waren bekannte Katecheten aus Bambamarca gekommen. Juan Medcalf wollte Bischof Simón einen Höflichkeitsbesuch abstatten, doch wurde er vom Bischof nicht empfangen.
Anmerkungen
(3) Die umfangreichsten Studien zur ursprünglichen Bevölkerungszahl in Peru werden von G. Gutiérrez in „Gott oder das Gold“ zitiert (S. 10, a.a.O.). Danach lebten in Peru vor der Eroberung etwa neun Millionen Menschen. Bereits 1570 war die Bevölkerung auf eine Million geschrumpft. Noch gravierender war das Ausmaß dieser Katastrophe in Mexiko, wo die Bevölkerung von 25 Millionen auf eine Million (1605) dezimiert wurde (T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt 1985, S.161. G. Gutiérrez nennt die hauptsächlichen Gründe: „Man kennt die 3 Gründe für den Rückgang der Bevölkerung: Krankheiten, gegen welche die Indianer nicht immunisiert waren (wie z.B. Pocken, Masern und Typhus), Kriege und Zwangsarbeit. Doch handelt es sich dabei nicht um voneinander unabhängige, sondern um sich wechselseitig verstärkende Faktoren“ (a.a.O., S. 11). Ich möchte noch einen wichtigen Grund hinzufügen: die Zerstörung der Landwirtschaft, der Lebensgrundlage der Völker.